Fundstück (3)

Inzwischen ist Kriege führen ja wieder ein normales Mittel deutscher Außenpolitik geworden. Die Gründe sind dieselben wie jederzeit, die Etiketten haben sich ein wenig gewandelt.
Und das scheint auch zunehmend gesellschaftlich akzeptiert zu werden, wie die umfassenden Diskussionen um Ukraine, Syrien und andere Krisengebiete zeigen.
Dazu folgendes heutige Fundstück:

Unten, auf dem zugeschütteten Graben, stehen ein paar Kreuze, liegen Kränze und ragen die Bajonette. Drei Mann müssen außerhalb des Grabens postiert gewesen sein; die Läufe ihrer Gewehre ragen ein paar Zentimeter hoch aus dem Boden, man stolpert über sie. Eine Mutter kann ihr Kind hierherführen und sagen: »Siehst du? Da unten steht Papa.«

Den ganzen Text findet die geneigte Leserschaft hier: Kurt Tucholsky, Vor Verdun.

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Fundstück (2)

Der Hausheilige dieses Blogs, Dr. Kurt Tucholsky, schrieb 1924 im Bericht über einen Vortrag Rudolf Steiners:

Was für eine Zeit –! Ein Kerl etwa wie ein armer Schauspieler, der sommerabends zu Warnemünde, wenns regnet, im Kurhaus eine »Réunion« gibt, alles aus zweiter Hand, ärmlich, schlecht stilisiert … und das hat Anhänger –! Wie groß muß die Sehnsucht in den Massen sein, die verlorengegangene Religion zu ersetzen! Welche Zeit –!
Sein »Steinereanum« in der Schweiz haben sie ihm in Brand gesteckt, eine Tat, die durchaus widerwärtig ist. Es soll ein edler, kuppelgekrönter Bau gewesen sein, der wirkte wie aus Stein. Er war aber aus Holz und Gips, wie die ganze Lehre.

»Es soll ein edler, kuppelgekrönter Bau gewesen sein, der wirkte wie aus Stein. Er war aber aus Holz und Gips, wie die ganze Lehre.« Das finde ich doch sehr hübsch.

Den ganzen Text findet die geneigte Leserschaft hier: Rudolf Steiner in Paris.

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Fundstück (1)

Heute gefunden:

Wir stehen vor einem Deutschland voll unerhörter Korruption, voll Schiebern und Schleichern, voll dreimalhunderttausend Teufeln, von denen jeder das Recht in Anspruch nimmt, für seine schwarze Person von der Revolution unangetastet zu bleiben. Wir meinen aber ihn und grade ihn und nur ihn.
Und wir haben die Möglichkeit, zu wählen: bekämpfen wir ihn mit der Liebe, bekämpfen wir ihn mit Haß? Wir wollen kämpfen mit Haß aus Liebe. Mit Haß gegen jeden Burschen, der sich erkühnt hat, das Blut seiner Landsleute zu trinken, wie man Wein trinkt, um damit auf seine Gesundheit und die seiner Freunde anzustoßen. Mit Haß gegen einen Klüngel, dem übermäßig erraffter Besitz und das Elend der Heimarbeiter gottgewollt erscheint, der von erkauften Professoren beweisen läßt, dass dem so sein muß, und der auf gebeugten Rücken vegetierender Menschen freundliche Idyllen feiert. Wir kämpfen allerdings mit Haß. Aber wir kämpfen aus Liebe für die Unterdrückten, die nicht immer notwendigerweise Proletarier sein müssen, und wir lieben in den Menschen den Gedanken an die Menschheit.

Aus dem möglicherweise stärksten Text des Hausheiligen, der unbedingt und in Gänze zur Lektüre empfohlen sei: »Wir Negativen« (1919).

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Der Ehrgeiz eines Hirnforschers und die Verzweiflung eines Vaters

Die Äußerug, man habe ein autistisches Kind erzielt oft eine merkwürdige Reaktion. Irgendwas zwischen Mitleid und Abscheu.
Und natürlich, das unterscheidet dieses Thema nicht von allen andere Themen, über die man sich unterhalten kann, hat praktisch jeder schon einmal etwas davon gehört und eine festgefügte Meinung, die sich zwar bestenfalls auf ein paar Hollywood-Weisheiten und Wetten-dass?-Erfahrungen stützt, aber nichtsdestotrotz bereits die Summe aller menschlichen Weisheit repräsentiert. Man kennt das.
Weshalb hier dringend dazu geraten sei: Welches Thema auch immer der geneigten Leserschaft wichtig ist – sprecht es bloß nicht auf einer gesellschaftlichen Veranstaltung irgendeiner Art an. Redet lieber übers Wetter (also natürlich nur, falls dies nciht zufällig eure Herzensangelegenheit ist…)

Auf Zeit-Online gibt es einen lesenswerten Artikel (ja, das kommt vor), der zwar leider im ganz typischen unverbindlichen Pseudoreportagenduktus dieser Publikation geschrieben ist, aber nichtsdestotrotz zum einen die Diagnosenirrfahrt als auch die Verzweiflung der Eltern einigermaßen gut einfängt (und das bemerkenswerte Können anderer Generationen, die einfach tun und dabei richtig liegen, das mit der Lebenserfahrung scheint ein Konzept zu sein…)

Vor allem demonstriert er sehr schön, wie wenig wir über Autisten, Gehirne, das Leben, das Universum und ganzen Rest wissen.

Einmal hier entlang bitte.

P.S. Zur Menschenkenntnis von Psychologen hat sich der Hausheilige dieses Blogs in einem hübschen Kabinettstückchen abschließend geäußert: In der Hotelhalle (1930).

Lahmann-Koller

Damit der geneigten Leserschaft nicht allzu langweilig wird, sei hier, quasi als Pausenunterhaltung, auf einen Text verwiesen, der in Sachen medizinische Rehabiliationsmaßnahmen weiterhin als der maßgebliche Text zum Thema gelten muss:

Kreuzworträtsel mit Gewalt.

Dieser Text beantwortet sehr überzeugend das Hauptproblem einer jeder Kur:

Ich absolvierte täglich ein längeres Zirkusprogramm, von morgens um sieben bis mittags um halb eins. Der Turnlehrer; die Wiegeschwester; der Bademeister; der Masseur; der Assistenzarzt; die Zimmerschwester … sie alle waren emsig um mich bemüht. Ich kam mir recht krank vor, und wenn ich mir krank vorkam, dann schnauzten sie mich an, was mir wohl einfiele – es ginge mir schon viel, viel besser. Was war da zu machen?

Was war vor allem an den langen Nachmittagen zu machen, die etwa acht- bis neunmal so lang waren wie die reichlich gefüllten Vormittage?

Wer nicht lesen möchte, sondern lieber hören:

Und ich versuche dann mal in den nächsten Wochen einen Lahmann-Koller zu vermeiden… 😉

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Gachmuret feat. Der Hausheilige live

UPDATE: Es gibt einen Live-Mitschnitt meines Versuches, aus Frank Fischers Südharzreise vorzutragen:
http://www.blog.de/srv/media/dewplayer.swf?son=http://data9.blog.de/media/695/7450695_98f24dff86_a.mp3
Ausschnitte aus: Südharzreise
Dieser Mitschnitt ist auch auf youtube zu bewundern.
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Nur eine kurze Durchsage:
Am 21. November bin ich bei der Lesebühne von Frédéric Valin und Jan-Uwe Fitz eingeladen und darf dort lesen. Weitere Infos zur Veranstaltung finden sich auf der Seite von Read on, my dear. Ick bin stolz wie bolle.

Vortragen werde ich natürlich Texte des Hausheiligen dieses Blogs, Dr. Kurt Tucholsky. Und ich werde das eine oder andere Kapitel aus Frank Fischers Südharzreise zum besten geben.

Wer mag, darf gern vorbeischauen.

Mit dem Holzhammer

Nach dem Angriffskrieg der USA gegen den Irak sah sich Neil Young gezwungen, mit Crosby, Stills und Nash die alten Lieder wieder auszupacken und erneut durchs Land zu touren, um den Menschen die Idee nahezubringen, dass Kriege beginnen nur so mittel ist. Die Dokumentation dazu heißt nicht zufällig »Déjà Vu«.

Ich habe Hannes Wader ungefähr zu der Zeit in einem Auftritt gesehn, bei dem er auf mich den Eindruck machte, als hätte er gedacht, nach fast dreißig Jahren »Es ist an der Zeit« nicht mehr singen zu müssen.

Die Ereignisse in Schneeberg (und nicht nur die, sie mögen hier exemplarisch stehen) lassen mich erkennen, dass wir offenbar auch in der Frage des Zusammenlebens in diesem Land wieder ganz von vorne anfangen müssen. Dass wir wieder an einem Punkt stehen, an dem wir ernsthaft erklären müssen, »dass ›fremd‹ kein Wort für ›feindlich‹ ist«.

Nun gut, wenn es denn sein muss, dann müssen wir das mit den feineren Argumentationen eben lassen und den Holzhammer wieder herausholen:

Ergänzend sei noch auf einem maßgeblichen und großartigen Text des Hausheiligen verwiesen, der fordert, den Begriff »Heimat« nicht preiszugeben, dort ist zum Beispiel zu lesen:

Und nun will ich euch mal etwas sagen:
Es ist ja nicht wahr, dass jene, die sich ›national‹ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da.
Sie reißen den Mund auf und rufen: »Im Namen Deutschlands … !« Sie rufen: »Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.« Es ist nicht wahr.[…]

Und so widerwärtig mir jene sind, die – umgekehrte Nationalisten – nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle – so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land. Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land. Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitliebende aller Grade; man hat uns mitzudenken, wenn ›Deutschland‹ gedacht wird … wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus den nationalen Verbänden.
Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir.

*

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aus: Tucholsky, Werke und Briefe: 1929. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 7197-7198. Digitale Bibliohtek Berlin, 1999 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 314)

Pan y circo

Wenn das Brot knapp wird, braucht es halt mehr Spiele.

Der nächste ist ein junger, aufgeregter Herr, der wie ein Bajazzo aus seinem Stall herausgepurzelt kommt. Er macht den Leuten viel zu schaffen, und das soll er ja wohl auch. Er zerstößt das Pferd, das ihm sein Vorgänger leichtverwundet zurückgelassen hat, zu einem bösen Klumpen, der Picador fällt herunter, es geschieht ihm aber nichts. Der Stier zerquält ein Pferd, so daß es sich schon nach dem ersten Stoß nicht mehr erheben kann – und da liegt es. Ich kann genau das Auge sehen, das große, sanfte Auge. Das Auge versteht nicht. Es sagt: »Warum? warum?«

*

In Spanien ist sowas jetzt national geschütztes Kulturgut. Und man möchte daraus ein UNESCO-geschütztes Kulturgut machen.

Die Beschreibung stammt aus: Kurt Tucholsky, Stierkampf in Bayonne. in: Werke und Briefe: 1927. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 4742. Digitale Bibliothek, Bd. 15, Berlin 1999. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 5, S. 15)
Der ganze Text ist bei textlog.de nachzulesen.

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Ich bin ein langweiliger Spießer

Der 31. Oktober ist der Gegenstand vielfältiger Auseinandersetzungen, deren Intensität weit über das hinausgeht, was bei einem Kinderspaß erwartbar wäre. Alle Jahre wieder entzünden sich ideologisch aufgeheizte Debatten um Kürbisgesichter, Süßigkeiten, Kinderstreiche und Maskenbälle.
Dass die evangelische Kirche von der Umdeutung des Reformationstages wenig begeistert ist, liegt auf der Hand. Immerhin huldigt man an diesem Tag dem eigenen Ersatzheiligen nebst Gründungsmythos der eigenen Institution. Da wird dann selbst diese, sonst der Integration zunächst kirchenfremder Bräuche nicht abgeneigte Religionsgemeinschaft, ungewohnt humorlos (das offene Verhältnis der evangelischen Kirche zur Lebenswirklichkeit ist Stärke und Schwäche zugleich, aber das sei ein andermal erörtert).
Übrigens ist natürlich auch das Festhalten am Mythos des Thesenanschlages, den die historische Forschung seit Jahrzehnten für eben genau dies hält: einen Mythos, auch eher den zuständigen Tourismusbehörden und den Qualitätsjournalisten vorzuwerfen als einer Glaubensgemeinschaft, die ja immerhin das Privileg besitzt, Wahrheit nach anderen Kriterien zu definieren.

Doch es gibt auch von anderer Seite Angriffe gegen die weiter voranschreitende Übernahme der Halloween-Bräuche. Die kommen zum Beispiel aus einem eher traditionalistischen Lager, wo man zwar auch keine Ahnung hat, was man am 31.10. so feiern könnte, aber auf jeden Fall findet, dieses amerikanische Zeug, das ginge ja mal gar nicht – und dabei vollkommen ignoriert, dass die kulturelle Verbindung zur US-amerikanischen Populärkultur seit Jahrzehnten derart fest und tief verwurzelt ist, dass es keineswegs verwundert, wenn junge Menschen im Fernsehen behaupten, die Süßigkeitenjagd gehöre nunmal dazu, schließlich sei das Tradition.

Nur, ganz ehrlich, müssen wir uns wirklich wegen merkwürdiger Bräuche derart aufregen? Betrachtet man einmal das Kalenderjahr und die höchst merkwürigen Dinge, die da im Jahreskreis als Kultur gelten (ich meine, mal ehrlich: Hühnereier im Gras verstecken zu Ostern? Streiche am 1. April? Kleidungsstücke zerschneiden zur »Weiberfastnacht«? Überhaupt, Karneval: Kostümiert durch Straßen und Bars ziehen, bis sich endlich ein Kopulationspartner gefunden hat – und dafür auch noch von der Arbeit freigestellt werden? usw. usf.), gibt es genügend Anlass, Halloween äußerst entspannt zu betrachten. Ja mei, dann laufens halt rum, sammeln Süßigkeiten und spielen die Zombieapokalypse schon mal durch. Sollen sie doch. Wer lieber zum Gottesdienst möchte, kann das ja gerne tun. Und wem das zu amerikanisch ist, der ziehe sich halt seine Lederhose an.

Ich freilich, ich stelle heute meine Klingel aus. Meinetwegen können die Leute treiben, was sie wollen, sie können von mir aus heute auch Baal anbeten, wenn ihnen das irgendwie hilft oder Chtulhu beschwören – ich aber, ich hätte heute gerne einfach meine Ruhe.

Das Schlusswort gehört dem Hausheiligen dieses Blogs:

Diese Art Deutscher hat nie unrecht, er geht nie in sich, kommt nie auf den Gedanken, daß auch er vielleicht jemandem Unrecht getan haben könne – er siegt, und wenn er nicht siegt, dann borgt er sich einen Sieg, und den findet er immer in dem, was er ›Staatsräson‹ oder ›Gesinnung‹ oder ›Innenleben‹ oder ›vaterländische Religiosität‹ oder sonst dergleichen nennt. Diese Linie läßt sich von Luther an verfolgen, der das Unglück Deutschlands gewesen ist.

*

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*aus: Tucholsky, Kurt: Grimms Märchen. in: Werke und Briefe: 1928. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 6164-6165, Digitale Bibliothek Bd. 15, vgl. Tucholsky-GW Bd. 6, S. 218.

Die bösen Nichtwähler

Morgen ist es also mal wieder soweit:
Es sind vier Jahre rum, auf einmal ist die Meinung der Bürger wieder furchtbar wichtig und so werden diese denn auch von durch Werbeagenturen gnadenlos optimierten und nahe an die Nullaussage geführten Kampagnen umworben. Da hat sich nicht viel geändert, es sei daher noch einmal auf die Plakate-Rundschau aus dem Landtagswahlkampf 2009 verwiesen verwiesen. Es ist erstaunlich, wie wenig Unterschied das macht.
Eines allerdings scheint mir 2013 nun doch neu zu sein, nämlich das zunehmende Nichtwähler-Bashing. Ich bilde mir ein, dass in früheren Wahlgängen doch die Frage, wie man sie zum Wählen motivieren klönnte, twas mehr im Vordergrund stand. Jetzt aber tendiert das doch eher in Richtung Beschimpfung. Als ob es keine guten Gründe gäbe, nicht wählen zu gehen. Ich jedenfalls kann es sehr gut nachvollziehen, wenn sich jemand aus guten Gründen weigert, für etwas zu sein, von dem er oder sie nicht überzeugt ist. Denn das Kreuz auf dem Wahlzettel ist j aimmer eine Entscheidung für jemanden. Und wenn keine der angebotenen Optionen akzeptabel ist, halte ich es für absolut zulässig, die Zustimmung zu verweigern. Schließlich werden sich hinterher alle hinstellen und behaupten, soundsoviele wären von ihrer Politik überzeugt und hätten ihnen einen Auftrag erteilt. Da spielen Differenzierungen wie »Ich wähle die unter großen Bauchschmerzen, weil alle anderen noch schlimmer sind.« keine Rolle. natürlich kann es sein, dass Menschen nicht wählen, weil sie zu bequem oder zu faul sind. Das scheinen mir aber weit weniger zu sein als das gemeinhin behauptet wird. Die meisten Menschen, die nicht wählen gehen, wählen deshalb nicht, weil das Politiktheater, das ihnen geboten wird, sie nicht mehr überzeugt. Weil sie den Eindruck haben, dass dort etwas grundlegend falsch läuft.
Um nur mal einen Aspekt herauszugreifen: ich empfehle der geneigten Leserschaft einmal, sich die Lebensläufe der Regierungsmitglieder anzuschauen und zu überprüfen, wie viele von denen jemals einer realen Arbeit nachgegangen sind. Der Anteil der Politiker, die schon einmal etwas anderes gemacht haben als Politik, nimmt stetig ab. Das wird zunehmend ein Verein, der Leute heranzüchtet, die nichts anderes kennen als diesen nach seinen eigenen Regeln funktionierenden Betrieb. Und Inzucht war schon immer problematisch.

Auch wenn ich zu einem anderen Schluss komme, aber wenn Menschen, die noch vor wenigen Jahren auf die Straße gegangen sind, um unter Einsatz ihrer Unversehrtheit für ein Recht auf freie Wahlen zu kämpfen, jetzt zu Hause bleiben und verzichten, dann sollte das ein Signal sein, darüber nachzudenken, ob hier nicht etwas grundlegend falsch läuft.

Wir dachten unter kaiserlichem Zwange
an eine Republik … und nun ists die!

schrieb Kurt Tucholsky in »Ideal und Wirklichkeit«.
Dass die Lösung nicht in Appellen und noch mehr Plakaten und noch mehr Wahlständen liegt und auch nicht in der Beschimpfung von Nichtwählern als miese Demokraten, die bequem geworden sein und ihre Freiheit nicht zu schätzen wüssten. Nein, hier wäre mal eine gründliche Supervision oder zumindest mal eine Selbstreflexion angebracht. Möglicherweise macht ihr ja etwas grundlegend falsch, liebe PolitikerInnen. Think about it. Wenn ihr das noch könnt.

Zum Abschluss seien noch zwei Beiträge zum Thema empfohlen, zum einen der grundlegende Tucholsky-Text »Ein älterer, aber leicht besoffener Herr«, leicht gekürzt, aber unschlagbar vorgetragen von Gerd E. Schäfer:

Und natürlich, die nicht weniger grundlegende, aber doch weniger feingeistige Southpark-Folge »Wähl oder stirb«

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