Nebelwerfer. Eine Polemik.

Ich wollte ja eigentlich nicht. Dieses Mal, sagte ich mir immer wieder, dieses Mal gibst Du nicht auch noch Deinen Senf dazu.
Aber der innere Senfproduzent ließ sich von der angeordneten Kurzarbeit überhaupt nicht beeindrucken und da zu viel Senf im Bauch den Magenschleimhäuten schadet, muß ich nun doch.
Es wäre denn auch sehr einfach, die ganze GoogleStreetView-Geschichte als Sommerlochkasperade abzutun, einmal herzlich über die Leute zu lachen, die sich bei ihrem Protest gegen die Abbildung ihrer Häuser mit Famen und Haus in Presse und Fernsehen präsentieren oder den Kopf zu schütteln über den unfaßbaren Unsinn, der über den Dienst des beliebten Zwischennetzunternehmens verbreitet wird.
Könnte man. Und dann zur Tagesordnung übergehen.
Wenn es da nicht diesen GO-Antrag gäbe, der einen Punkt auf die Agenda bringt, den ich für gewichtig halte:

awillburger/status/21913178130

Betrachtet man die Aufregung um dieses Thema, die in keinerlei Verhältnis zur Sache stehen, und vor allem, wer sich da so ins Zeug legt, so flüstert der innere Wisnewski doch sofort: Da soll abgelenkt werden. Da wird vertuscht. Die planen doch eine ganz große Sache.
Es braucht freilich keines verschwörungstheoretischen Feingespürs, um die simple Ablenkungstaktik zu erkennen und so ist denn der oben zitierte Tweet auch nur einer unter unzähligen ähnlich gelagerten Äußerungen. Während ich aber für Frau Aigners heroischen Kampf gegen Windmühlen wenigstens noch eine verständliche Motivation ins Felde zu führen wüsste (was soll sie auch machen mit ihrem belächelten Ministerium, ihrer offensichtlichen Überforderung, die sich in sinnfreier Symbolpolitik – das angekündigte Löschen ihres Facebookaccounts wird Zuckerberg auf der eigenen Relevanzskala wohl irgendwo zwischen einem umgefallenen Sack Reis und einem zerstörten Blumenkübel einsortiert haben – manifestiert), ist mir die Motivation unseres offiziellen PolitikJournalismus völlig unbegreiflich.
Wieso steigt man denn darauf ein? Warum in alles in der Welt hält man es für wichtiger jede Äußerung irgendeines Menschen mit politischem Mandat nachzuplappern und zu verbreiten, anstatt mal ernsthaft Fragen zu stellen?
Wo ist denn die große mediale Kampagne zur Netzneutralität, wenn man denn schon über Google reden will? Tagelange Berichterstattung von Tagesschau bis Bild wäre hier doch viel eher angebracht.
Wo die erbosten Volksmassen, die sich doch sicher finden ließen, deutete man auch nur an, was im SWIFT-Abkommen eigentlich drin steht?
Wie wäre es denn gewesen, über die erstaunliche Zurückhaltung der Regierung in Sachen EU-Datenschutzrichtlinie zu berichten anstatt über eine Belanglosigkeit wie StreetView? Man stelle sich vor, jedes Mal, wenn Frau Aigner ihre Meinung dazu Kund getan hätte, wäre ihre Untätigkeit in dieser Sache thematisiert worden.
Stellt sich die Frage: Warum passiert das nicht? Wenn die Regierenden, aus nachvollziehbaren, wenn auch keineswegs ehrenwerten Gründen, Nebelkerzen wirft, wieso wird dann noch die Nebelmaschine angeworfen, wo es doch nötig wäre, ein Windgebläse aufzustellen?
Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, daß unser Haupstadtjournalismus inzwischen so sehr Hauptstadt geworden ist, daß ihm der Journalismus abhanden gekommen ist. Wieso setzt nicht die achso wichtige und gerühmte Vierte Gewalt die Themen, sondern läßt sie sich mundgerecht vorkauen?
Braucht es denn etwa der Äußerung einer Frau Aigner, damit ein Thema ein Thema wird? Habt ihr bei all den super-konspirativen Mittagessen mit Hinter- und Vorderbänklern vergessen, wer eure Zeitungen macht? Wißt ihr noch, was investigativ ist? Themenfindung? Recherche, anyone?
Wißt ihr noch, warum sich Zeitungen mal durchgesetzt haben? Weil sie Neues berichteten, analysierten und in Zusammenhänge stellten. Wär doch schön, wenn es so etwas wieder gäbe, ne?

Und die spannende Frage, die sich mir zum Abschluß stellt: Warum in alles in der Welt lassen wir das mit uns machen?

Schließen möchte ich mit einem Kommentar des Hausheiligen, Getroffene mögen bellen:

An das Publikum

O hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: »Das Publikum will es so!«
Jeder Filmfritze sagt: »Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!«
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
»Gute Bücher gehn eben nicht!«
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte . . .
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

Ja, dann . . .
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser –?
Ja, dann . . .
Ja, dann verdienst dus nicht besser.

in: Werke und Briefe: 1931. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8493f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 237-238)


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Von Sachsen und anderen Anhaltern

Der Tag fing schon nicht gut an. Zwar erfüllte der Wecker getreulich seine Pflicht, lag aber unglücklicher Weise in unmittelbarer Reichweite meiner Hand, so daß die teuflische Funktion „Snooze-Taste“, deren Erfinder von allen zum pünktlichen Aufstehen verpflichteten Zeitgenossen wohl schon hundertmal verflucht wurde, problemlos nutzbar war. Ich stand also eine Stunde später als geplant auf. Was den sorgfältig geplanten Zeitplan gehörig ins Schwanken brachte, aber kompensierbar war.
Weiterlesen „Von Sachsen und anderen Anhaltern“

Erinnerung: Gachmuret feat. Der Hausheilige & Kollegen – live.

Wem es im März nicht vergönnt war, der Lesung aus Texten des Hausheiligen beizuwohnen oder wem es so gut gefallen hat, daß eine Wiederholung wünschenswert wäre, hat nun die Gelegenheit dazu, mir erneut zu lauschen.
Im Programm des diesjährigen Sachsen-Anhalt-Tages, der in diesem Jahr in Weißenfels stattfindet, gibt es den Programmpunkt „Stille Schätze“, mit dem ein Kontrapunkt zum Volksfesttrubel des übrigen Programms gesetzt werden soll.

Am 21. August zwischen 12 und 13 Uhr werde ich also im Novalis-Pavillon zu erleben sein.

Auf dem Programmzettel stehen neben dem Hausheiligen dieses Blogs bereits Alexander Sergejewitsch Puschkin, sowie die Weißenfelser Geistesgrößen Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, Joachim Wilhelm Freiherr von Brawe und Frank Fischer.

Für alle, die nicht ortskundig sind, hier eine Anfahrtsskizze.

Wir sehen uns dann nächste Woche. 😉

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Die Geißel der Menschheit

Mit der Geißel ist das so eine Sache, zumindest metaphorisch. Denn faktisch ist die recht einfach zu identifizieren, handelt es sich doch um eine Peitsche, die für fetzige Effekte mit Widerhaken versehen wurde.
Nicht so leicht zu fassen ist sie dagegen im übertragenen Sinne. Je nach kulturellem Kontext kann die Geißel ganz verschieden auftreten. Mal als alles dahinraffende Krankheit, mal als böse fremde Macht, die alles vernichten möchte.
Sehr beliebt sind natürlich auch menschliche Eigenschaften. Gier, Rachsucht, Neid – oder auch Verblendung.

Verblendung, also das Versinken in einer Weltsicht, die nur noch Absoluta kennt, einer Weltsicht, die kein Abwägen, kein Verständnis, kein Mitleid, keine Gnade mehr kennt. Verblendung in diesem Sinne macht ein Akzeptieren anderer Lebensweisen als der eigenen unmöglich und führt zu einer Isolation, die je nach Grad nur noch Gleichgesinnte oder gar sich selbst duldet.
Nichts aber ist gefährlicher für die geistige Gesundheit als Ignoranz anderen Ideen und Gedankengängen gegenüber. Was passiert, wenn man nur noch im eigenen Saft schmort, zeigte Eva Herman, die sich seit einiger Zeit redlich bemüht, ihre umstrittene Kündigung nachträglich zu rechtfertigen. In ihrem Kommentar auf der Homepage des Kopp-Verlages hat sie nur Stunden nach dem Ereignis bereits glasklar die Schuldigen ausgemacht. Die Hippies natürlich. Die unsere Kinder („Die Kinder, die Kinder“) zu Drogenkonsum und hemmungslosem Kopulieren verführen und überhaupt die ganzen Sitten und Werte in den Dreck ziehen. Sodom und Gomorrha. Wir werden alle sterben. Süüünder, ihr seid alle Süüüünder. Das ganze Programm (sehr schön übrigens die Fassunglosigkeit des Daniel Schulz in der taz).

Mithin handele es sich nicht einfach um ein Unglück, für das ganz simple menschliche Fehler ursächlich sein könnten, sondern um ein göttliches Strafgericht für Sünder. Wir werden alle sterben.
Nun wäre dies alles keines Wortes wert, Menschen mit merkwürdigen Ansichten gibt es in erheblicher Anzahl und die erregen, sehr zu ihrem eigenen Leidwesen, wenig Aufmerksamkeit. Ich schriebe darüber auch nichts, hätte @formschub Recht.

Leider hat er das nicht. Dafür sind die Verkaufszahlen alleine von Frau Hermans medienverschwörungstheoretischem Werk viel zu hoch. Der Trick, heftige Einwände gegen geäußerte Meinungen als gelenkten Versuch zu deuten, „die Wahrheit“ zu unterdrücken, darf da als symptomatisch für die Publikationen des Kopp-Verlages gelten, der mit dieser Masche regelmäßig in der Spiegel-Bestseller-Liste landet. Um meinen Blutdruck nicht unnötig zu belasten, sei die geneigte Leserschaft auf den Eintrag bei Esowatch verwiesen. Mir geht es um etwas anderes.

Natürlich ist offiziellen Mitteilungen zu mißtrauen. Natürlich ist es wichtig und richtig, Dinge zu hinterfragen. Es gibt wahrscheinlich eine ganze Menge an Seltsamkeiten, die aufgeklärt gehören. Das gilt aber eben nicht nur für „die da oben“, da gilt auch und gerade für Leute, die meinen, alles nun aber ganz genau zu wissen und vor allem deshalb nicht gehört zu werden, weil dunkle Mächte „die Wahrheit“ unterdrücken.
Es könnte nämlich auch sein, daß sie nicht durchdringen, weil sie einfach Unsinn schreiben. Es könnte auch sein, daß es hilfreich ist, mal den eigenen Kopf einzuschalten. Es könnte sein, daß einem dann auffällt, daß die ach so sensationellen Enthüllungen nichts weiter sind als eine geschickte Zusammenstellung unbelegter Behauptungen, Auslassungen oder schlichter Unwahrheiten sind. Als einziges Beispiel sei hier nur einmal auf Herrn Niggemeier verwiesen, der die Methode Ulfkotte offenlegt.

Und wenn man in der ganzen Hysterie der Sensationen mal ganz kurz innehält, dann fällt einem vielleicht auch auf, daß da ein bißchen viel in kurzer Zeit publiziert wird. Aber freilich, Oberchecker brauchen keine Recherche, die wissen alles so. Wenn ich sehe, wie in zehntausenden von Exemplaren Bücher verkauft werden, die nichts weiter enthalten als wütende Angriffe, ganz ohne Rücksicht auf so etwas banales wie Fakten oder logisches Denken, frage ich mich: Wie kommt man dagegen an?

Wenn es wirklich erst einer Eva Herman, gegen deren Gottesverständnis auch einiges einzuwenden wäre (nebenbei, habe ich da etwas beim metaphysischen Konzept „Gott“ falsch verstanden, wenn ich es merkwürdig finde, daß Menschen glauben, Gottes Wille zu kennen?), braucht, um mal nachzufragen, was eine nicht unerhebliche Anzahl Menschen da liest, steht es nicht gut um unsere Gesellschaft. Und das wird ja nicht besser, das Internet hat die Möglichkeiten der Selbstreferentialität erheblich erweitert. Es ist jederzeit möglich, sich mit einer unglaublichen Anzahl von Geichgesinnten zu umgeben. So bizarr das scheint, aber in einer Zeit, in der so viel Information wie wohl in keiner Zeit vorher verfügbar ist, ist es gleichzeitig vollumfänglich möglich, alles zu ignorieren, was der eigenen Wahrnehmung und Überzeugung entgegensteht. Die Geschäftsmodelle, die auf der Grundlage des (sozialen) Verhaltens im Netz entwickelt werden, deuten an, wohin die Reise gehen könnte. Schon heute kann man sich problemlos von einem Gefällt-mir, Gefällt-Dir – Konstrukt zum nächsten hangeln. Wer mir nicht gefällt, den blocke ich halt (meine Timeline auf Twitter zum Beispiel ist eine weitgehend geschlossene Blase). Passen wir hier nicht auf, kann es durchaus geschehen, daß demnächst ein jeder in seiner „Anderen, denen das gefiel, gefiel auch dieses“-Blase lebt. Kaum etwas aber ist wichtiger, als die Fähigkeit zu kritischem Denken, was vor allem meint: Andere Meinungen zuzulassen, anzuhören und abzuwägen – um dann die eigene Position zu hinterfragen. Die vielleicht wichtigste Lehre, die ich aus meinem Geschichtsstudium mitgenommen habe, ist diese:

Es könnte alles auch ganz anders gewesen sein.

Jegliche historische Erkenntnis ist immer vorläufig, ist immer Konstruktion. Sie kann auch gar nichts anderes sein, zumindest so lange, bis der Fluxkompensator Serienreife erlangt hat. Wir waren halt nicht dabei.
Sprich: Der eigene Irrtum ist nie auszuschließen.

Insofern mag auch ich mich irren und das ist alles gar nicht so schlimm. 3 Millionen tägliche BILD-Exemplare und Kopp-Bücher mit sechsstelligen Auflagen brauchen mir vielleicht gar keine Sorgen machen.
Trotzdem verweise ich auf das noch immer maßgebliche Buch zum Thema, in dem am Beispiel des durchaus unsäglichen Herrn Scholl-Latour die Mechanismen dieser sogenannten Experten ganz ausgezeichnet dargestellt werden.

Und der Hausheilige? Was hat der dazu zu sagen? Der spottet mal wieder:

Nach Lektüre aller Leitartikel aber zeigt uns dieser
Vorgang aufs neue:
die Vergänglichkeit der irdischen Werke;
die Größe Deutschlands;
die Wahrheit des christlichen Gedankens;
die Notwendigkeit der Beibehaltung der Simultan-Schule;
die Schurkerei des Bolschewismus
sowie
die Dringlichkeit des Baus einer neuen Eisenbahnbrücke im Kreise Oldenburg-Nord
(Nichtgewünschtes bitte zu durchstreichen!)
P. S. Wie wir soeben von unserm Spezialkorrespondenten erfahren, handelt es sich nicht um den Pont de l’Alma, sondern um die Tower Bridge; auch ist diese Brücke nicht in die Luft geflogen, sondern sie wird frisch gestrichen. Eine Änderung unsres grundsätzlichen Standpunktes kann dies natürlich nicht herbeiführen.
Ereignisse haben manchmal unrecht – die Zeitung hat es nie.

*

Zum Abschluß noch ein Hinweis. Im Gegensatz zu allem, was ich in journalistischen Publikationen gelesen habe, hat mich dieser Beitrag wirklich intensiv berührt. Und ich möchte den gar nicht weiter kommentieren, weil er ganz für sich allein steht und gültig bleibt.

aus: Der Pont de l´Alma fliegt in die Luft! in: Werke und Briefe: 1928, S. 364f. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 6044f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 6, S. 165f.)

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Entscheidend ist auf´m Platz

Mal wieder eine Volksabstimmung. Mal wieder entschied vox populi anders als das Parlament. Haben die Hamburger es „denen da oben“ mal wieder gezeigt. Wobei bei der Sozialstruktur der Initiatoren und besonders der Abstimmenden die Frage erlaubt sein darf, ob es sich im Falle Hamburg nicht eher um eine Abwehrbewegung derer „da oben“ handelt.
Aber dies nur nebenbei. Mit geht es um etwas anders. Weshalb ich auch kein Wort darüber verlieren möchte, daß es ernstzunehmende Hinweise gibt, den Selektionswahn des deutschen Schulystems fragwürdig zu finden. Des weiteren werde ich auch nichts dazu sagen, wie bemerkenswert viele Menschen entschiedene Aussagen zum Bildungssystem geben mit der einzigen Expertise, selbst einmal Schüler gewesen zu sein. Und ein Thema, zu dem ich nun wirklich nichts sagen werde, ist die Frage, ob eine sechsjähige Primarschule besser ist als eine Selektion von 10jährigen oder ob die Hauptschule abgeschafft gehört und ob es nun besser sein könnte, ein ein-, zwei- oder dreigliedriges Schulsystem zu haben. Selbst die Frage nach integrativen Schulmodellen oder nach Ganztagskonzepten berühre ich bestenfalls am Rande.
Ganz kurz möchte ich aber darauf verweisen, daß es recht sinnvoll sein könnte, einmal darüber nachzudenken, worin eigentlich das Ziel schulischer Bildung bestehen soll. Eine Schule, die brave, gehorsame Erfüllungsgehilfen hervorbringen soll, sieht selbstverständlich anders aus als eine Schule, die selbständige, kritische und kreative Menschen ausbilden will.
Meist steht im Bildungsauftrag für die Schulen etwas in dieser Art. Ich freue mich über jede Wortmeldung aus der geneigten Leserschaft, die beinhaltet, eine Schule zu kennen, die einen solchen Bildungsauftrag erkennen läßt.
Doch wie gesagt, dazu kein Wort.
Denn das sind alles Nebenschauplätze. Hervorragend geeignet für Pressekonferenzen, Profilneurosen oder emotionale Wahlkämpfe („Die Kinder, die Kinder!“).

Entscheidend aber ist auf´m Platz. Was in diesem Falle meint: Im Klassenzimmer.

Es gibt die verschiedensten Erklärungen dafür, warum unsere Schulbildung schlecht ist (uneins ist man sich ja, worin genau die mangelnde Qualität besteht, aber schlecht ist sie wohl auf jeden Fall). Und so wird denn auch trefflich darüber gestritten, welche Stellschrauben des Systems anders justiert werden müssten, wer wo wieviele Jahre und wieviele Unterrichtsstunden in welchen Unterrichtsfächern mit welcher Wichtung zueinander mit welcher Anzahl von Klausuren und Leistungskontrollen bei welchem Umfang von Hausaufgaben „beschult“ wird.
Es gibt kein treffenderes Wort für das tiefsitzende Problem unserer Schulbildung als den administrativen Ausdruck dafür, was IN der Schule geschieht: Dort werden Kinder „beschult“ (deshalb gibt es übrigens auch kein Streikrecht für Schüler – strukturell gesehen wäre das in etwa so als würde der Leisten beim Schuhmacher streiken, weil er nicht bespannt werden möchte oder der Käse im Supermarkt, weil er nicht gelagert oder verkauft werden will). Das öffentliche Nachdenken über Schule endet spätestens an der Tür zum Klassenzimmer, was bizarr ist, weil Schule da überhaupt erst beginnt, wirksam zu werden. Die Frage, ob Schüler etwas lernen und was sie lernen entscheidet sich nirgendwo sonst. Wenn daran also etwas geändert werden soll, dann hilft nur ein Blick in den Unterricht selbst und auf diejenigen, die diesen Unterricht gestalten. Dann müsste auch darüber nachgedacht werden, wie die Lehrenden eigentlich aus- und weitergebildet werden und ob sie überhaupt in der Lage sind, dem umfangreichen Bildungsbegriff, der einer modernen Schule zu Grunde liegt, zu erfassen und umzusetzen.
Die zu beobachtenden Lernerfahrungen von Schülern legen den Verdacht nahe, daß dem eher nicht so ist. Das ist auch nicht weiter überraschend, begünstigt die Lehrerausbildung ja auch eher Menschen, die in der Lage sind, administrative Anweisungen präzise umzusetzen – und eben keinen Schritt davon abweichen, geschweige denn darüber hinausgehen (es würde jetzt endlos werden und ich bin da emotional vorbelastet, aber vielleicht hilft hier ja auch die eigene Erinnerung an die Stunden, in denen mehr oder weniger nervöse Studenten vorne an der Tafel waren und unter dem gestrengen Blick der Fachdidakterin hinten in der letzten Reihe versuchten, eine Stunde zu gestalten: Seid versichert, es geht überhaupt nicht darum, ob die Stundengestaltung Sinn macht, welche methodischen Erwägungen gemacht wurden und ob die Schüler dabei etwas lernen, nein, wichtig ist das Schema und dessen Umsetzung. Funktioniert hat das ganze dann, wenn „die Klasse“ nicht unruhig wurde und brav die im Konzept vorgesehenen Antworten liefert – vielleicht erinnert sich der eine oder andere auch noch an die innigen Bitten der Klassenlehrer(in) im Vorfeld, bitte nett zu sein und mitzuarbeiten…)

Die pädagogische Freiheit der Lehrenden ist ein hohes Gut und sie ist eine wunderbare Idee. Sie hilft aber rein gar nichts, wenn die Lehrenden gar nicht in der Lage sind, diese Freiheit auch zu nutzen, sondern sie stattdessen als Abwehrbollwerk nutzen, um lästige Eltern oder lästige Kollegen abzuwehren, die sie mit methodischen Vorschlägen behelligen.
Hierzu mal kurz den Hausheiligen:

Laß dir von keinem Fachmann imponieren, der dir erzählt: »Lieber Freund, das mache ich schon seit zwanzig Jahren so!« – Man kann eine Sache auch zwanzig Jahre lang falsch machen.

*

Was im Übrigen dann besonders dramatisch wird, wenn man überlegt, daß die erfolgreichsten Schulen ausgerechnet die sind, die sich auf ein schlüssiges pädagogisches Gesamtkonzept geeinigt haben (also Schulen wie diese oder jene). Schulen also, die Lehrenden wie Lernenden Freiräume lassen, gleichzeitig aber klare, erkennbare Rahmen setzen. Wenig ist dem Lernen unzuträglicher als Unberechenbarkeit. Wenn alle 45 Minuten eine vollkommene Neuorientierung stattfinden muß, weil urplötzlich wieder ganz andere Dinge wichtig sind, ganz andere Regeln gelten, ein völlig anderer Umgang miteinander herrscht, so ist das nicht eben der ideale Nährboden für gutes Lernen (man denke nur mal an das eigene Lernen und die Ritualisierung der dazugehörigen Vorgänge und Situationen).
Ein solches Vorgehen freilich läßt sich weder auf ein paar griffige Fromeln reduzieren, noch wäre es zu popularisieren (das ginge nur, wäre das Interesse der Eltern tatsächlich so weit gehend und würde nicht bei „Da mußt Du eben lernen/zuhören/aufpassen“ enden), geschweige denn gäbe es einfache Antworten. Es wäre harte, intensive, tägliche Arbeit.

Nein, da wird lieber noch ein neues Schulstrukturkonzept entworfen und heiß diskutiert, anstatt endlich den Schulen den Raum, die Ruhe und das Personal zu geben, die sie bräuchten, um wirklich gut zu werden.

Wirklich traurig ist aber, daß das alles schon längst bekannt ist. Die Bildungskommission NRW hat in ihrem Bericht auf all diese Punkte bereits 1995 hingewiesen. Und sie hat weiterhin Recht. Es bedürfte eines Systemwandels, eines völlig anderen Herangehens an Bildung – ein paar kosmetische Operationen, und das ist alles, was seither in der Schulpolitik passiert, bringen uns nicht weiter.

*aus: Schnipsel. in: Werke und Briefe: 1932, S. 95. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8811 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 49)

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Das Buch zum Sonntag (53)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues

Der erste Weltkrieg gilt als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ und Ende des langen 19. Jahrhunderts (das üblicherweise mit der Französischen Revolution als Beginn gesetzt wird). Für diese Sichtweise gibt es einige Anhaltspunkte. Vielen Kriegsteilnehmern, vielleicht sogar einigen Protagonisten auf Regierungsebene, war nicht annähernd klar, worauf sie sich da eingelassen hatten. Der erste Weltkrieg offenbarte schnell, daß im Zeitalter der Millionenheere der Einzelne nun gar keine Rolle mehr spielte. Die einzigen Aufgaben, die noch blieben, waren das Bedienen von Artilleriemaschinen und das Füllen von Gräbe(r)n.
Was Remarque in seinem Roman gelingt, ist das Portrait einer Generation, die in 4 Jahren Krieg nicht nur traumatisiert wird, nicht nur schreckliche Dinge erlebt, sondern physisch und psychisch vollkommen zerrüttet wird, die nicht nur den Glauben (woran an auch immer) verliert, sondern auch sich selbst. Eine Generation, die jung und enthusiastisch, kaum der Schulbank entronnen, in einen unvorstellbaren Krieg zieht – und verbraucht, zerstört, lebensmüde zurückkommt.
Dieser Roman ist in meinen Augen besonders deshalb so wertvoll, weil er auf Anklagen, Entschuldigungen, Bekenntnisse verzichtet. Er erzählt einfach. Dies aber konsequent. Krieg ist kein reinigendes Stahlgewitter, in dem ein Junge zum Manne reift. Krieg ist vor allem eines: Grauen.

Haie Westhus wird mit abgerissenem Rücken fortgeschleppt; bei jedem Atemzug pulst die Lunge durch die Wunde. Ich kann ihm noch die Hand drücken; -„is alle, Paul“, stöhnt er und beißt sich vor Schmerz in die Arme.
Wir sehen Menschen leben, denen der Schädel fehlt, wir sehen Soldaten laufen, denen beide Füße weggefetzt sind; sie stolpern auf den splitternden Stümpfen bis zum nächsten Loch; ein Gefreiter kriecht zwei Kilometer weit auf den Händen und schleppt die zerschmetterten Knie hinter sich her; ein anderer geht zur Verbandsstelle und über seine festhaltenden Hände quellen die Därme; wir sehen Leute ohne Mund, ohne Unterkiefer, ohne Gesicht; wir finden jemand, der mit den Zähnen zwei Stunden die Schlagader seines Armes klemmt, um nicht zu verbluten, die Sonne geht auf, die Nacht kommt, die Granaten pfeifen, das Leben ist zu Ende.
Doch das Stückchen zerwühlter Erde, in dem wir liegen, ist gehalten gegen die Übermacht, nur wenige hundert Meter sind preisgegeben worden. Aber auf jeden Meter kommt ein Toter.

(S. 97)*

Remarque bleibt aber nicht bei simplen Schilderungen stehen. In der Veränderung, die der junge Paul Bäumer durchläuft, in den Denkweisen, die sich an der Front, nicht nur bei ihm, bilden, offenbart sich das Drama einer verlorenen Generation. Und dies wirkt umso stärker, als es Remarque gelingt, Figuren zu schaffen, die sich auch mit dem Abstand fast eines ganzen Jahrhunderts noch zur Identifikation eignen. Auch ganz ohne eigene Erfahrungen in einem solchen Krieg, fühlt und leidet man auch heute mit Paul und seinen Gefährten. Für mich bleibt „Im Westen nichts Neues“ auch und gerade heute ein Antidot gegen all die hehren Beschwörungen von der Notwendigkeit des Krieges und den großen Dingen, für die es zu töten gilt.

Kantorek kann von Mittelstaedt nichts anderes verlangen, denn er hat ihm einmal eine Versetzung vermurkst, und Mittelstaedt wäre schön dumm, diese gute Gelegenheit nicht auszunutzen, bevor er wieder ins Feld kommt. Man stirbt doch vielleicht etwas leichter, wenn der Kommiß einem auch einmal solch eine Chance geboten hat.
Einstweilen spritzt Kantorek hin und her wie ein aufgescheuchtes Wildschwein. Nach einiger Zeit läßt Mittelstaedt aufhören, und nun beginnt die so wichtige Übung des Kriechens. Auf Knien und Ellenbogen, die Knarre vorschriftsmäßig gefaßt, schiebt Kantorek seine Prachtfigur durch den Sand, dicht an uns vorbei. Er schnauft kräftig, und sein Schnaufen ist Musik.
Mittelstaedt ermuntert ihn, indem er den Landsturmmann Kantorek mit Zitaten des Oberlehrers Kantorek tröstet. „Landsturmmann Kantorek, wir haben alle das Glück, in einer großen Zeit zu leben, da müssen wir alle uns zusammenreißen und das Bittere überwinden.“ Kantorek spuckt ein schmutziges Stück Holz aus, das ihm zwischen die Zähne gekommen ist, und schwitzt. Mittelstaedt beugt sich nieder, beschwörend eindringlich: „Und über Kleinigkeiten niemals das Erlebnis vergessen, Landsturmmann Kantorek!“

(S. 124f.)

Natürlich wurde der Roman 1928 anders gelesen als er heute gelesen wird. Die Zeitgenossen steckten ja selbst in den Schützengräben der Westfront, im zermürbenden, sinnlosen Stellungskrieg und diese geteilte Erfahrung führt zwangsläufig zu einer anderen Rezeption als bei einer Generation, deren Kriegserfahrungen im Wesentlichen aus n-tv-Dokumentationen stammt. Einer der wichtigsten Punkte in der umfangreichen zeitgenössischen Debatte war die Frage, ob denn das alles wahr sei, was da stünde, ob der Herr Remarque dies überhaupt erlebt habe. Zum einen zeigt dies, daß die Authentizitätsfrage, die bei Frau Hegemann durchexerziert wurde, auch schon etwas älter ist, und zum anderen scheint mir eine solche Frage immer ein Versuch zu sein, von den Fragen, die ein solches Werk aufwirft, abzulenken. Dazu mal kurz den Hausheiligen:

Gegen das Buch läßt sich vielerlei sagen.
Man darf den Stilisten Remarque angreifen. (Ich tus nicht – aber so ein Angriff ist denkbar.) Man darf sagen: so ist der Krieg nicht gewesen; der Krieg war edel, hilfreich und gut – die Soldaten haben sich mit
Schokoladenplätzchen beworfen und in den Pausen ihrem Kaiser gehuldigt. Man darf sagen: Der wahre Mann beginnt erst, wenn er seinem Gegner eine
Handgranate in die Gedärme geworfen hat. Man darf vieles über, für und gegen das Buch sagen, fast alles.
Aber eines darf man nicht.
Man darf nicht den Kampf verschieben und sich die bürgerliche Person des Autors vornehmen, dessen Haltung nach einem in der Geschichte des deutschen Buchhandels beispiellosen Erfolg mustergültig ist.
Der Mann erzählt uns keine dicken Töne, er hält sich zurück; er spielt nicht den Ehrenvorsitzenden und nicht den Edelsten der Nation – er läßt sich nicht mehr fotografieren als nötig ist, und man könnte manchem engeren Berufsgenossen soviel Takt und Reserve wünschen, wie jener Remarque sie zeigt.

**

Oder, deutlich prägnanter, vom Verlag freundlicherweise auf der Rückseite der Taschenbuchausgabe abgedruckt, Stefan Zweig: „Ein vollkommenes Kunstwerk und unzweifelhafte Wahrheit zugleich.“
So bleibt denn festzuhalten, daß „Im Westen nichts Neues“ kein Antikriegsroman ist, kein pazifistisches Manifest – aber gerade daraus seine starke Wirkung zieht. Ich kann (oder will?) mir nicht vorstellen, daß jemand nach der Lektüre dieses Romans uneingeschränkt und unerschüttert sich für die Notwendigkeit von Kriegen als Mittel der menschlichen Zivilisation einsetzen kann. Dazu noch ein letztes Zitat:

Das Grauen läßt sich ertragen, solange man sich einfach duckt; aber es tötet, wenn man darüber nachdenkt.
Genau wie wir zu Tieren werden, wenn wir nach vorn gehen, weil es das einzige ist, was uns durchbringt, so werden wir zu oberflächlichen Witzbolden und Schlafmützen, wenn wir in Ruhe sind. Wir können gar nicht anders, es ist förmlich ein Zwang. Wir wollen leben um jeden Preis; da können wir uns nicht mit Gefühlen belasten, die für den Frieden dekorativ sein mögen, hier aber falsch sind. Kemmerich ist tot, Haie Westhus stirbt, mit dem Körper Hans Kramers werden sie am Jüngsten Tage Last haben, ihn aus einem Volltreffer zusammenzuklauben, Martens hat keine Beine, Meyer ist tot, Marx ist tot, Beyer ist tot, Hämmerling ist tot, hundertzwanzig Mann liegen irgendwo mit Schüssen, es ist eine verdammt Sache, aber was geht es uns noch an, wir leben. Könnten wir sie retten, ja, dann sollte man mal sehen, es wäre egal, ob wir selbst draufgingen, so würden wir loslegen; denn wir haben einen verdammten Muck, wenn wir wollen; Furcht kennen wir nicht viel – Todesangst wohl, doch das ist etwas anderes, das ist körperlich. […]
Und ich weiß: all das, was jetzt, solange wir im Kriege sind, versackt in uns wie ein Stein, wird nach dem Kriege wieder aufwachen, und dann beginnt erst die Auseinandersetzung auf Leben und Tod.

(S. 100f.)

Und nun gehet hin und lest, vielleicht aus einer der

lieferbaren Ausgaben.

*zitiert nach: Remarque, Erich Maria: Im Westen nichts Neues. Kiepenheuer & Witsch Köln. 5. Auflage 1999

**aus: Hat Mynona wirklich gelebt? in: Werke und Briefe: 1929, S. 636f. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 7123f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 283) – Der Hausheilige hält Remarques Werk im Übrigen für kein originär pazifistisches Werk und zudem auch nicht für überragend. Aber immerhin für ein gutes Buch.

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P.S. Ich kann nicht über dieses Buch schreiben, ohne auf dieses Lied zu verweisen. Wer das hören kann und dann immer noch den dringenden Wunsch verspürt, Soldat zu sein – nun, der soll es auch werden. Allen anderen wäre abzuraten.

Rauchzeichen

Der Mensch gönnt seiner Gattung nichts, daher hat er die Gesetze erfunden. Er darf nicht, also sollen die andern auch nicht.

*

„Aber die Kinder, die Kinder!“

Seit Zensursulas Angriff auf die Informationsfreiheit sollten bei Begründungen für Verbote, die auf dieser Schiene laufen, bei jedem die Alarmglocken schrillen. Die armen, zu beschützenden Kinder, sind ein gar zu wohlfeiles Argument. Exemplarisch dazu mal diese Family-Guy-Folge.

Nun ist es ja nicht so, daß ich die Auswirkungen des Tabakrauches auch und gerade auf Kinder bestreite. Ganz im Gegenteil, ich finde die Debatten darum, ob Passivrauchen denn nun schädlich sei oder nicht, geradezu absurd. Denn die Auswirkungen auf die Gesundheit von Rauchern sind unbestitten – wenn dem aber so ist, so kann Passivrauchen nicht wirkungslos sein. In einem Leserbrief an die seinerzeit höchst tendenziell berichtende taz schrieb ich vom Mysterium der alles absorbierenden Raucherlunge, die benötigt würde, um diesen Effekt zu erzielen.

Was mich aber beunruhigt ist eine ganz andere Entwicklung.
Damit eine Gesellschaft existieren kann, ist es notwendig, sich selbst, die eigenen Ambitionen und Ansichten zurückzustellen – sonst wird das nix mit dem Funktionieren der Gemeinschaft. Das alte Ideal des Citoyen zielt genau darauf. Mir scheint aber, die Erkenntnis, daß wir alle nur Teil einer Gemeinschaft sind, ging irgendwo im Taumel postmoderner Dekonstruktivismusdebatten verloren. Sicherlich hängt es von der Selbstdefinition einer Gesellschaft ab, wie weit die Identifikation des Einzelnen mit ihr gehen soll und es wird auch in der freiheitlichsten Gesellschaft Lebensentwürfe geben, die geächtet sind. Diese Balance gilt es immer wieder neu auszuhandeln und die Menschen haben da im Laufe der Geschichte verschiedenste Verhandlungsstrategien entwickelt (Kriege, Revolutionen, Aufstände, Boulevardzeitungen…)
Je heterogener eine Gesellschaft aufgebaut ist, desto diffiziler ist es, Regeln für das Zusammenleben zu entwickeln, weil auf sehr viel mehr, wenn es hoch kommt, sogar konträrer, verschiedene Lebenskentwürfe Rücksicht genommen werden muß. Und desto problematischer sind fundamentalistische Gruppen. Diese nämlich, das ist per definitionem so, negieren genau diesen Zusammenhang. Im Besitz der alleinselgmachenden Wahrheit sind sie nun aufgerufen, die Menschheit zu bekehren und auf den Pfad der Tugend/Wahrheit//Erleuchtung/Freiheit [die geneigte Leserschaft sei hier aufgerufen, weitere passende Schlagworte zu ergänzen] zu führen.
Womit ich wieder einmal bei meinem Lebensthema wäre, nämlich dem persönlichen Drama von Menschen, die im festen, unerschütterlichen Glauben, für das Gute und Richtige einzustehen, Dinge tun, die von allen anderen nur als falsch, nicht selten sogar grausam, schrecklich, unmenschlich angesehen werden können.
Die Nagelprobe einer jeden Herrschaftsform ist nie, wie und auf welche Weise Macht verteilt wird, sondern immer die Frage, was die Macht der anderen für die Nichtmächtigen bedeutet, für all jene, die anders denken. Aus diesem Aspekt heraus erscheint es mir dramatisch, wenn eine solch fundamentalistisch geführte Initiative nun also Erfolg hatte. Und noch weit schlimmer, hier folge ich ganz und gar der durchaus streitbaren Julia Seeliger, daß eine Partei wie die Grünen, deren Selbstverständnis doch das pluralistische Nebeneinander und Zusammenleben verschiedenster Lebensentwürfe beinhaltet, sich dazu hinreißen läßt, hier eine Diskriminierungs-, wenn nicht sogar Kriminalisierungskampagne zu unterstützen und dabei eine Argumentationskette verfolgt, die jedem Law-and-Order-Politiker Tränen der Rührung in die Augen treiben dürfte. Damit wird einer Stimmung Vorschub geleistet, die Menschen deshalb ausgrenzt und ablehnt, weil sie ein anderes Leben führen möchten, weil ihnen andere Dinge wichtig sind als einer vor lauter irrsinniger Todesangst auf Wellnessgötzen fixierten Gesellschaftsgruppe (die dabei vollkommen zu ignorieren scheint, daß auch die „gesündeste“ Lebensweise rein gar nichtsan der Sterblichkeit ändert).
Ich möchte hier aber nicht mißverstanden werden: Die Situation vor der ersten Runde der Nichtraucherschutzgesetze war ebenso unerträglich. Selbst in einer Stadt wie Leipzig, mit immerhin einer halben Million Einwohner gab es de facto keine Möglichkeit, abends auszugehen, ohne Inhalationen unbestimmbarer Mengen Zigarettenrauches in Kauf zu nehmen. Das freie Spiel des Marktes schaffte da einfach keine befriedigende Lösung. Die daraufhin beschlossenen Regelungen fand ich an sich sinnvoll, es gab weiterhin die Möglichkeiten für Raucher, die Gastronomie nach ihrem Gusto zu besuchen und Menschen, die lieber rauchfrei bleiben wollen, wurde (endlich) die Chance gegeben, dies auch zu tun.
Es ist doch aber absurd, die Ausgangssituation nun umzukehren und jetzt die Raucher auszugrenzen. Genau das aber passiert mit einem kompletten Rauchverbot. Worin besteht das Problem eines separaten Raucherraumes, den ich als Nichtraucher einfach nicht betrete? Warum müssen Menschen vor Dingen beschützt werden, die sie gar nicht bedrohen?
Anstatt also vernünftige Lösungen für ein Zusammenleben zu suchen, sucht man den Weg der Ausgrenzung.
Nun, ich bin sicher, das Rauchverbot, selbst wenn es bundesweit eingefürht würde, brächte unsere Gesellschaft nicht an den Rand des Abgrunds. Aber, ihr lieben Jubler über diesen Erfolg, heute mögen es die Raucher sein (und da gibt es noch ein paar Runden, schließlich müssen wir und die Kinder, die armen Kinder, ja noch an ein paar anderen Orten des öffentlichen Lebens geschützt werden), morgen könnte es aber bereits euer Lebensstil sein. Es sollen ja auch laute Musik, Computerspiele und Autoabgase furchtbar schädlich sein. Und Kindergärten in der Nachbarschaft sind störend. Dann diese Leute mit den Piercings und Tattoos und die mit den schwarzen Klamotten, das sind doch alles Satanisten. Und diese Schwulen, das ist doch krank. Und diese ganzen Ausländer, was die hier wollen.

Die Initiatoren halten diese Volksininitiative für ein gelungenes Beispiel dafür, wie klug es doch sei, „das Volk“ abstimmen zu lassen. Ich halte es für ein gelungenes Beispiel dafür, wie mit Ressentiments Stimmung gemacht wird.

Zum Abschluß noch einmal der Hausheilige:

Den Tag über ist ihr Leben mit lauter Schildern umgattert: DU DARFST NICHT! . . . VERBOTEN! . . . UNTERSAGT! – Einmal, ein einziges Mal will der Mensch das Überflüssige tun, das dem Leben erst die richtige Würze gibt.

aus: Was machen die Leute da oben eigentlich? in: Werke und Briefe: 1930, S. 327. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 7526 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 8, S. 149-150)

*aus: Der Mensch. in: Werke und Briefe: 1931, S. 497. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8477 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 230)

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„Das Kind erfasst und begreift nur, was es sieht.“

Mir fällt es sehr schwer, Kinderbücher einzuschätzen.
Die meisten überzeugen mich einfach nicht. Da aber gleichzeitig nicht davon auszugehen ist, daß gefühlte 99% aller Kinderbücher schlicht nicht zu gebrauchen sind, halte ich es für wahrscheinlicher, daß mir da einfach der Zugang fehlt. Daher verlasse ich mich stets auf das Urteil kompetenter KollegInnen und die Bibliothek der Kinder wird liebevoll von ihrer Mutter betreut.
Gleichzeitig versuche ich meinen Kindern zu vermitteln, daß Bücher keine sakralen Gegenstände sind, die nur sonntags mit weißen Handschuhen zu berühren sind, sondern durchaus benutzt werden dürfen (zu den Ausnahmen kommen wir dann später, bis dahin werde ich zum Beispiel diesen Messestand wohl weiterhin allein besuchen ;)).
Nun, beim Aufräumen heute fiel mir nun eine Diogenes-Ausgabe des Struwwelpeter in die Hand, in der auch ein Nachwort des Autors, das dieser im Jahr 1876 anläßlich der 100. Auflage verfaßte, abgedruckt wurde.
Gegen den Struwwelpeter ist sicherlich einiges vorzubringen und das ist ja bereits umfänglich geschehen. Den Anspruch aber, den Heinrich Hoffmann im Nachwort formuliert, halte ich für weiterhin gültig.
Schauen wir doch mal rein:

Trotzdem hat man den Struwwelpeter aber auch großer Sünden beschuldigt, denselben gar als zu märchenhaft, die Bilder als fratzenhaft oft herb genug getadelt. Da hieß es: „Das Buch verdirbt mit seinen Fratzen das ästhetische Gefühl des Kindes.“ Nun gut, so erziehe man die Säuglinge in Gemäldegalerien oder in Kabinetten mit antiken Gipsabrücken! Aber man muss dann auch verhüten, dass das Kind sich selbst nicht kleine menschliche Figuren aus zwei Kreisen und vier geraden Linien in der bekannten Weise zeichne und glücklicher dabei ist, als wenn man ihm den Laokoon zeigt. – Das Buch soll ja märchenhafte, grausige, übertriebene Vorstellungen hervorrufen! Das Kind ist aber nur das Volk, und schwerlich werden diese Erzieher die Geschichte vom Rotkäppchen, das der Wolf verschluckte, vom Schneewittchen, das die böse Stiefmutter vergiftete, aus dem Volksbewusstsein und aus der Kinderstube vertilgen.
Mit der absoluten Wahrheit, mit algebraischen oder geometrischen Sätzen rührt man aber keine Kinderseele, sondern lässt sie elend verkümmern. – Und wie viele Wunder umgeben denn nicht auch den Erwachsenen, selbst den nüchternsten Naturforscher! Dem Kinde ist ja alles noch wunderbar, was es schaut und hört, und im Verhältnis zum immer noch Unerklärten ist überhaupt die Masse des Erkannten doch auch nicht so gewaltig. Der Verstand wird sich sein Recht schon verschaffen, und der Mensch ist glücklich, der sich einen Teil des Kindersinnes aus seinen ersten Dämmerungsjahren in das Leben hinüber zu retten verstand.

Dies sei auch all jenen ins Stammbuch geschrieben, die leichtfertig all die bunten, schrillen, grellen (fratzenhaften? ;)) Comics und Mangas verdammen.
Vielleicht ist es eben gerade die Übertreibung, die Überzeichnung, die besonders eindrücklich wirkt und eben gerade deshalb die größten Lerneffekte erzielt. Die Werbung hat das schon lange verstanden und gute Infographiken erfüllen Hoffmanns im Titel zitierte Forderung nach Anschaulichkeit par excellence.
Irgendwie bin ich gerade sehr gespannt, was meine Tochter aus ihren ersten Schulstunden zu berichten weiß.

Zu einem ganz ähnlichen Schluß kam übrigens der Hausheilige in seinen Betrachtungen zum Wesen der Satire, womit ich diesen Beitrag denn auch schließen möchte:

Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.

aus: Was darf die Satire? in: Werke und Briefe: 1919, S. 84. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1194 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 43)

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Forever young.

Meine Tochter wird in Kürze eingeschult. Das ist ein großer Schritt, zumindest für ihre Eltern.
Zu den üblichen Initiationsritualen für Eltern gehört in solchem Zusammenhang der Einführungselternabend. Solch ein Elternabend ist eine wichtige Sache und ich bin mir sicher, es wird auf Jahre hinaus der bestbesuchte Elternabend sein, an dem ich teilnehme. Dementsprechend gut gefüllt war denn auch der Versammlungsraum, in dem sich die aus Kindergarten-, Spielplatz- oder sonstigen Zusammenhängen bereits vertrauten Eltern nach peer-groups sortiert platzierten.
Faszinierend war aber, was danach geschah. Wahrscheinlich gibt es in den Wänden und Möbeln der Schule energetische Strömungen geben, vielleicht schwirren auch noch die Geister einstiger mit redundanten Schreibübungen und Moralpredigten anläßlich ungespitzter Bleistifte gequälter Schüler dort herum, möglicherweise gibt es auch einfach eine Wasserader, auf jeden Fall verwandelten sich die noch vor der Eingangstür prinzipiell als „erwachsen“ zu bezeichnenenden Gäste nach Betreten des Schulgebäudes unmittelbar in aufgekratzte Grundschüler.
Es spielten sich dramatische Szenen am Tisch der ausliegenden Klassenlisten (doch, natürlich ist es wichtig, ob das Kind in die 1a, b, c oder d kommt, insbesondere, wenn man die Lehrer noch überhaupt nicht kennt und die Liste sich nicht verändert, wenn man 5 Minuten später darauf schaut, aber Menschen sind ja immer sehr aktiv, wenn es um Dinge geht, die gar nicht mehr zu ändern sind) und der Raum, in dem die bahnbrechenden Informationen zum Schulbeginn mitgeteilt werden sollten, war von jenem typischen Geräuschgemisch angefüllt, wie es nur durch präpubertäres Gekicher und Getuschel entsteht.
Ich weiß nicht, ob Lehrer einfach nicht anders können oder ob unser Verhalten keine andere Reaktion ermöglichte, jedenfalls verging der Abend in einer wunderbaren Show typischen (Grundschul-)lehrerverhaltens mit allem, was das Herz begehrt: Das vereinnahmende „wir“ fehlte ebenso wenig wie die erhobene Stimme oder, mein Liebling, die Sprechpause samt ernerviertem Blick in die Klasse, ähm, Runde.
Andererseits: Warum eine erfolgreiche Strategie wechseln? Und in der Tat, der bunte Haufen, der bereits nach 20 Minuten schon kaum noch aufnahmefähig war, ließ sich mit den bewährten Techniken auch einigermaßen kontrollieren, was freilich nicht vor Fragen bewahrte, die ganz offensichtlich machten, daß das Publikum weder willens noch fähig war, den Ausführungen zu folgen. Ich möchte die geneigte Leserschaft nicht mit Deails belasten, aber es wurde tatsächlich ausschließlich nach Dingen gefragt, die gerade eben erst erklärt wurden. Es dürfte also kaum verwundern, daß die Lehrerende mit meiner Anmerkung, das freundliche Angebot der Schule bei der örtlichen Buchhandlung bestellen lassen unter Hinweis auf meine Berufstätigkeit im verbreitenden Buchhandlung, abzulehnen und daher eine Mitnahme des Bücherzettels zur Verwendung der dort verzeichneten bibliographischen Angaben für eine eigene Bestellung zu erbeten, intellektuell zunächst überfordert war. Als sie kurze Zeit später verstand, was ich meinte, unter Hinweis auf die hohen Temperaturen um Verzeihung bat und sich erbot, nach Ende der Veranstaltung eine Photokopie anzufertigen, hatte ich die ISBN und Kurztitel bereits weitgehend in mein Notizbuch übertragen.
Ich fand es höchst bemerkenswert, daß die anwesenden Eltern nicht in der Lage waren, 45 Minuten einfach mal zuzuhören. Offenbar reicht dafür die Aufnahmefähigkeit nicht, was jedenfalls an Nebengesprächen zu beobachten war, machte schlagartig klar, warum es Handyverbote und erzwungene Sitzordnungen gibt.Mit anderen Worten: Wahrscheinlich werden wir zu den ganz wenigen Deppen gehören, die sich an die dringende Bitte, wegen des beschränkten Platzes mit nicht mehr als 4 Personen zur offiziellen Schuleingangsfeier aufzutauchen, halten werden.
Die einzige Frage, die ich noch nicht geklärt habe, ist, ob ich es schlimmer finden soll, wie ein Grundschüler behandelt worden zu sein oder die Tatsache, daß diese Methoden funktionierten (insbesondere dieser Trick mit der Sprechpause – es war sofort Ruhe und die Köpfe senkten schuldbewußt Richtung Tischplatte, also, bis zum nächsten Mal natürlich).

Den Hausheiligen habe ich in letzter Zeit sträflich wenig zu Wort kommen lassen. Dafür soll er heute einmal ausführlich zu Wort kommen. Inspiriert zu dieser Auswahl hat mich der, nennen wir es freundlich, tendenziöse Vortrag der stellvertretenden Schulleiterin zur Frage, ob Ethik oder Religion gewählt wird, der im Wesentlichen darin bestand, die Vorzüge des Ethikunterrichts, dessen Lehrinhalte und all die unüberwindlichen organisatorischen Schwierigkeiten, die mit der Wahl eines Religionsfaches verbunden wären, aufzuzählen – freilich nicht ohne ihre eigene Abneigung gegen jeglichen Glauben zum Ausdruck zu bringen (was ich für höchst problematisch halte, denn gerade in der Ethik geht es weit weniger darum, ob die diversen großen Erzählungen in einem wissenschaftlichen Sinne stimmen, sondern doch wohl eher darum, was sie für das Handeln und Zusammenleben bedeuten). Jedenfalls erinnerte mich die von unverhohlener Verachtung geprägten Äußerungen daran, einmal zu überlegen, inwieweit eigentlich der behauptete gesellschaftliche Wandel der letzten 20 Jahre tatsächlich in der Schule angekommen ist (die geneigte Leserschaft weiß schon: Respekt anderen Weltanschauungen gegenüber und so). Ganz ähnliche Fragen stellte sich auch der Hausheilige.

Die Schule

Wer die Schule hat, hat das Land.
Aber wer hat die bei uns in der Hand!

Du hörst schon von weitem die Schüler
schnarchen.
Da sitzen noch immer die alten Scholarchen,
die alten Pauker mit blinden Brillen,
sie bändigen und töten den Schülerwillen.
Und lesen noch immer die alte Fibel
und lehren noch immer den alten Stiebel:

Wie in den alten Zeiten die wichtigen Schlachten
die großen Völkerentscheidungen brachten,
wie die Fürsten und die Söldnerlanzen
den großen blutigen Contre tanzen,
und ohne die heilige Monarchie
sei die Hölle auf Erden – und schließlich, wie
die Völker nur eigentlich Statisten seien.
Man müßte ihnen die Dumpfheit verzeihen.
Könnten eben nichts weiter dafür . . .

Und sie lernen vom Kupfercyanür.
Und von den braven Kohlehydraten.
Und von den beiden Koordinaten.
Und von der Verbindung mit dem Chrome.

Lernen auch allerhand fremde Idiome.
Ut regiert den Konjunktiv.
Polichinelle ist ein Diminutiv.
Und was so dergleichen an Stoff und an Wissen.

Himmelherrgott! ist die Schule beschmissen!
Seelenmord und Seelenraub!
Unter die Kruste von grauem Staub
drang auch kein Luftzug der neuen Zeit.
Der alte Schulrat im alten Kleid.
Wundert euch nicht! Was kommt aus dem Haus
schließlich nach Oberprima heraus?

Ein nationalistischer langer Lümmel.
Gut genug für den Ämterschimmel.
Gut genug für die alten Karrieren –
als ob die heute noch notwendig wären!

Türen auf und Fenster auf!
Lege deine Hand darauf,
lieber Herr Haenisch, und zeige den Jungen,
wie die alten Griechen sungen –
aber ohne die Philologie
und ohne die Kriegervereinsmelodie!

Wer die Jugend hat, hat das Land.
Unsre Kinder wachsen uns aus der Hand.
Und eh wir uns recht umgesehn,
im Handumdrehn,
sind durch die Schulen im Süden und Norden
aus ihnen rechte Spießbürger geworden.

aus: Werke und Briefe: 1919, S. 288-290. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1398-1400 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 131-132) (c) Rowohlt Verlag

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Gachmuret feat. Der Hausheilige & Kollegen – live

Wem es im März nicht vergönnt war, der Lesung aus Texten des Hausheiligen beizuwohnen oder wem es so gut gefallen hat, daß eine Wiederholung wünschenswert wäre, hat nun die Gelegenheit dazu, mir erneut zu lauschen.
Im Programm des diesjährigen Sachsen-Anhalt-Tages, der in diesem Jahr in Weißenfels stattfindet, gibt es den Programmpunkt „Stille Schätze“, mit dem ein Kontrapunkt zum Volksfesttrubel des übrigen Programms gesetzt werden soll.

Am 21. August zwischen 12 und 13 Uhr werde ich also im Novalis-Pavillon zu erleben sein.

Die Gästeliste ist noch nicht endgültig, zugesagt haben aber neben dem Hausheiligen dieses Blogs bereits Alexander Sergejewitsch Puschkin, Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg und Johann Christoph Friedrich von Schiller. Weitere Gäste sind geladen, haben aber ihre Teilnahme noch nicht bestätigt.

Für alle, die nicht ortskundig sind, hier eine Anfahrtsskizze.

Wir sehen uns dann im August. 😉

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Money makes the World go round

Nach meiner Ankunft in Lübeck und vollzogener Menschwerdung führte mich mein erster Weg in den nahgelegenen Discounter zwecks Vorratsbeschaffung. An der Kasse spielte sich dann folgender Dialog ab:

„Guten Tag.“
„Guten Tag.“
„Dreiundzwanzigneunundzwanzig.“
„Bitte schön.“ (reiche EC-Karte herüber)
„…“
„Vielen Dank.“ (erhalte EC-Karte zurück)
„…“
„Auf Wiedersehen.“
„…“ (Kassiererin ist bereits mit der Erfassung der Artikel der nächsten Kundin beschäftigt)

Das bemerkenswerteste für mich dabei war, daß ich mich nicht im Geringsten unhöflich behandelt fühlte. Bizarr fand ich allerdings, daß ich Dialoge dieser Art eher von der anderen Seite der Theke kenne. Wir haben uns inzwischen ein erstaunliches Vokabular an Wörtern und Phrasen zugelegt, die den Bezahlvorgang begleiten.
Ein erstaunlicher Aufwand, der da betrieben wird, um zu verschleiern, worum es wirklich geht:

BGB § 433 Vertragstypische Pflichten beim Kaufvertrag
(1) Durch den Kaufvertrag wird der Verkäufer einer Sache verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen. Der Verkäufer hat dem Käufer die Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen.
(2) Der Käufer ist verpflichtet, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen und die gekaufte Sache abzunehmen.

Oder, wie es bei Cabaret heißt: Money makes the world go round.

Es ist dies vielleicht eine der letzten Bastionen des stationären Handels, den Käufer nahezu vollständig vergessen zu lassen, daß es sich um einen reinen Geschäftsakt handelt, wenn er etwas kauft. Die Onlineshops holen da aber beständig auf – nichts anderes steckt schließlich hinter Konzepten wie dem „1-Click-Kauf“ bei amazon.de. Es wird also nur eine Frage der Zeit sein, bis wir auch dort nur noch mit Mühe bemerken werden, daß wir gerade Geld ausgeben.

Um so wohltuender also, wenn man gelegentlich darauf hingewiesen wird, was wirklich relevant ist („dreiundzwanzigneunundzwanzig“ eben) und daß es keineswegs unhöflich ist, wenn Bezahlen nicht von ausschweifenden Scheingesprächen begleitet wird. Sondern einfach nur sachlich.

Und, was hat der Hausheilige anzumerken? Der hebt darauf ab, daß wir nicht nur an der Kasse seltsam miteinander reden:

Die Alltagssprache ist ein Urwald – überwuchert vom Schlinggewächs der Füllsel und Füllwörter. Von dem ausklingenden »nicht wahr?« (sprich: »nicha?«) wollen wir gar nicht reden. Auch nicht davon, daß: »Bitte die Streichhölzer!« eine bare Unmöglichkeit ist, ein Chimborasso an Unhöflichkeit. Es heißt natürlich: »Ach bitte, sein Sie doch mal so gut, mir eben mal die Streichhölzer, wenn Sie so freundlich sein wollen? Danke sehr. Bitte sehr. Danke sehr!« – so heißt das.

aus: Man sollte mal… in: Werke und Briefe: 1927, S. 292. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 5014 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 5, S. 143)

Gachmuret feat. Der Hausheilige – revisited

Wie hier und in diversen sozialen Netzwerken on- und offline vollumfänglich beworben, fand vor neun Tagen die öffentliche Verlesung großartiger Werke des Hausheiligen statt. Für all jene in der geneigten Leserschaft, die an dieser kultischen Handlung, aus welch fadenscheinigen Gründen auch immer, meinten, nicht teilnehmen zu müssen, soll heute ein kurzer Rückblick gewährt werden. Das überaus aparte Fürstenhaus in Weißenfels, dessen Räumlichkeiten wenn nicht zur Heiligenverehrung, dann doch zu anderen rituellen Handlungen gerne genutzt werden, bot eine durchaus angemessene Kulisse. Da es schwierig ist, die Atmosphäre eines solchen Ereignisses auch nur annähernd adäquat zu beschreiben, sollen einige ausgewählter Bilder genügen, um kurz einige Eindrücke zu vermitteln. Hier sehen wir den Hohepriester bei den letzten Vorbesprechungen zum Ablauf der Zeremonie:

Auf dem Altar aufgebaut waren folgende Devotionalien (freilich nicht unbedingt in den hier verlinkten Ausgaben):
Tucholsky: Schloß Gripsholm
Jacobsohn: Briefe an Kurt Tucholsky
Tucholsky: Panter, Tiger & Co.
Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles
Hepp: Kurt Tucholsky. Biographische Annäherungen
sowie, als Textgrundlage, Tucholsky: Gesammelte Werke

Der Hohepriester erwartet mit der gebotenen Strenge die Anhänger und die zu Bekehrenden. Die in vielen kultischen Zusammenhängen weltweit verbreiteten mehrarmigen Leuchter finden auch hier gebührenden Einsatz:

Ebenfalls ein Klassiker bei Zeremonien: Wasser. Und natürlich die exklusive Verwendung durch den mit der Ausführung der kultischen Handlungen Beauftragten. Distanz zwischen Künstler und Publikum, you know?

Neugewonnene Anhänger strömen mit geöffneten Brieftaschen zum Altar. Dem Ziel, Anführer einer charismatischen Religionsgemeinschaft zu werden, war ich nie näher:

Alles in allem: Ein voller Erfolg. Anregende Gespräche über Deutungen und Textauswahl ergaben sich aber erst im direkten Kontakt. Coram publico wollte keiner sprechen…

Und zum Abschluß noch die Textliste zum Nachlesen:
I An das Publikum (1931)
II Frauen von Freunden (1925)
III Jemand besucht etwas mit seinem Kind (1925)
IV Was machen die Leute da oben eigentlich? (1930)
V Wo bleiben Deine Steuern? (1926)
VI Kleine Begebenheit (1921)
VII Ein Ehepaar erzählt einen Witz (1931)
VIII Moment beim Lesen (1932)
IX Rosen auf den Weg gestreut (1931)
X Gruß nach vorn (1926)
XI Abends nach sechs (1924)
Da capo:
Augen in der Großstadt (1930)
Das Ideal (1927)
Frauen sind eitel. Männer? Nie-! (1928)

Und ganz zum Schluß noch eine Devotionalie zum Ausdrucken, Vergrößern und Einrahmen:

Meinen Programmzettel

Grießbreifresser

Inwieweit im Kompositum „Qualitätsmedien“ tatsächlich zwei sinntragende Nomina verbunden werden, gehört, insbesondere im Netz der Netze, zu den derzeit heiß diskutierten Themen.
Herr Kaliban, auf dessen Beitrag ich im heutigen Fremdcontentbeitrag mal verweisen möchte, bringt die Desillusionierung des kritischen Lesers gewohnt pointiert zum Ausdruck. Möglicherweise bricht den Medienhäusern hier tatsächlich eine komplette Zielgruppe weg, die sich inzwischen Informationen aus anderen Quellen holt. Möglicherweise mühsamer, aber den aufmerksamen Geist befriedigender.

Einen Punkt sehe ich jedoch weiterhin viel zu wenig berücksichtigt. Bei allen kritisierten Medien handelt es sich um Wirtschaftsunternehmen. Daß die sinnentleerte Klickstrecken basteln oder Themen zu Themen machen, die es nicht wert wären und zudem auch noch voneinander abschreiben, weil mit dieser Methode Geld zu verdienen ist, dann, mit Verlaub, muß auch gefragt werden: Was sagt das eigentlich über das Publikum?

Der Hausheilige hätte da eine Antwort:

An das Publikum

O hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: »Das Publikum will es so!«
Jeder Filmfritze sagt: »Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!«
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
»Gute Bücher gehn eben nicht!«
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte . . .
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

Ja, dann . . .
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser -?
Ja, dann . . .
Ja, dann verdienst dus nicht besser.

in: Werke und Briefe: 1931, S. 513. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8493f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 237f.) (c) Rowohlt Verlag

Keinen Cent und keinen Mann

Wie in diesem Blog bereits erwähnt, spielte die tageszeitung eine wesentliche Rolle in meiner politischen Sozialisation.
Meine persönliche Abneigung gegen den SpringerVerlag mag also darin begründet liegen. Daher habe ich auch stets versucht, mich zu dessen Produkten nicht zu äußern, bin ich mir schließlich meiner Parteilichkeit durchaus bewußt. Was sich allerdings in den letzten Tagen und Wochen in deren auflagenstärkstem Blatt abspielte, ist derart haaresträubend, daß ich doch einmal ein paar Worte dazu verlieren muß.
Beziehungsweise auf die Worte anderer dazu verweisen möchte, denn wieder einmal hänge ich der Debatte im Netz etwas hinterher (die geneigte Leserschaft kennt das ja schon, so von wegen Pulverdampf und klare Sicht) – es haben sich also bereits einige sehr überzeugend geäußert.

Zunächst einmal Lukas Heinser auf bildblog.de, der den vorläufigen Endpunkt der Entwicklung zum Anlaß nimmt, die typische Art der Bild-Desinformation aufzudröseln.

Dann einen bemerkenswerten Beitrag von Michael Pantelius auf print-wuergt.de, der sachlich und ruhig, aber durchaus nicht emotionsfrei die jüngste Hetzkampagne und ihre Wirkung beschreibt.

Und schließlich noch den dazu passenden Beitrag bei ZAPP, bei dem das indiskutable sogenannte Nachrichtenmagazin „FOCUS“ sich in die Springer-Riege einreiht.

Ich bin mir vollkommen im Klaren darüber, daß die „Bild“ nicht alles ist, was bei Springer publiziert wird. Aber es tut mir Leid, da können die in der „Welt kompakt“ noch so viele Tweets abdrucken und sich in der „Welt“ selber noch so viel Mühe im Feuilleton geben: Für einen Verlag, der in seinen Publikationen eine solche Hetze betreibt, ist in meinem Medienbudget kein Platz.

Warum noch immer Millionen die „Bild“ kaufen? Wo das doch alles seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten bekannt ist? (Wallraff, Böll, anyone?)
Ich weiß es nicht. Und ich verstehe es auch nicht (es sei denn, diese Erkenntnis stimmt).
Der Hausheilige versteht es auch nicht:

Die Presse. Ihr Glaube an ihre Presse ist bewundernswert. An dieselbe Presse, die sie vier Jahre lang mitbelogen hat; man müßte glauben, ihr Vertrauen wäre wankend geworden durch die Ereignisse, die so gar nicht mit den Leitartikeln übereinstimmten.
Nichts dergleichen. Sie schwören auf ihr Blatt.
Rührend ihre fingerfertige Geschicklichkeit, mit vorher feststehendem Resultat Denkarbeit zu leisten. Man beweist sich ja nur das, was man glauben will – und die abenteuerlichsten Windungen dünken sie gut,
wenn sie zum gelobten Land der Verdienstmöglichkeiten führen.

aus: Eindrücke von einer Reise. in: Werke und Briefe: 1919, S. 399. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1509 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 177) (c) Rowohlt Verlag

P.S. Ob also dieser Empfehlung eine weitere folgen wird, wage ich zu bezweifeln.

Real Life is overrated.

Nicht erst seit dem Feuilleton-Skandal um Frau Hegemann scheint es arge Probleme zu geben, Künstler und Kunstwerk auseinander zu halten. Es mag ja sein, daß feinsinnige literaturwissenschaftliche Analysen das eine oder andere über den Autor anhand seines Werkes zu Tage fördern können – das ändert aber nichts an der prinzipiellen Differenz zwischen der Wirklichkeit des Kunstwerkes und der des Künstlers.
Es ist für die Beurteilung von „Emile“ völlig unerheblich, daß dessen Autor seine Kinder nicht selbst aufgezogen hat. Über die Gültigkeit von Rousseaus Überlegungen zur Pädagogik sagt das überhaupt nichts aus.
Es ist damit auch egal, ob eine 17jährige Koks im Berghain konsumiert hat, nur weil sie einen Roman schreibt, in dem ihre Protagonistin das tut.
Kurz:
Ein Kunstwerk muß zunächst einmal für sich bestehen. Entweder es berührt mich oder es berührt mich halt nicht. Der Lebenslauf des Künstlers spielt dabei keine Rolle.
Ich könnte jetzt noch einen langen Sermon zu diesem Thema schreiben, in dem ich mich wahrscheinlich mehrfach wiederhole und dutzende Male verheddern würde, ehe mein Kopf übermüdet auf die Tastatur knallt und der Beitrag mit eaghireauogb endet.*
Oder aber ich überlasse den Rest dieses Beitrages dem Hausheiligen und mache Feierabend für heute:

Die arme Frau

Mein Mann? mein dicker Mann, der Dichter?
Du lieber Gott, da seid mir still!
Ein Don Juan? Ein braver, schlichter
Bourgeois ? wie Gott ihn haben will.

Da steht in seinen schmalen Büchern,
wieviele Frauen er geküßt;
von seidenen Haaren, seidenen Tüchern,
Begehren, Kitzel, Brunst, Gelüst . . .

Liebwerte Schwestern, laßt die Briefe,
den anonymen Veilchenstrauß!
Es könnt ihn stören, wenn er schliefe.
Denn meist ruht sich der Dicke aus.

Und faul und fett und so gefräßig
ist er und immer indigniert.
Und dabei gluckert er unmäßig
vom Rotwein, den er temperiert.

Ich sah euch wilder und erpichter
von Tag zu Tag ? ach! laßt das sein!
Mein Mann? mein dicker Mann, der Dichter?
In Büchern: ja.
Im Leben: nein.

Und hier nochmal rezitiert von Frau Annekathrin Bürger:

Die arme Frau. in: Werke und Briefe: 1918. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 1095f.
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 344f.) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

*Ich plane mit diesem Beitrag endlich ein Google-Top-Ranking zu erzielen. Sollte klappen, bisher liefert Google keinen Treffer für das Suchwort „eaghireauogb“

Paprika im März

Ich hatte soeben ein bemerkenswertes Erlebnis im Discounter meiner Wahl. Die junge Dame, die vor mir bezahlte, tat ihr Entsetzen darüber Kund, daß Gemüse derzeit ja unglaublich teuer sei, der Paprika zum Beispiel – und dann sehe der noch nicht einmal gut aus. Im Winter sei das ja verständlich, aber nun werde es doch Frühling.
Mein spontaner Impuls war, ihr zuzurufen: „Es ist Anfang März und Du kannst jegliche Obst- und Gemüsesorte kaufen. Geht´s noch?“, unterließ das dann aber, hatte ich doch das Haus überhaupt nur widerwillig verlassen und fehlte mir wahrlich der Antrieb zu einer vermutlich aussichtslosen Debatte.
Allerdings habe ich mich schon lange nicht mehr so alt gefühlt, ich hatte wirklich den Eindruck, irgendwie einer anderen Generation anzugehören, weil es mir nicht selbstverständlich erschien, am 2. März abends um halb acht Paprika kaufen zu können, geschweige denn zu erwarten, um diese Uhrzeit noch eine große Auswahl an frischen, makellosen Exemplaren zum Schnäppchenpreis vorzufinden.
Ich meine, ja, es ist selbstverständlich möglich, aber haben wir wirklich vergessen, welchen Aufwand wir betreiben, damit das überhaupt geht? Haben wir wirklich vergessen, daß das keine Selbstverständlichkeit ist?

Wir befinden uns in der Fastenzeit – und die liegt nicht zufällig in der Zeit des ausgehenden Winters. Es ist nämlich die Zeit, in der die Vorräte zur Neige gehen, mit denen der Winter bestritten werden muß, gleichzeitig aber noch keine Möglichkeit besteht, irgendwas zu ernten, pflücken oder zu sammeln. Weil nämlich noch nichts wächst.
Jedenfalls war das so vor der Erfindung des logistischen Mammutprojekts, das hinter der täglich frischen Belieferung unserer Kaufhallen steckt. Und die Frage darf erlaubt sein, ob das nicht überhaupt Wahnsinn ist.

Wir leben hier in einer Welt, die glaubt, sich von den natürlichen Umweltbedingungen unabhängig gemacht zu haben. Was noch nicht einmal völlig falsch ist, wir begehen nur scheinbar allmählich den Fehler, sie zu ignorieren. Diese Hybris war hier ja schon einmal Thema. Die Vielfalt im Lebensmittelregal scheint zu suggerieren, daß dies zwangsläufig und immer so sein müsse – ganz egal, welche Jahreszeit herrscht, ob es regnet oder schneit, die Erde bebt oder ein Orkan durchzieht. Nein, dem ist nicht so. Ganz im Gegenteil, es handelt sich hier um ein komplexes System, dessen Teile alle reibungslos funktionieren müssen, damit dem so ist. Auch wenn wir schon recht weit sind, was das Austricksen angeht.
Es ist gar nicht so lange her, daß das täglich Brot für jeden ein anzustrebendes Ziel unserer Gesellschaft war – heute schimpfen wir über die Paprikapreise im Winter!

Die Fastenzeit hat ihre ursprüngliche Funktion als religiöse Überhöhung eines natürlichen Mangelzustandes verloren – was auch ihre geringe Popularität erklären könnte, der Mensch verzichtet nicht gern, wenn er nicht muß. Aber es scheint mir doch angebracht, einmal inne zu halten und zu überlegen, was wirklich notwendig ist – und was wir wirklich brauchen. Werden wir verhungern, wenn wir eingelagerte Kartoffeln und Äpfel essen, statt sie aus Ägypten und Italien heranzuschaffen? Wird unsere Produktivität sinken, wenn die Erdbeeren nicht frisch eingeflogen werden, sondern für ein paar Wochen aus dem Einweckglas stammen? Was ist das überhaupt für eine Welt, in der es billiger ist, Kartoffeln um die halbe Welt zu schicken, als sie vom Erzeuger dreißig Kilometer entfernt zu holen? Ticken wir noch richtig?

Ja, ich finde es höchst angenehm, jederzeit nahezu jedes Nahrungsmittel meiner Wahl ohne größeren Aufwand kaufen zu können. Und ja, ich würde darauf höchst ungern verzichten wollen. Aber, verdammt nochmal, das ist Luxus. Und wenn dann die Paprika fünfzig Cent mehr kosten, obwohl doch in wenigen Wochen Frühling ist, dann sollte das eher ein Moment sein, sich in Erinnerung zu rufen, welch irrsinnigen Aufwand wir für diese fünfzig Cent betreiben.

Meine Großeltern sind noch im zweiten Weltkrieg aufgewachsen. Ich weiß, daß sie froh sind, daß das täglich Brot heute eine Selbstverständlichkeit ist. Wir sollten endlich beginnen, von der Lebenserfahrung früherer Generationen zu lernen, um zu begreifen, welchen Luxus es bedeutet, sich am 2. März vor einer unterbezahlten Kassiererin aufbauen und über die Paprikapreise schimpfen zu können – aus den täglichen Nachrichten scheinen wir es ja nicht zu begreifen. Und so verständlich es ist, dem Fernsehen nicht zu glauben, wenigstens den eigenen Vorfahren sollten wir Glauben schenken. Oder ihnen wenigstens mal zuhören.

Oder dem Hausheiligen:

Der Mann für Ruhe und Ordnung fragt entrüstet, warum denn diese Leute so viele Kinder hätten. Diese Kinder des niedersten Proletariats verdanken ihre Existenz, so brutal das klingt, der Wohnungs- und der Bettennot, dem Mangel an Heizmaterial und der Unbeholfenheit der Frauen, sich gegen den Kindersegen zu wehren (was ein überholtes Strafgesetz heute noch verbietet). Diese Kinder leben, weil . . .
Es gibt ein bitteres Wort einer alten Zeitungsverkäuferin, die auf die Frage, warum sie denn in ihrer Armut noch zehn Kinder in die Welt gesetzt habe, geantwortet hat: »Die reichen Leute jehen abends ins Theater . . . «
Da leben Kinder. Wir haben Kinder gesehen, Mädchen von sechs und sieben Jahren, die waren 90 Zentimeter hoch, und andere, die den ganzen Tag nicht auf die Straße gehen konnten, weil sie mit Ausnahme eines kleinen Kittels ganz nackt waren. Der Ernährungszustand ist durchweg trostlos: die Kinder leben von Brot und Margarine und Kohl. Ein Mädchen schlief zwei Meter von einer Kellertür entfernt neben Lumpen auf dem Steinfußboden. Die Tür schloß nicht, sie ließ einen handbreiten Spalt frei. Daß ein Kind in dieser Proletarierwelt im Bett allein schläft, kommt kaum vor. »Die sittliche Verderbnis der unteren Stände« – man sollte jedem Pastor, der so etwas in den Mund nimmt, die Bibel um die Ohren hauen.
Mag er hingehen und sehen: die Wohnungen, in die kein kaiserliches Marstallpferd hereingegangen wäre, diese muffigen, schwarzdunklen Kellerlöcher mit ein paar alten Bettstellen darin, wo Kinder schlafen, sollte er sehen!
Und das Allerschlimmste an diesen Dingen ist: daß es sich hier nicht nur um Arbeitslose handelt, sondern um Familien, deren Erwerber eine kleine Stellung haben und verdienen. Und es nützt ihnen gar nichts.
Wer früher in die Fabrik ging, zählte kaum zum Lumpenproletariat.
Und heute?

*

Und heute?

*aus: Kinderhölle in Berlin. in: Werke und Briefe: 1920. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 9418f. (vgl. Tucholsky-DT, S. 244-245) (c) Rowohlt Verlag
http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

P.S. Für den Gegenwert der Schuhe, die die junge Dame, deren Kaufentscheidung dann auf Partytomaten fiel, anhatte, hätte sie problemlos sämtliche Paprikavorräte des Ladens kaufen können.

Das Buch zum Sonntag (34)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Franz Kafka: Der Proceß

Was in meinen Augen für viele sogenannte Klassiker gilt, die das Pech hatten, Schullektüre zu werden, gilt besonders für Kafka.
Vergeßt literarwissenschaftliche Diskurse, schenkt euch gelahrte Interpretationen: „Zurück zum Lesen!“ lautet die Devise.
Fragen nach literaturhistorischer Bedeutung, intertextuellen Bezügen oder konstruktivem Rahmen sind gewiß nicht unwichtig und ich möchte auch intellektuelles Vergnügen bei der Bearbeitung solcher Themenkomplexe nicht verhehlen, doch ist es wirklich das, was Lesen zum Vergnügen macht? Wohl kaum.
Nun also Kafka.
Den „Proceß“ habe ich erst recht spät gelesen, so mit Mitte Zwanzig und die Lektüre wirkt noch immer nach. Erzählt wird die Geschichte von Josef K., der eines Tages ohne Vorwarnung und ohne Begründung verhaftet wird.
Diese Verhaftung hat zunächst keine offensichtlichen Folgen, er bekommt Termine, zu denen er erscheinen muß, kann aber ansonsten sein Leben weiterleben.
Was nun folgt, ist die großartige Beschreibung eines Menschen, der sich gezeichnet fühlt, unsicher im Umgang mit der Umwelt wird, beginnt, Fehler zu machen – kurz: der beginnt, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren.
Die Beschreibung des Gefühls der permanenten Überwachung, die für Josef K. mit seiner Verhaftung beginnt, die unbestimmte, nicht faßbare, aber doch konkrete Bedrohung, die mit seinem Zustand einhergeht, das finde ich sensationell.
Und im Übrigen hochaktuell in einer Zeit, in der die Bürger dieses Staates unter Generalverdacht gestellt werden, in denen jede ihrer Kommunkationshandlungen aufgezeichnet und gespeichert werden, in der erfaßt wird, wann sie krank werden und wann sie gewagt haben zu streiken, in der festgelegt wird, welche Inhalte sie wahrnehmen dürfen und welche nicht.
Es könnte dem einem oder anderen, der die Unruhe nicht versteht, die weite Teile der Bevölkerung angesichts diese zunehmenden Überwachung erfaßt hat, helfen, mal dieses Buch zu lesen.
Schauen wir gleich mal an den Anfang des Buches, Josef K. erwacht und stellt fest, daß etwas anders ist: Das Frühstück, sonst pünktlich um acht da, kam nicht – stattdessen erscheint auf sein Läuten hin ein ihm unbekannter Mann:

Er war schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das ähnlich den Reiseanzügen mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen , ohne daß man sich darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. „Wer sind Sie?“ fragte K. und daß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen und sagte bloß seinerseits: „Sie haben geläutet?“ „Anna soll mir das Frühstück bringen“, sagte K. und versuchte zunächst stillschweigend durch Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer der Mann eigentlich war. Aber dieser setzte sich nicht allzulange seinen Blicken aus, sondern wandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jemandem der offenbar knapp hinter der Tür stand, zu sagen: „Er will, daß Anna ihm das Frühstück bringt.“ Ein kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem Klang nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren. Trotzdem* der fremde Mann dadurch nichts erfahren haben konnte, was er nicht schon früher gewußt hätte, sagte er nun doch zu K. im Tone einer Meldung: „Es ist unmöglich.“ „Das wäre neu“, sagte K., sprang aus dem Bett und zog rasch seine Hosen an. „Ich will doch sehn, was für Leute im Nebenzimmer sind und wie Frau Grubach diese Störung mir gegenüber verantworten wird.“ Es fiel ihm zwar gleich ein, daß er das nicht hätte laut sagen müssen und daß er dadurch gewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden anerkannte, aber es schien ihm jetzt nicht wichtig.

(S. 9f.)**

Es folgt eine Szene, die derart dicht und gelungen ist, daß es mir nahezu unmöglich scheint, sie überzeugend einzufangen. Da mir diese Einschätzung aber auf den ganzen Roman zuzutreffen scheint, versuche ich es mal mit ein paar kurzen Ausrissen:

„Nein“, sagte der Mann beim Fenster, warf das Buch auf ein Tischchen und stand auf. „Sie dürfen nicht weggehen, sie sind ja gefangen.“ „Es sieht so aus“, sagte K. „Und warum denn?“ fragte er dann. „Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen. Gehn Sie in Ihr Zimmer und warten Sie. Das Verfahren ist nun einmal eingeleitet und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich gehe über meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede. Aber ich hoffe, es hört es niemand sonst als Franz und der ist selbst gegen alle Vorschrift freundlich zu Ihnen. Wenn Sie auch weiterhin so viel Glück haben, wie bei der Bestimmung Ihrer Wächter, können Sie zuversichtlich sein.“ K. wollte sich setzen, aber nun sah er, daß im ganzen Zimmer keine Sitzgelegenheit war, außer dem Sessel beim Fenster. „Sie werden nich einsehn, wie wahr das alles ist.“, sagte Franz und gieng gleichzeitig mit dem anderen Mann auf ihn zu.[…]
Was waren denn das für Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen?
Er neigte stets dazu, alles möglichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimmsten zu glauben, keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen, selbst wenn alles drohte. Hier aber erschien ihm das nicht richtig […]
„Sie sind doch verhaftet.“ „Wie kann ich denn verhaftet sein? Und gar auf diese Weise?“ „Nun fangen Sie also schon wieder an“, sagte der Wächter und tauchte ein Butterbrot ins Honigfäßchen. „Solche Fragen beantworten wir nicht.“ „Sie werden Sie beantworten müssen“, sagte K. „Hier sind meine Legitimationspapiere, zeigen Sie mir jetzt die Ihrigen und vor allem den Verhaftbefehl.“
„Du lieber Himmel!“ sagte der Wächter

(S. 11ff.)**

Und jetzt: Aufpassen!

„Wir sind niedrige Angestellte, die sich in einem Legitimationspapier kaum auskennen und die mit Ihrer Sache nichts anderes zu tun haben, als daß sie zehn Stunden täglich bei Ihnen Wache halten und dafür bezahlt werden. Das ist alles, was wir sind, trotzdem aber sind wir fähig einzusehen, daß die hohen Behörden, in deren Dienst wir stehn, ehe sie eine solche Verhaftung verfügen, sich sehr genau über die Gründe der Verhaftung und die Person des Verhafteten unterrichten. Es gibt darin keinen Irrtum. Unsere Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade,m sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird wie es im Gesetz heißt von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken. Das ist Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?“ „Dieses Gesetz kenne ich nicht“, sagte K. „Desto schlimmer für sie“, sagte der Wächter.

(S. 14)**

Und es wird Josef K. noch einige Male ähnlich ergehen. Niemand scheint zuständig, keiner in der Lage, ihm zu sagen, wessen er beschuldigt wird – und doch muß er sich verteidigen, muß er sich korrekt, ja sogar besser verhalten. Kurz: Er muß ein Spiel spielen, dessen Regeln er nicht ansatzweise durchschaut. Die Assoziationen mit Erlebnissen aus dem eigenen Leben überlasse ich hier mal der geneigten Leserschaft.
Ich sagte bereits an anderer Stelle, daß ich ein besonderes Leseinteresse für zerbrechende, selbstzerstörerische Figuren habe. Und wie Josef K. hier Stück für Stück mürbe gemacht wird, der Selbstzweifel Besitz von ihm ergreift, wie eine durch und durch ihm gegenüber Wohlwollen bekundende Maschinerie (Seien Sie doch vernünftig, Wir meinen es nur gut mit Ihnen, Es ist nur zu Ihrem Besten) unerbittlich weiterläuft – und das alles in einem ruhigen Tonfall erzählt, der den Lesenden geradezu ratlos macht. Ich finde das derart gut, mir fehlen die Worte.
„Der Proceß“ ist kein schönes Buch, nichts, was man an einem heimeligen Winterabend am Kamin liest. Aber die Winterabende werden ja auch allmählich knapp, es wird Zeit, mal wieder etwas aufwühlendes zu lesen. Nur wenige Bücher meiner Lesebiographie haben einen derart starken Eindruck hinterlassen wie dieses Werk Kafkas.

Und da mir die Worte fehlen, dieses Werk angemessen zu würdigen, überlasse ich das dem Hausheiligen:

Wenn ich das unheimlichste und stärkste Buch der letzten Jahre: Franz Kafkas ›Prozeߋ (im Verlag Die Schmiede zu Berlin) aus der Hand lege, so kann ich mir nur schwer über die Ursachen Erschütterung Rechenschaft ablegen. Wer spricht? Was istdas?

aus: Der Prozeß. in: Werke und Briefe: 1926, S. 160. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 4242 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 4, S. 370) (c)Rowohlt Verlag

So der Beginn seiner mehrseitigen Rezension, die folgendermaßen endet:

So etwas ist es. Ein Gott formt eine Welt um, setzt sie neu zusammen, ein Herz steht am Himmel und scheint nicht, sondern klopft; ein Fetisch wandelt, eine Apparatur wird lebendig, nur, weil sie da ist, die Frage Warum? ist so töricht, beinah so töricht wie in der realen Welt.
Deren Teile sind da – aber sie sind so gesehen, wie der Patient kurz vor der Operation die Instrumente des Arztes sieht: ganz scharf, überdeutlich, durchaus materiell – aber hinter den blitzenden Stücken ist noch etwas andres, die Angst brüllt der Materie in alle Poren, erbarmungslos steht das Operationsbett, hab doch Mitleid! sagt der Kranke, auch du! Das Bett ist so fremd, aber es ist doch im Bunde.
Ein solcher Wille begründet Sekten und Religionen – Kafka hat Bücher geschrieben, einige wenige, unerreichbare, niemals auszulesende Bücher. Hätte sich der Schöpfer anders besonnen, und wäre dieser in Asien geboren: Millionen klammerten sich an seine Worte und grübelten über sie, ihr Leben lang.
Wir dürfen lesen, staunen, danken.

aus: Der Prozeß. in: Werke und Briefe: 1926, S. 168. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 4250 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 4, S. 374) (c)Rowohlt Verlag

Natürlich soll auch heute nicht der Verweis auf die

lieferbaren Ausgaben

nicht fehlen.

*Ist das mein verkorkstes Stilempfinden oder gehört da nicht doch besser ein „obwohl“ hin?
**zitiert nach: Kafka: Der Proceß. S. Fischer Frankfurt/Main, 2006 (auf Textgrundlage der Kritischen Ausgabe)

Dresden

Ich wollte ursprünglich nichts zu Dresden schreiben, war ich doch nicht selbst dabei.
Aber die Presseschau eben auf mdr.info hat mich dermaßen geärgert, daß ich doch ein paar Worte verlieren muss.
Ja, es war gut und richtig, daß es hochoffizielle Veranstaltungen gab, an denen sich Menschen beteiligen konnten, denen aus subjektiv nachvollziehbaren Gründen die Sache in der Neustadt zu heiß war.
Ja, es war gut und richtig, daß endlich auch Spitzenpolitiker der CDU in einer Reihe mit PDS-Politikern standen.
ABER:
Den Marsch haben andere verhindert.
Liest man heutige Tageszeitungen, erhält man den Eindruck, als seien die Nazis durch magische Kräfte von einer Menschenkette auf der anderen Elbseite aufgehalten worden.
Das ist einfach nicht richtig.
Die Nazis hätte das genauso wenig gekümmert, wie sie Kerzen und BitteBitte sonst auch nicht kümmerten.
NEIN:
Verhindert haben diesen Marsch tausende mutige Menschen, die sich den Nazis in den Weg gestellt haben. Ich weiß nicht, wesen grenzdebile Idee es war, die Nazis in die Neustadt zu schicken und bin heilfroh, daß genug Menschen da waren, um sie am Bahnhof festzuhalten. Was bei einem tatsächlichen Marsch durch dieses Stadtviertel, um das sich, wie classless kulla schreibt, zahllose ihrer Gewaltphantasien drehen passiert wäre, mag ich mir nicht ausmalen.
Kurz:
Verhindert haben erstmalig seit 12 Jahren diesen Aufmarsch diejenigen, denen vorher Steine verschiedenster Art in den Weg gelegt wurden. Und dafür sollten wir dankbar sein.

Zum Abschluß noch ein paar Hinweise zum Weiterlesen:

Sehr ergiebig ist die Zusammenfassung und Linksammlung bei Spreeblick.

Dann die immer zu empfehlende Julia Seeliger mit dem Rückblick auf einige Live-Ticker. Und mit einem Appell an Frau Orosz.

Und ergänzend der Bericht von classless Kulla, dessen Schlußfolgerungen und Positionen ich nicht vollständig teilen kann – aber auch diese Position gehört dazu, will ich mich unglaubwürdig machen. 😉

Der Hausheilige hat zu dieser Problematik bekanntlich einiges zu sagen und ist hier auch schon ausführlich zu Wort gekommen. Heute mal ein Erfahrungsbericht:

Aber Deutsche, die so auf Deutschen herumhacken, wie das die Nazis in die deutsche Politik eingeführt haben (denn sie haben es getan und nicht die Kommunisten) so etwas hats nicht gegeben.
In Wiesbaden bin ich nach der Vorlesung an den Nazis vorbeigefahren; sie standen da und stießen ihren Original-Schlachtruf aus: »Huuu !« und sie warfen mit Steinen und alten Brocken und waren überhaupt furchtbar mutig. Ich war nämlich einer und sie waren eine Herde. Ich sah in ihre Augen: verhetzt, verdummt, verbrüllt . . . und keine Idee dahinter.
Jedem Pazifisten die Ehre abschneiden; hinter den Republikanern her sein wie die Wölfe; das politische Leben vergiften; Minister mit Personalstunk bekämpfen; Straßen durchbrüllen und Fensterscheiben zerschmeißen; nach einem mißglückten Putsch von nichts wissen und alles abschwören; vor Gericht kneifen . . . wie nennt man solche Leute?
Was die deutschen Frontsoldaten angeht: sie sind keine Schweine gewesen.

aus: Wer hat die Frontsoldaten »Schweine« genannt –? in: Werke und Briefe: 1930. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 7332 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 8, S. 64) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

Lenchenfrage

UPDATE, 15.02.2010 Der Beitrag hier bezieht sich ausschließlich auf die Plagiatsdebatte um Airen. Das schließt mitnichten aus, daß Helene Hegemann nicht woanders gestohlen hat. Dies muß vielmehr als erwiesen gelten. Ich habe mich seitdem auch etwas aus der Debatte augeklinkt, da sie inzwischen derart mäandert, daß es mir unmöglich ist, noch den Überblick zu behalten.
Erfreulicherweise allerdings scheint sie sich inzwischen auf die in meinen Augen drängende Frage nach Rolle und Qualität des deutschen Feuilletons zu verlagern.

UPDATE (2), 16.02.2010 Da gelegentlich in den Debatten die Frage auftauchte, ob hier das Lektorat nicht hätte bemerken müssen, daß es mindestens einen Plagiatsverdacht gibt (und die eindeutig mit „Nein“ zu beantworten ist), hierzu ein sehr lesenswertes Interview im Buchmarkt. Meine Lieblingstelle daraus ist übrigens: Denn wenn Biller ein Buch auf seine unnachahmliche Weise toll findet, lese ich das zumindest für mich als Warnung „Vorsicht: Könnte Kunst sein. Vielleicht aber auch nur ambitionierte Künstlichkeit.“

UPDATE (3), 24.02.2010Diesen Spaß kann ich der geneigten Leserschaft allerdings nicht vorenthalten. Durs Grünbein veröffentlichte einen Text zu Hegemanns Plagiat – zu dem es dann noch etwas zu ergänzen gab.

UPDATE (4), 01.04.2010Und noch einen letzten Nachschlag. Peter Michalzik kehrt in der FR mal die Scherben zusammen und versucht nachträglich doch noch so etwas wie Fakten in die Debatte einzubringen.

UPDATE (5), 04.05.2010Frau Hegemann antwortet in der ZEIT selbst auf ihre Kritiker.

In diesem Blog spielen Bücher eine nicht ganz unerhebliche Rolle. Und so kann auch ich es mir nicht versagen, mich auch hier zur Debatte um die Plagiatsvorwürfe gegen Helene Hegemann zu äußern.
Es sind da einige Aspekte, die ich höchst bemerkenswert finde.
Der erste betrifft die große Aufregung, die Deef Pirmasens mit seinem Blogbeitrag in der Internetgemeinde auslöste. Ich finde es erstaunlich, wie populär auf einmal das gute alte Urheberrecht wurde. Entgegen aller Beteuerungen behaupte ich, daß es keineswegs die Nichtnennung der Quelle „Airen“ war, die dort die Emotionen hochkochen ließ, sondern eher die Tatsache, daß da jemand Geld verdient. „Ein böser Zauberer ist der Neid.“* Man lese hierzu nur mal die Kommentare bei stern.de – so viel Haß, so viel Wut. Und das alles bei Leuten, die rein gar nichts damit zu tun haben. Im selben Artikel steht übrigens der bemerkenswerte Satz eines Piratensprechers, daß wildes Kopieren ohne Quellenangabe das bisherige Urheberrecht ad absurdum führe und man deshalb auf Kinder und Jugendliche entsprechend einwirken müsse.
Ahja. Die Piraten finden also – nein, Stopp, bei den Piraten gibt es ja keine Parteimeinung, es gibt immer nur Privatmeinungen Einzelner (Beispiel gefällig?) – ein Pirat findet also, daß es notwendig ist, das bisherige Urheberrecht zu erhalten. Sehr bemerkenswert. Ich hatte ja nach den bisherigen Positionen der Piraten (geistiges Eigentum jibbet nich, kreative Leistungen gehören der gesellschaft, nicht einzelnen etc.) eher mit einer Solidaritätsadresse für Frau Hegemann gerechnet. Hier stellt sich erneut die von den Piraten noch immer nicht klar beantwortete Frage zu einem der Kernpunkte ihres Programms: „Wie hältst Du es mit dem Urheberrecht, Jack?“
Weiterlesen „Lenchenfrage“

Gachmuret feat. Der Hausheilige – live

Zur Heiligenverehrung gehören stets auch öffentliche kultische Handlungen.
Bei Heiligen, die schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, gehört das rituelle Vortragen ebendieser Schriften zum üblichen Repertoire der zeremoniellen Anbetung.

Am 24. März 2010 werde ich dem Hausheiligen einen Abend widmen. Womit sich der geneigten Leserschaft die Gelegenheit ergibt, zur geneigten Hörerschaft* zu werden.
Um 19 Uhr im Fürstenhaus Weißenfels im Rahmen der Veranstaltungsreihe des Literaturkreises Novalis. Eintritt frei.

Für alle Ortsunkundigen hier der Eintrag bei Google Maps zur Orientierung.

Zur Einstimmung ein Kommentar des Hausheiligen zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in Sachen „Hartz IV“

Wo bleiben deine Steuern –?

Wenn einer keine Arbeit hat,
ist kein Geld da.
Wenn einer schuftet und wird nicht satt,
ist kein Geld da.

Aber für Reichswehroffiziere
und für andre hohe Tiere,
für Obereisenbahndirektionen
und schwarze Reichswehrformationen,
für den Heimatdienst in der Heimat Berlin
und für abgetakelte Monarchien –
dafür ist Geld da.

Für Krankenhaus und Arbeiterquartier
ist kein Geld da.
Für den IV. Klasse-Passagier
ist kein Geld da.

Aber für Wilhelms seidne Hosen,
für prinzliche Zigarettendosen,
für Kleinkaliberschützenvereine,
für Moltkezimmer und Ehrenhaine,
für höhere Justizsubalterne
und noch eine, noch eine Reichswehrkaserne –
dafür ist Geld da.

Wenn ein Kumpel Blut aus der Lunge spuckt,
ist kein Geld da.
Wenn der Schlafbursche bei den Wirten zuguckt,
ist kein Geld da.

Aber für Anschlußreisen nach Wien,
für die notleidenden Industrien
und für die Landwirtschaft, die hungert,
und für jeden Uniformierten, der lungert,
und für Marinekreuzer und Geistlichkeiten
und für tausend Überflüssigkeiten –
da gibts Zaster, Pinke, Moneten, Kies.
Von deinen Steuern.
Dafür ist Geld da.

aus: Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 4635 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 4, S. 538) (c) Rowohlt Verlag. http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

*(c) Joachim Deicke

In Memoriam Frank Böttcher

Rosen auf den Weg gestreut

Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!
Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!
Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!

Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: »Ja und Amen – aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!«
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.

Und schießen sie –: du lieber Himmel,
schätzt ihr das Leben so hoch ein?
Das ist ein Pazifisten-Fimmel!
Wer möchte nicht gern Opfer sein?
Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen . . .
Und verspürt ihr auch
in euerm Bauch
den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –:
Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,
küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft –!

in: Werke und Briefe: 1931. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8324-8325
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 162-163)

Ich verbinde diesen Text seit Jahren mit Frank Böttcher, der am 7. Februar 1997 in Magdeburg-Olvenstedt ermordet wurde.
Seinerzeit leitete ich das Büro der LandesSchülerVertretung in Halle und solange ich in dieser Position war, hing der Text des Hausheiligen samt Verweis auf das Geschehen auch dort. Andere brachten ihre Hilflosigkeit deutlicher zum Ausdruck.
Kästner meinte einmal über Tucholsky: „Ein kleiner dicker Berliner, der mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollte.“ Nicht jedem liegt der Pflasterstein als Ausdrucksmittel seiner politischen Überzeugung. Im Zweifel bin ich allerdings, ob ich ihn jederzeit für illegitim halten soll. Aber das führt hier und heute zu weit und weg vom Eigentlichen.

Denn wir sind immer noch keinen Schritt weiter. Weder seit 1997, noch seit 1931.
Denn welchen Weg auch immer wir gehen wollen, seien es Pflastersteine oder Schreibmaschinen, es bleibt dabei:

Deutschland! hast du eine Lammsgeduld!
Läßt dir heute nach diesem allen
Frechheit von Metzgergesellen gefallen?
Lern ihre eiserne Energie!
Die vergessen nie.
Die setzen ihren verdammten Willen
durch – im lauten und im stillen
Kampf, und sie denken nur an sich.
Deutschland! wach auf und besinne dich!

Nur einen Feind hast du deines Geschlechts!
Der Feind steht rechts!

aus: Preußische Presse. in: Werke und Briefe: 1919. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 1341-1342 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 109)

Väterchen Frost strikes back

Die „Wahrheit“-Redaktion der taz erfand dereinst das Verb „bosbachen“ zur Beschreibung des Sich-zu-allem-und-jedem-äußern. So verwundert es also nicht, daß Herr Bosbach natürlich auch was zum Wetter zu sagen hat:
Wir neigen zur Dramatisierung: Was heute Schnee-Chaos heißt, nannte man früher Winter.“ (zum Beispiel hier nachzulesen.)
Das hat mich ins Grübeln gebracht, was für eine Aussage von Bosbach schon allerhand ist.

Was ist passiert?

Ist es wirklich die versammelte Ignoranz und Unfähigkeit zuständiger Stellen, wie Jörg Kachelmann anmahnt (hier allerdings unbedingt mal in die Kommentare reinschauen)? Ist das ein völlig normaler Winter – nur wir hyperdramatisieren?

Ich glaube, ganz so einfach ist es nicht. Denn es sind ja Dörfer vollkommen zugeschneit. Es blieben Züge liegen, es gab massive Einschränkungen im Öffentlichen Personennahverkehr (Berlin mal ausgenommen, da liegt es nicht am Wetter. Die haben ja dort den alten Bahnslogan umgemünzt in: „Alle reden vom Wetter – Wir nicht. Wir fahren so oder so nicht.“) und viele Straßen waren nicht befahrbar.
Kurz: Es gab und gibt ja Einschränkungen. Warum aber sind das Probleme? Als ich letzten Sonntag an der Bushaltestelle wartete, meinte eine ältere Dame, daß bei diesen Witterungsbedingungen man nicht so genau auf den Fahrplan schauen sollte. Und wartete geduldig weiter, während in der Menge ringsum ein Rhababer-Crescendo aufwallte, je länger der blau-gelbe Motorkasten auf sich warten ließ. Der Barrikadenbau wurde aber durch rechtzeitiges Eintreffen des Busses gerade noch abgewendet.
Aber nochmal: Warum ist das ein Problem? Wieso wallt Zorn auf, wenn aus offenkundigen Gründen der Zug mal später kommt, warum ist es tagelange Berichterstattung wert, daß es schneien wird? Im Winter.

Meine spontane Antwort: Hybris.
Und zwar in mehrerer Hinsicht. Zum einen ist es Hybris, zu glauben, ein System zu beherrschen, dessen Teil wir sind. Es ist Hybris anzunehmen, alles müsse immer funktionieren. Es ist Hybris, zu verlangen, morgens um sechs müssten aber mal alle Straßen geräumt und alle Schienen gefegt sein – das könne man ja wohl für sein Steuergeld verlangen.
Zum anderen ist es Hybris, zu glauben, Winter finde nicht mehr statt, weil wir das gerne so hätten. Es ist Hybris, Züge so zu bauen, daß sie bei ein paar Grad unter Null am Kondenswasser scheitern – und zwar auf der einzigen Strecke, für die sie gebaut wurden. Es ist Hybris, Jahr für Jahr Stellen und Fuhrpark beim Winterdienst abzubauen, nur weil es halt ein paar milde Jahre gab. Es ist schlußendlich Hybris, zu glauben, die Welt funktioniere auf einmal völlig anders. Diesem irrsinnig komplexen System „Erde“, dessen Grundkonstanten wir derzeit bestenfalls erahnen, von „Wissen“ will ich gar nicht reden, sind unsere Hypes derart schnuppe, daß es für uns postmoderne Ich-Verliebten wohl viel zu schmerzhaft wäre, gestünden wir uns das ein.
Also machen wir den Bruce (ihr wißt schon) und sehen uns in unseren Grundfesten erschüttert, weil die Bahn nicht kommt, obwohl sie uns das doch so sehr versprochen hat?

Ich weiß nicht.

Selten ist eine Großstadt angenehmer als unter 20 cm Neuschnee. All der Lärm, all die Hektik, all das Achsowichtige, die ganze tägliche Betriebsamkeit – es ist nicht weg, aber ganz angenehm gedämpft. Auch auf die Gefahr hin, jetzt wie ein esoterisch verklärter Erweckungsprediger zu klingen: Aber es täte uns gut, das anzunehmen. Also anstatt über die verlorene Zeit an der Haltestelle zu schimpfen und das Blut in Wallung zu bringen, einfach ein Heißgetränk der Wahl mehr trinken, in Ruhe losgehen und hinnehmen, was nicht zu ändern ist. Der Bus kommt nicht früher und der Schnee fällt so oder so. Es gibt so viel in dieser Welt, wogegen anzukämpfen wäre oder worüber man sich echauffieren könnte – aber daß es im Winter schneit, ist nun wirklich das Letzte auf der Liste.

Gut, was bleibt noch zu sagen?
Zum einen: Allen Spöttern in Sachen Klimaerwärmung zum Trotz – regelmäßig kältere Winter hierzulande wären kein Gegenbeweis, sondern eine Ernst zu nehmende Bestätigung der Theorie. Mir fehlt das Know-how, um das zu überprüfen, aber die ersten sind der Meinung, unsere Heizung sei ausgefallen. Denn bedenkt: Wir leben auf dem Breitengrad Kanadas.

Sonst noch was?
Der Hausheilige hätte sicher einiges zur menschlichen Hybris zu sagen, ich möchte ihn aber doch lieber zum Winter kommentieren lassen, schon allein, weil es zeigt, daß sich viel weniger verändert, als wir glauben:

Und Winter? Es wird eine Art Schnee geliefert, der sich, wenn er die Erde nur von weitem sieht, sofort in Schmutz auflöst; wenn es kalt ist, ist es nicht richtig kalt sondern naßkalt, also naß . . .
Tritt man auf Eis, macht das Eis Knack und bekommt rissige Sprünge, so eine Qualität ist das! Manchmal ist Glatteis, dann sitzt der liebe Gott, der gute, alte Mann, in den Wattewolken und freut sich, daß die Leute der Länge lang hinschlagen . . . also, wenn sie denn werden kindisch . . .
kalt ist der Ostwind, kalt die Sonnenstrahlen, am kältesten die Zentralheizung – der Winter –?

aus: Die fünfte Jahreszeit. in: Werke und Briefe: 1929. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 6996-6997 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 224)

Das Buch zum Sonntag (20)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Kurt Tucholsky: Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte.

Zu den wenigen Ideen, die ich beim Beginn dieser Reihe hatte, gehörte, den Hausheiligen so lange wie möglich nicht zu empfehlen, um seinen Kommentaren zum Weltgeschehen größere Wirkmächtigkeit zu ermöglichen. Es war natürlich trotzdem nur eine Frage der Zeit, bis er hier auftauchen würde. Und doch ist der Anlaß außerhalb dieses Blogs zu suchen. Anlaß war der Wunsch einer einzelnen Dame, ein „nicht-deprimierendes“ Buch empfohlen zu bekommen. Nach gescheiterten Versuchen mit meiner Meinung nach durchaus in diese Kategorie fallenden Büchern, bin ich meine Regale abgegangen und fand tatsächlich nichts, was sich problemlos als fröhlich, sorgenfrei, aufbauend oder, um mal mit dem „Anhalter“ zu sprechen, größtenteils harmlos bezeichnen liese.
Außer eben einem schmalen Bändchen Tucholskys (natürlich 😉 ).
Rheinsberg (erschienen 1912) ist eine entzückende Liebesgeschichte um das Paar Wolfgang und Claire, die sich beide in der Phase des frühen Verliebtseins (die geneigte Leserschaft wird wissen, was ich meine, nicht? Dann mal kurz das Buch:

Seh mal: ’ne Akazie! ’ne blühende Akazie, lauter blühende
Akazien!«
»Is gar keine, is ’ne Magnolie!«
»Hach! Also wer weiß denn von uns beiden in der
Botanik Bescheid? Ich oder ich?«
»’ne Magnolie is es.«
»Meine Liebe, ich müßte bedauern, es mit einem
kräftig gefaßten Schlag gegen Sie nicht bewenden las-
sen zu können. Alle Wesensmerkmale der Akazie
deuten auch bei diesen Bäumen auf eine solche hin.«
»Is aber ’ne Magnolie.«
»Herr Gott, Claire! Siehst du denn nicht diese ty-
pisch ovalen Blätter, die weißen, kleinen, traubenför-
migen Blütenstiele! ? Mädchen!«
»Aber . . . Wölfchen . . . wo es doch ’ne Magnolie is . . . «
Sie erstickte in Küssen.*

) zu einem Wochenendausflug entschließen, nach Rheinsberg, über das sich im Wesentlichen sagen ließe, daß es landschaftlich schön gelegen ist.
Claire gibt hierbei die unbekümmerte, leicht dramatisierende, stets ironische junge Dame, Wolfgang den abgeklärten, überlegenen, durchaus intellektuellen Gegenpart. Die beiden bei ihren für den Ausflug eines verliebten Pärchens vollkommen üblichen Betätigungen zu beobachten (Bootspartien, Spaziergänge, Schloßbesichtigungen) und ihren erfrischenden Dialogen zu lauschen, ist eine reine Freude.
Noche eine Stelle:

Wie friedlich dieser Abend war; sie saßen unter
den niedrigen dunklen Bäumen und warteten auf das
Essen.
»Claire?«
»Wolfgang?«
»Mir ist so . . . «
»Gut so, mein Junge.«
»Nein! Spaß beiseite, mir ist mit dem Magen nicht
recht.«
»Das ist Cholera. Wart, bis du was zu essen be-
kommst.«
»Nein, hör doch, ich hab so ein Gefühl, so leer,
so . . . «
»Typisch, Das ist geradezu ? bezeichnend ist das.
Du stirbs, Wölfchen.«
»Die richtige Liebe deinerseits ist das auch nicht!
Erst lasse ich dich auf Medizin studieren, und jetzt
willst du nich mal durch dein Hörrohr kucken.«
»Ach Gott, nicht wahr, was heißt denn hier
überhaupt! – Nicht wahr? – Wer denn schließlich . . . «**

Es handelt sich hierbei um den mit Abstand fröhlichsten längeren Text, der mir von Tucholsky bekannt ist. Er hat danach nie wieder so unschuldig-unbeschwert geschrieben. Und eine so herzerfrischende Figur wie die Claire in „Rheinsberg“ findet sich auch späterhin nicht mehr. Alles in allem also eine schöne Nachmittagslektüre (länger wird es nicht dauern) zur Erinnerung an einen Sommer, an eine frühe Liebe, zur Erheiterung des Herzens bei einem Heißgetränk der Wahl.

Zuletzt noch eine kleine Stelle, deren Schluß es bei mir zu einer stehenden Redewendung geschafft hat:
Die beiden beobachten durch die Fenster eine örtliche Theateraufführung, verpaßten aber den Beginn und sind dementsprechend schwer in der Lage, die Handlung des Stückes und die Emotionen des Publikums einzuordnen:

Sie beugten sich weiter vor, man konnte undeutlich und durch das Fensterglas verschoben den übrigen Teil der Bühne erkennen, der eine Zimmereinrichtung mit gelber Tapete und gemalten Einrichtungsgegenständen darstellte; ein Mann in grüner Schürze hielt dort oben Zwiesprache mit einer robusten Weibsperson in den Vierzigern. Als Souffleurkasten diente ein alter Strandkorb. Sie hörten die beiden sagen:
»So, Er soll hier reinemachen (in der Tat hielt der Mann einen Besen in der Hand), und statt dessen scharwenzt Er mit den Mädels! Paß Er nur auf. Er Liederjan.« – Hier kicherte das Publikum. – »Ich werde Ihm die Suppe schon versalzen. Hier und hier und da und da!«
Das Publikum lachte: »Hoho!« und oben bekam der Mann, der bis dahin mit gutgespielter Teppenhaftigkeit den Kopf beflissen-horchend geneigt hielt, einige patschende Schläge ins Gesicht . . .
In diesem Augenblick trat ein junges Mädchen auf die Bühne, und hier nahm die Heiterkeit des Publikums einen so beängstigenden Grad an, daß die beiden unwillkürlich vom Fenster zurückfuhren.

»Der erste Akt!« seufzte er. »Uns fehlt der erste Akt!«***

Ganz zum Schluß noch einen Kommentar des Hausheiligen selbst zur Langzeitwirkung des zu seinen Lebzeiten erfolgreichsten seiner Bücher.

Wenn aber im Jahre 1985 ein neugieriger und verliebter junger Herr den Bücherschrank seiner Großmama durchstöbert, wird er von ganz hinten einen ‚auf Bütten abgezogenen und in rotes Bockleder gebundenen Band‘ herausklauben, Nummer 18, vom Verfasser signiert.

»Was ist das?« wird der junge Herr fragen. Und die Großmama wild sich den Band geben lassen, ihn ganz nahe an die Augen halten und dann leise lächeln. »Das«, wird sie sagen, »hat mir mal dein Großvater selig geschenkt, als wir uns verlobten. Aber du darfst es behalten und für deine Lydia mitnehmen.«
Das tut der junge Herr. Er packt den Bocklederband mit einigen Dingen, die zu schenken in dieser Zeit schick sein wird, zusammen und sendet alles an Lydia. Und Lydia wird die schicken Dinge sehr bewundern, sich an ihnen und am zukünftigen Neid ihrer Freundinnen erfreuen und schließlich einen Blick in das Buch hineintun. Und ein bißchen darin blättern.
Weil aber die Zeit läuft und sich das, was zwischen den Zeilen eines Buches ausgedrückt ist, niemals länger als fünfzig Jahre hält und mit den Menschen, von denen es und für die es geschrieben ist, dahingeht – deshalb wird die Dame Lydia mit den Achseln zucken und sagen: »Reizend!«
Und dann wird die Geschichte mit ihr und dem jungen Herrn ihren Fortgang nehmen.

aus: Rheinsberg. in: Werke und Briefe: 1921. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 2379-2380
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 3, S. 100-101) (c) Rowohlt Verlag

[Update 25.10.09] Peinlicherweise habe ich den Verweis auf die

lieferbaren Ausgaben

vergessen. Mea culpa. Ich suche gleich mal Asche, um sie mir aufs Haupt zu streuen.

*aus: Rheinsberg. in: Werke und Briefe: 1912. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 415f.
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 51-52) (c) Rowohlt Verlag
**aus: Rheinsberg. in: Werke und Briefe: 1912. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 426-427
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 57) (c) Rowohlt Verlag
***aus: Rheinsberg. in: Werke und Briefe: 1912. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 430
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 58-59) (c) Rowohlt Verlag

P.S.: Einen habe ich noch, der vielleicht verdeutlicht, welche Rolle „Rheinsberg“ für Tucholsky selbst in seinem späteren Leben spielte. Ein Blick aus dem Jahre 1931:

Rheinsberg

(»Zum hundertsten Tausend«)

Natürlich kommt das nie mehr wieder.
Allein: es war einmal.
Ich war ein Star und pfiff die bunten Lieder;
ich war Johann, der muntre Seifensieder –
und Claire war real.

Das ist schon lange her.
Und heute -?
Jetzt sind die andern dran.
Nach unsrer Sprache plaudern Liebesleute,
Zahntechniker und ihre jungen Bräute . . .
Das hört sich also an:

»Du sock nisch imme nach die annern Mättschen blickn!
Isch eiffesüschtisch, olle Bums-Roué!
Du imme mit die kleinen Dickn!
Nu isch ins Bett bigehn bimickn,
weil müdischlisch biwé!«

So liebt euch denn (in allen Ehren)!
Die Liebe währet ewiglich.
Und folgt ihr dieses Büchleins Lehren
und küßt ihr euch, ihr Wölfchen und ihr Clairen -:

dann denkt an mich.

in: Werke und Briefe: 1931. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8168-8169
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 95) (c) Rowohlt Verlag
http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

Hans Wolfshaut auf der Jagd

In der mir eigenen Verspätung greife ich ein Thema auf, das Blogosphäre und angrenzende Universen in den letzten Tage stark bewegte.

Zu den Firmen, die ihre Anwälte Geld mit Abmahnungen verdienen lassen, gehört auch der Funktionskleidungshersteller Jack Wolfskin.

Die Anfänge der Firma liegen einige Jahre zurück, 1981 gestartet in einem sich gerade formierenden Outdoor-Markt, der zu dieser Zeit noch den Charme der Aussteiger und Alternativen atmete.
Dies dürfte auch einer der Gründe gewesen sein, warum die taz in ihren Gründungsjahren großzügig über die Verwendung eines ihrer tazze sehr ähnlich sehenden Logos hinweg sah.
Zudem dürfte zu vermuten sein, daß die damalige taz-Generation die Registrierung ihres Logos als Marke aus ideologischen Gründen abgelehnt hätte. Was sich Jahre später als Fehler herausstellte. Aus der kleinen Firma, die für eine Alternativszene funktionelle Jacken, Schuhe und Rucksäcke produzierte (und durchaus ähnliche Zielgruppen bediente, es gab Ende der achtziger Jahre sogar Kooperationen), war ein Schwergewicht in einem großen Markt für Funktionskleidung geworden. Es gehört ins Reich der Spekulation, ob sich Jack Wolfskin anders verhalten hätte, hätte der Firmengründer nicht verkauft, aber 1995, als man bereits der US-amerikanischen Firma Johnson Outdoors gehörte, strengte Jack Wolfskin eine Klage gegen die taz an, wegen widerrechtlicher Verwendung ihres seit 1982 geschützten Logos.

2002 verlor die taz den ersten Prozeß, verwendete daraufhin die tazze nur noch in Verbindung mit einem Schriftzug, was ihr nach einem Urteil im Jahre 2007 für alle Produkte, die Jack Wolfskins Kernsegment berühren könnten, ebenfalls untersagt wurde.
Da gehörte die Firma allerdings schon lange zum Operationsgebiet der Private-Equity-Gesellschaften. Moralische Skrupel dürfen wir dort also auch nicht mehr erwarten, wo es per definitionem ja ausschließlich um Gewinnmaximierung geht (wogegen ich nichts sagen will, es ist ein mögliches Geschäftsmodell, es kennt aber eben keine anderen Grenzen als juristische, Argumente, die auf Anstand oder moralische Integrität zielen, vollkommen wirkungslos macht).
Und so überrascht es nicht, daß seit einiger Zeit nun die Outdoor-Firma ihr Operationsgebiet in Sachen Durchsetzung ihres Markenanspruches erweitert hat. In endlosen Abmahnwellen wird inzwischen wohl alles abgemahnt, was Pfoten hat. Unabhängig davon, von welchen Tieren die stammen.
Wirklich Aufsehen erregte das alles aber erst, als tatsächlich Mitglieder einer Strick- und Häkelcommunity abgemahnt wurden. Die ganze Geschichte dazu hier.

Für mich persönlich ist Jack Wolfskin ja bereits seit der taz-Geschichte gestorben, weil ich eine Firma, die derart unkollegial, um es mal vorsichtig zu formulieren, vorgeht, nicht unterstützen möchte. Es bleibt abzuwarten, ob das Gebahren dieser Firma nun so viele vom weiteren Kauf abhält, daß man auf den sicher einträglichen Geschäftszweig der Abmahnungen verzichtet. Bisher deutet jedoch nichts darauf hin, wie Johnny Häusler auf Spreeblick noch einmal verdeutlicht.

Unabhängig von dieser ganzen Geschichte finde ich es aber höchst bedenklich, daß es möglich ist, eine nur minimal stilisierte Pfote derart als Marke zu schützen, daß jeder Abdruck jeder beliebigen Tierpfote illegal wird. Falls noch jemand praktische Beispiele zur Verdeutlichung der Problematik der DNA-Patentierung brauchte, hier hat er eins. Es bedarf nur wenig Phantasie, sich auszumalen, was passiert, wenn wir hier nicht nur über aufgenähte Katzenpfotenabdrücke reden.

Peinlich wird übrigens Verhalten wie das hier von Jack Wolfskin,die sich weigerten, Angaben über die Abreitsbedingungen in ihren Produktionsstätten zu machen (aber selbstverständlich nur hochwertig hergestellte Produkte verkaufen), geschilderte, wenn gleichzeitig so getan wird, als sei man geradezu eine moralische Anstalt, die nichts sehnlicher wünscht, als ihren Profit für den Fortschritt der Gesellschaft einzusetzen (dafür sind Private-Equity-Gesellschaften ja auch berühmt).

Und genau dazu kommentiert heute der Hausheilige:

Man verstehe nicht falsch. Die unbeabsichtigten kulturellen Wirkungen eines großen Handels wird niemand leugnen, aber es ist nicht wahr, daß der Kaufmann auch nur im Traum daran denkt, Kultur oder auch nur Zivilisation zu verbreiten. Verdienen will er – und widerlich ist nur, daß er’s nicht sagt.

aus: Kunst und Kaufmann. in: Werke und Briefe: 1913. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 9131 (vgl. Tucholsky-DT, S. 59) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

Verschwindende Künste (1)

Heute: Alben hören.

Im Laufe der Zeit gehen viele Kulturtechniken verloren, weil sie aufgrund des technologischen Fortschrittes nicht mehr benötigt werden. Besonders deutlich zeigt sich das im Verschwinden von Berufen. Nun, im Zeitalter des DTP mag es nicht mehr notwendig sein, Schriftsetzer zu haben, auch Kettenhemden werden heute nur noch in Spezialfällen benötigt (dann aber dringend…).
Aber es zeigt sich auch außerhalb des Berufslebens immer wieder ein deutlicher Wandel.
Beispielsweise das Schreiben privater Briefe. Und ich meine hier durchaus das Schreiben auf zellstoffbasiertem Material. Denn die digitalen Kommunikationsmedien haben längst ihre eigenen Regeln, ihre eigene Sprache, ihren eigenen Stil entwickelt (*lol* oder 😉 in einem handgeschriebenen Brief wäre einfach unpassend).
Eine email hat einen anderen Tonfall als ein Brief (eine hübsche Zusammenstellung der Dinge, die die jüngste technologische Revolution an den Rand des Verschwindens bringt, hat übrigens Herm während seiner Urlaubsvertretung auf Herrn Niggemeiers Blog angefertigt.)
Doch um die Kunst des Briefeschreibens, derer ich auch allmählich verlustig gehe, wie ich jüngst anläßlich eines Versuches feststellen mußte, soll es mir heute nicht gehen.
Mir soll es heute um die Kunst des Musikalbenhörens gehen.
Untersuchungen zum Leseverhalten haben ergeben, daß hierzulande zwar immer mehr gelesen wird, jedoch immer weniger zu Ende. Mir scheint das symptomatisch. Denn es handelt sich hier um eine Rückwirkung der veränderten Mediennutzung. Computerbildschirme laden eher zum Erfassen kürzerer Texte ein. Und ähnliches scheint mir in der Nutzung und Wahrnehmung von Musik vor sich zu gehen. Die unglaublichen Möglichkeiten, die ein Format wie mp3 zusammen mit den nicht weniger unfaßbaren Möglichkeiten mobiler Geräte (erinnert sich noch irgendjemand daran, daß es gerade mal 20 Jahre her ist, daß ein Festnetztelefon mit Wählscheibe nicht nur nicht selbstverständlich sondern sogar Inhalt von Sehnsüchten war?) schaffen ein veränderte Nutzungsgewohnheiten, die weder tragbare CD-Player noch der Walkman je hätten erreichen können. Man kann heutzutage ganze CD-Schränke in einem bestenfalls handtellergroßen Wunderding mit sich herumtragen (wenn man auf die Möglichkeiten des Surfens, Spielens, Fotografierens, achja und natürlich Telefonierens verzichtet, sind wir schon nur noch im Fingerbereich) und die gespielte Musik jederzeit nach Gusto verändern. Jeder sein eigener DJ. Und dem Bedürfnis, unterwegs Musik zu hören, ist das vollkommen angemessen. Denn jederzeit sind Situationen denkbar, in denen man ausschalten muß oder sich geneigt fühlt, andere Musik zu hören (Idioten im Straßenverkehr, Trottel aufm Fußweg, Wetterwechel – oder das schlichte Erreichen des Zieles).
Auch die absurde Jagd diverser Radiostationen nach dem möglichst besten Mix (der Sechziger, Siebziger, Achtziger und so weiter) paßt sich diesem Bedürfnis an.
Wir nehmen also heute allerorten und jederzeit Musik wahr. Bunt gemischt, je nach Lust und Laune. Niemand brauche mehr ganze Alben las ich jüngst in einem Kommentar zur Urheberrechtsdebatte (leider finde ich den Kommentar nicht mehr). Und das könnte stimmen. Weder physisch (ich kenne noch das ehrfürchtige Gefühl, die erste eigene Platte in die Hand zu nehmen und aufzulegen – meine Kinder werden den Spruch „Leg mal eine andere Platte auf.“ überhaupt nicht mehr erfassen können) noch psychisch besteht möglicherweise noch Bedarf. Denn ein Album zu hören braucht Zeit, Ruhe und eine Athmosphäre, die ein Einlassen ganz auf die Musik (und eben nur diese) erfordert. Und ich fände es überaus schade, sollte uns tatsächlich diese Fähigkeit abhanden kommen. Denn es hat etwas entschleunigendes. Ein Innehalten, ein Pausieren von der Hektik unseres Alltags. Keine Prokrastination, kein Ablenken, kein Nebenherhören. Es ist Genießen.
Es ist Versinken in einer anderen Welt, es ist ganz Aufnehmen, es ist bis ins Innerste spüren.

Ein Album, das diesen Titel auch verdient, denn es gab und gibt heute erst Recht, da Künstler ja auch verkaufen müssen und mithin die Bedürfnisse des Publikums nicht ignorieren können, auch simpel zusammgestellte Kompilationen, ist eine Einladung an den Hörenden, auf eine Reise zu gehen. Und es lohnt sich, eine solche Reise mitzumachen.

Wir sollten darauf achten, uns das zu erhalten. Schon allein, weil es Musik gibt, die es verdient, ganz und gar gehört zu werden. Manchmal erfordert sie es sogar – doch mit welchem Gewinn für den Hörenden!

Das Verhältnis des Hausheiligen zur Musik darf getrost als ambivalent bezeichnet werden, wobei sich seine Ablehnung nicht selten eher auf Rezipienten und so manche Musizierende bezieht, als auf die Musik selbst.

Ich bin unmusikalisch. Wenn ich es sage, antworten die Leute mit einem frohen Gefühl der Überlegenheit: »Aber nein – das ist ja nicht möglich! Sie verstehen gewiß sehr viel von Musik . . . « und freuen sich. Es ist aber doch so. Musik läßt mich aufhorchen; wenn ich sie höre, habe ich ein Bündel blödsinniger Assoziationen – und dann verliere ich mich im Gewirr der Töne, finde mich nicht mehr heraus . . . Und um rat- und hilflos zu sein, dazu brauche ich schließlich nicht erst in eine Oper zu gehen.

aus: Die Musikalischen. in: Werke und Briefe: 1926. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 4617 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 4, S. 529) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

Außerdem sehr lesenswert zur Frage der globalen Massenkultur in der Musik: Lyrik der Antennen.

UPDATE (05.11.2009): Bei Spreeblick gibt es einen höchst interessanten Beitrag samt ebenso beschaffener Diskussion zur Zukunft von Musikalben.

Tirade, nicht ganz ohne Sympathie

Blair und Schröder, New Labour und Neue Mitte – es ist nicht lange her, da waren sie Heroen der europäischen Sozialdemokratie. Sie erzielten Wahlergebnisse, von denen Labour und SPD heute nur noch träumen können. Und doch – gerade das Modell der „Neuen Mitte“ (das man getrost als Kopie von „New Labour“) ansehen darf, ist es, das den momentanen Selbstversenkungskurs wesentlich mitverursacht hat.

Die erste Bundestagswahl, bei der ich abstimmen durfte, war die von 1998. Seitdem sind 11 Jahre SPD-Regierungszeit vorbei. Was aber hat die SPD in dieser Zeit getan? Wie hat sie für die „soziale Gerechtigkeit“ gewirkt, für die sie doch stehen will? Was hat sie für ihre angestammte Klientel getan, für die Arbeiter, für die kleinen Angestellten? Wie hat sie Großkonzernen entgegengewirkt, die Rechte der Bürger gestärkt oder ist für den Frieden eingetreten?

Hier mal eine Bilanz:

(man beachte die leicht angespannte Reaktion im Publikum ;))

Hartz IV, Rente ab 67, Deregulierung des Finanzmarktes, BKA-Gesetz, völkerrechtswidriger Krieg im Kosovo, usw. – Und die Genossen wundern sich wirklich, daß sie keiner wählt? Daß ihnen kaum jemand glaubt, mit den Tigerenten könne es noch schlimmer werden? Halten die die Wähler wirklich für so grenzdebil, daß sie ihnen die Warnung vor Steuererhöhungen abkaufen, nachdem sie grade mal vier Jahre zuvor aus „Keine Mehrwersteuererhöhung“ locker-flockige 3% (von denen Frau Merkel immerhin ja 2/3 angekündigt hatte) gemacht haben? Glauben sie wirklich, daß der Architekt der Agenda 2010, also die Agenda, die dazu geführt hat, daß die Sozialdemokraten 11 Jahre lang Politik gegen ihre eigene Klientel gemacht hat, der richtige war und immer noch IST?

Aber eigentlich führt diese Frage am Kern vorbei. Ja, die SPD hat ein Personalproblem (Hierzu hat übrigens Herr Kaliban eine nette Idee). Aber das scheint mir nur Symptom zu sein. Wie gesagt, meine erste Wahl war 1998 – es gibt aber junge Menschen, die durften in diesem Jahr das erste Mal wählen, deren erlebtes Bild von der SPD besteht also nur aus dieser Regierungszeit. Welchen Grund sollten die haben, ihr Kreuz bei der SPD zu machen?
Wir erleben momentan den Aufstieg von reinen Klientelparteien und das mehr oder weniger langsame Dahinsiechen der ehemaligen Volksparteien (denn wir wollen mal nicht vergessen, auch die CDU hatte nur 1949 ein schlechteres Wahlergebnis).
Und gerade die SPD sollte allmählich mal auf die Idee kommen, daß es so nicht weitergehen kann. Daß es mit den üblichen Ritualen nicht getan sein kann, daß ein derart dramatisches Wegbrechen von Millionen Wählerstimmen keine übliche Wahlniederlage nach langer Regierungszeit ist. Daß es hier um die nackte Existenz geht und darum, die Zukunft nicht einem konservativen, neoliberalen Block zu überlassen und sich links davon nur noch gegenseitig zu zerfleischen. Das hat noch nie funktioniert und es wird auch dieses Mal nicht funktionieren.
Ist den Genossen denn wirklich nicht klar, daß das Erstarken der „Linken“ (btw: Was ist das für ein Name? „Wir wissen nicht so recht, wofür für sind und was wir wollen, aber wir sitzen im Parlament immer links vom Präsidenten.“ Wahrscheinlich waren die Sieger beim Contest: „Wie inhaltsleer hätten sie ihren Parteinamen denn gern?“) klar und deutlich Ergebnis ihrer eigenen Sozialpolitik ist? Daß selbst Gewerkschafter vor der Wahl das Wort „sozialdemokratisch“ nicht mehr über die Lippen bekommen, gibt ihnen das wirklich nicht zu denken?
Die deutsche Sozialdemokratie hat auf alte Allianzen, ja auf alte Werte verzichtet und sich auf das Gebiet der wankelmütigen Mitte begeben. Dahin, wo sie alle sind, dahin, wo die Leute wirklich nach Tageslaune entscheiden, wen sie wählen. Und die die SPD fallen ließen wie eine heiße Kartoffel, als ihnen andere Alternativen wieder ein wenig passender erschienen (jetzt, wo es offenbar Sehnsucht nach einer Politik der Wirtschaftsinteressen gibt, wählt man doch lieber das Original). Und da reden wir noch gar nicht von solchen groben handwerklichen Fehlern wie dem, sich in der Großen Koalition ausgerechnet die Ministerposten zu sichern (die haben da ja wirklich drum gekämpft), mit denen aber mal gar kein Blumentopf zu gewinnen ist.
Kurz:
Es wäre Zeit, reinen Tisch zu machen. Eine gründliche Analyse wenigstens der letzten Jahre (ich werde da wirklich nicht fertig drüber: Die haben ihr Wahlergebnis in 11 Jahren fast halbiert! Was muß denn noch passieren?), ein grundlegendes Umdenken, ein Anerkennen der Realitäten (vielleicht hilft ja auch eine Auszeit?). Irgendetwas Zukunftsweisendes.
Und was machen die? Jammern, Schmollen und Klüngeln.
Allerdings ist das ein Punkt, den die SPD noch nie verstanden hat. Immer wurden sie verraten, von den Unabhängigen, von der WASG, von den Gewerkschaften und natürlich von den Kommunisten. Und vor allen Dingen von den Wählern. Sind die doch einfach zu Hause geblieben?
Nein, liebe Genossinnen und Genossen – andersrum wird ein Schuh draus. Springt über euren Schatten und hört mal auf die wenigen jungen Leute, die euch noch verblieben sind. Legt euch ein Profil zu, das was aussagt, legt euch wieder Inhalte zu, die was bedeuten.

Es wäre schade drum.

Und zum Abschluß noch ein Kommentar des Hausheiligen (dessen Werk an Kommentaren zur SPD nicht arm ist):

Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem 1. August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleinern Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas –: vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahingegangen,
wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.

aus: Schnipsel. in: Werke und Briefe: 1932. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8947
(vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 107-108) (c) Rowohlt Verlag
http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm

Nach den Wahlen

Den Kommentar zur heutigen Wahl hält der Hausheilige dieses Blogs, Dr. jur. Kurt Tucholsky:

Nach den Wahlen

Jetzt ist die wile Zeit vorüber,
nun hat die liebe Seele Ruh – –
des Bürgers Blick wird wieder trüber,
ihm fallen beide Augen zu.

Im Wahlkampf blusen die Trompeten
mit Pflichtgefühl und viel Getös –
Attacken selten, meist Retraiten –
er meint es nämlich nicht so bös.

Den Braven schüttelt ein Gehust,
er kann nicht mehr, er ist so matt;
schon fehlt es an der nötigen Puste,
weil er sich überanstrengt hat.

Wir wollen ihn ins Bettchen stecken.
Er schläft und die Regierung wacht…
So laßt ihn ruhen. Nur nicht wecken! –
Wir wünschen ihm ´ne
Gute Nacht!

in: Kurt Tucholsky. Gesamtausgabe Texte und Briefe, Bd. 1 (Texte 1907-1913), Reinbek 1997, S. 32. zuerst veröffentlicht im „Vorwärts“ am 26.1.1912

Jack Sparrow for President (2)

In dem Vierteljahr, das seit meinem ersten Beitrag zur Piratenpartei vergangen ist, hat sich einiges getan.
Die Piraten bekamen und bekommen unglaubliche Zuwächse, die Mitgliederzahl hat die 7000 überschritten und ein Ende ist nicht abzusehen.
Bei einer solch rasanten Entwicklung sind Verwerfungen geradezu vorprogrammiert. Der jüngste Aufreger, das Interview des stellvertretenden Vorsitzenden Andreas Popp mit der „Jungen Freiheit“, war ein Anlaß, der einige noch einmal neu über die Piraten nachdenken ließ. Auch für mich. Gerade dieses Interview hat mich sehr irritiert. Und zwar nicht, weil ich die Argumente für ein solches Interview nicht nachvollziehen könnte (auch wenn ich sie nicht teile) oder weil mich das Politikverständnis der Piraten grundsätzlich irritiert, sondern weil sie hier nach ihren eigenen Maßstäben versagt haben.
Es ist ja nicht so, wie dies in den ersten Rechtfertigungsversuchen dargestellt wurde, daß man sich hier bewußt für ein Interview mit einer, nun ja, mindestens doch problematischen Zeitung entschieden habe. Daß Argumente dafür und dagegen erwogen wurden und dann eine Entscheidung fiel. Nein, man hat sich schlicht überhaupt nicht informiert. Für eine Partei, die sich so sehr das „Selbst-Denken“, das „Selbst-Informieren“, die freie Verfügbarkeit von Information auf die Fahnen geschrieben hat, ist das nicht nur blamabel. Das ist erschreckend. Denn gerade die Tatsache, daß jeder im Netz alles schreiben kann, bringt den Benutzer in eine hohe Verantwortung. Er muß die gefundenen Informationen selbst überprüfen. Das bedeutet doch aber, das die Informationsbeschaffung und Überprüfung zum Alltag gehören sollte, oder? Eine Szene, die behauptet, der Journalismus sei am Ende, weil die Redakteure es ja noch nicht einmal hinbekämen, Namen zu googeln, um zumindest ein Minimum an Überprüfung zu gewährleisten (Stichwort: Guttenberg), sollte doch wohl ein Problem damit haben, wenn einer ihrer politischen Protagonisten es nicht einmal schafft, den Namen einer Zeitung, die ihn interviewen will und die er nicht kennt, in ein Suchfenster einzugeben. Und das ist kein kleiner Schönheitsfehler. Das ist ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Denn Freiheit bedeutet auch Verantwortung. Denn Freiheit ist nicht einfach. Das ist auch der Grund, warum „unfreie“ Systeme lange existieren, bzw. sich immer wieder herstellen. Weil Freiheit eben Arbeit bedeutet. Nicht jeder aber will diese Arbeit leisten. Nicht jeder will immer alles abwägen, überprüfen, bedenken. und nicht jeder ist dazu ohne weiteres in der Lage (auch bei den Anhängern der Piraten. Ich empfehle hier mal die Kommentare bei Frau Seeligers Artikeln. Auseinandersetzung mit Gegenargumenten sieht anders aus).
Und wenn selbst die Protagonisten der im Prinzip ja wünschenswerten Informationsfreiheit im Netz sich außer Stande sehen, die notwendige Arbeit zu erbringen – wie wollen wir dann argumentativ dafür arbeiten? Wie wollen wir den Argumenten entgegen treten, daß die Menschen eben vor schlimmen Dingen zu beschützen sind?

So weit dazu.
Alles in allem aber hat den Beitrag, den ich schreiben wollte, bereits jemand anderes geschrieben. Auf diesen verweise ich hiermit dringend.

So bleibt mir zum Schluß nur, den Hausheiligen noch einmal zu zitieren:

Deutschland! hast du eine Lammsgeduld!
Läßt dir heute nach diesem allen
Frechheit von Metzgergesellen gefallen?
Lern ihre eiserne Energie!
Die vergessen nie.
Die setzen ihren verdammten Willen
durch – im lauten und im stillen
Kampf, und sie denken nur an sich.
Deutschland! wach auf und besinne dich!

Nur einen Feind hast du deines Geschlechts!
Der Feind steht rechts!

[aus: Preußische Presse. in: Werke und Briefe: 1919, S. 231-232. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1341-1342 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 109) (c) Rowohlt Verlag]

Trostlose Landschaft

Angeregt durch Herrn Kaliban, habe ich meine in letzter Zeit gepflegte Ignoranz den Wahlplakaten gegenüber aufgegeben und sie mir im Zuger der übermorgen stattfindenden Landtagswahl genauer angesehen.
Und ich muß sagen: Dieser Schritt hat sich nicht gelohnt. Die Wahlplakate sind ein Graus.

Ich möchte hier einfach mal vorstellen, was mir auf meinem täglichen Weg von und zur Arbeit so begegnete. Vielleicht hatte ich ja Pech mit meinem Arbeitsweg – ich weiß es nicht.
Das Ergebnis ist wirklich erschütternd. Und zwar in jeder Hinsicht.

Nunja, lassen wir die Show samt vollkommen subjektiver Anmerkungen beginnen:

Hier sehen wir, wie ganz gekonnt landespolitische Themen behandelt werden. *kopfschüttel*
Andererseits ist natürlich der lobenswerte, weil ressourcenschonende Ansatz zu loben, bei jeder Wahl dasselbe zu hängen. Wenn man eh imer nur dasselbe zu sagen hat, braucht es natürlich auch keinen krampfhaften Versuch, das jedes Mal anders darzustellen. Insofern…

Als ich dieses Plakat zum ersten Mal von Ferne sah, hielt ich es für Werbung eines dieser schrecklichen Guten-Morgen-Gute-Laune-Aufstehen-mit-Lächeln-im-Gesicht-Radioprogramme.
Erst aus der Nähe erkannte ich die tatsächliche Funktion. Wer hat eigentlich diesen Unsinn mit den „Freien Wählern“ in die Welt gesetzt? Freie Wähler sind schließlich alle. Die gemeinte Unabhängigkeit zielt doch auf die Kandidaten, nicht die Wähler. Ein Alleinstellungsmerkmal der Allianz ist das also wohl kaum…

Hier sehen wir ein ganz typisches Beispiel für die Wahlkämpfe der letzten Zeit: Es soll alles anders werden. Wie, ist schnuppe, Hauptsache anders.

Ich sehe ja ein, das Wortspiel war naheliegend und ist auch nicht schlecht – aber Form und Inhalt stimmen einfach nicht. Biss? Entscheidend ist nicht, Zähne abzubilden. Entscheidend ist, wie dies geschieht. Und einen besonders zupackenden Eindruck macht dieses Gebiß nicht. Zumindest nicht auf mich.

Zu welch später Stunde und in welcher dunklen Kaschemme wurde denn dieses Plakat genehmigt? „Die SachsenMacher“? Wenn die CDU dies nicht als Darstellung zeugungsfreudiger junger Männer gemeint hat (wovon ich ausgehe), sondern eher auf die Schröder-Qualitäten ihres Personals (oder doch des sächsischen Handwerks?) verweisen wollte, wäre eine andere Formulierung empfehlenswert gewesen. Plakate, die man erst begreift, wenn man lange drüber nachdenkt, sind schlechte Plakate. 😉

Ja, und wenn mir gar nichts mehr einfällt, dann klaue ich eben beim ADAC und der Verkehrspolizei. Was soll das? Hatten sie noch Budget übrig? Das erfüllt ja nicht mal einen Nutzen. Denn, wer dieses Plakat lesen kann, ist doch schon längst in den Laternenpfahl gerauscht, an dem es hängt.*

Ja, stimmt, es wird nach 20 Jahren Regierung wirklich mal Zeit, liebe Union. ???

Immerhin, das beste Portrait, das ich gesehen habe. Hier besteht wirklich die Möglichkeit, eine Person zu entdecken. Und nicht nur ein Abziehbild mit Schlagersängergrinsen. Aber auch hier: Sachsen grüner machen. Ja, nun…

Wir auch:

Kindchenschema und Familie. Würden die Plakate über- oder nebeneinander hängen, käme vielleicht der flüchtige Betrachter auf die Idee, daß die beiden nicht unbedingt dasselbe meinen. Tun sie aber nicht…
Btw: Das Plakat liest sich übrigens sehr gut als: „Wegen Dir müssen wir jetzt FDP wählen…“

Und weil ich grad dabei bin:

Es soll Leute geben, für die stellt sich die Frage, ob sich Arbeit lohnt, vollkommen unabhängig vom Steuersatz. Da sind ganz andere Sätze interessant. Aber zum Glück macht die FDP ja keine Klientelpolitik… 😉

Bilder Upload

Als ob es die SPD nicht schon schwer genug hätte. Jetzt klauen die Möchte-Gern-Nazis von den Republikanern ihnen auch noch die Ideen. Übrigens: Meinen die 4 Millionen Arbeitsplätze jetzt nur in Sachsen oder bleiben die Plakate gleich hängen?

Sehr puristisch. Und dafür eine zu kleine Type gewählt. Wer nur auf Text setzt, muß diesem auch Gelegenheit zur Wirkung geben.

Intelligentes Plakat, macht aber nur Sinn, wenn man in Ruhe davor stehen kann (um zum Beispiel die Anspielung auf Orwell zu bemerken). Und ob die Gestaltung ausreicht, um dies zu bewirken…

Und die Piraten noch einmal. Das Plakat finde ich gelungen, habe dann aber doch mal eine inhaltliche Anmerkung. Die Gedanken sind ohne Zweifel frei – das bedeutet aber eben auch, frei verkäuflich. Die Piraten planen da derzeit eher eine Art Enteignung
Und, damit leite ich dann gleich mal zum nächsten Beispiel über, der Farbode gerät derzeit sehr durcheinander. Ein Plakat in schwarz-orange ist also nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, von der CDU, sondern von den Piraten,

dafür wirken ein CDU- und ein SPD-Plakat übereinander wie ein rot-grünes Projekt und

schwarz-grün wirbt nur für die Union

.

Der Hintergrund für die Farbwahl ist klar, die sächsischen Landesfarben sind nunmal grün/weiß – aber ob der vorbeifahrende Autofahrer die Kombination aus dem Wahlslogan „Damit ihre Zukunft Sachsen heißt“, der grünen Signalfarbe und dem SPD-Rot tatsächlich zu „Oh, die Union ist schon eine feine Truppe, die wähle ich mal“ zusammenreimt – na, ich weiß nicht.

Und weil wir schon über intelligente Plakate sprachen:

Sehr schön der Bezug auf den CDU-Slogan „Wissen, wo´s langgeht“. Zum Glück funktioniert das Plakat aber auch ohne dieses Hintergrundwissen, die CDU schreibt den ja nun nicht gerade sehr groß auf ihre Plakate. 😉

Schlußbemerkung:

Ich wollte eigentlich noch was zu den, leider, geschickt gemachten Plakaten der Nazis von der NPD schreiben, aber die waren verschwunden, als ich mit dem Fotoknips da war. Daher soll an dieser Stelle ein Link genügen: http://www.zeit.de/online/2009/36/npd-wahlkampf-strategie

Und die Plakate der Linken bestanden nur aus Veranstaltungshinweisen, wann denn die Genossen Lothar und Gregor zu sicher aufrüttelnden Reden in die Stadt kommen…

Alles in allem bleibt die Erkenntnis: Mehr als „Ich will aber der Bestimmer sein.“ kommt bei den allermeisten Plakaten nicht herüber. Warum gerade die und nicht die anderen, bleibt nahezu im Dunkeln. Was natürlich damit zusammenhängen könnte, daß es auch gar keine Gründe gäbe. So weit will ich aber (noch) nicht gehen.
Ich wünschte mir jedenfalls, es würden die Plakate mit etwas mehr Gedanken gestaltet, wenigstens mit dem Versuch, eine klare Aussage zu transportieren. Und zwar eine die über „Wir sind toll, die anderen stinken.“ hinausgeht. Ich bin sogar fest davon überzeugt, daß die Plakate sehr viel spannender wären, wenn tatsächlich versucht würde, Inhalte zu transportieren. Für etwas Konkretes zu werben, fördert die Kreativität nämlich viel mehr, als für etwas Diffuses, kaum zu Definierendes. Die Piraten zeigen das, das Grünenplakat zur Überwachung zeigt das und auf ihre ganz spezielle Art zeigen das auch die Fundamentalisten von der PBC.

Und zum Abschluß noch ein paar aufmunternde Worte des Hausheiligen:

Denn winsch ick Sie ooch ne vajniechte Wahl! Halten Sie die Fahne hoch! Hie alleweje! Un ick wer Sie mal wat sahrn: Uffjelöst wern wa doch . . . rejiert wern wa doch . . .
Die Wahl is der Rummelplatz des kleinen Mannes!Det sacht Ihn ein Mann, der det Lehm kennt! Jute Nacht -!

[in: Ein älterer, aber leicht besoffener Herr. Werke und Briefe: 1930, S. 478. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 7677 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 8, S. 215) (c) Rowohlt Verlag]

P.S.: Fast vergessen, die PBC kann auch Waschmittelwerbung…

… oder so ähnlich.

*Hängt wohl mit dieser Spitzenaktion zusammen: http://bit.ly/IAzV5 – ich nehme an, die Pressevertreter haben es sich nicht nehmen lassen, beim Plakatieren dabeizusein. Ist ja auch ein Ereignis. Unsinn sind die Plakate trotzdem, so, wie sie aussehen.

Velozipedäres Leiden

Radfahrer haben es nicht leicht im öffentlichen Straßenverkehr. Irgendwie stören sie alle anderen Teilnehmer nur an der ungehinderten Nutzung der Verkehrsflächen. Ich glaube sogar, schlechter angesehen sind eigentlich nur noch diese Autos mit der 25 hinten drauf.
Selbst wenn sie sich vollkommen richtig verhalten (ja, ich komme darauf noch zurück), können sie doch von Glück reden, nur mit Beschimpfungen davonzukommen.
Wers nicht glaubt, dem empfehle ich mal folgende Übungen:

Übung 1

Fahren Sie mit Ihrem Fahrrad auf der rechten Seite auf dem straßenbegleitenden Radweg. Signalisieren Sie, daß Sie nach links abzubiegen wünschen. Ordnen Sie sich nun in den fließenden Verkehr korrekt links ein, um unter Berücksichtigung des Gegenverkehrs links abbiegen zu können.
Ich empfehle dabei dringend, einen Helm zu tragen. Und es vor allem nicht eilig zu haben.
Level 2: Dieselbe Übung auf einer Straße mit Straßenbahnschienen
Level 3: Nach einiger Wartezeit inmitten der Straße naht eine Straßenbahn.

Wenn man Glück hat, möchte auch ein Automobil links abbiegen. Auf einmal sind Dinge möglich…

Übung 2

Sie fahren auf einem vom Fußweg farblich und durch Markierungen getrennten, separaten Radweg. Auf diesem spazieren sehr gemütlich, aber leider verkehrsrechtswidrig, einige Fußgänger. Der Fußweg daneben ist vollkommen leer. Klingeln Sie, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und keinen Unfall zu verursachen.
Ich empfehle dabei dringend, einen Helm zu tragen. Nahkampfwaffen sind ebenfalls empfehlenswert.

Level 2: Der Radweg ist zusätzlich durch Strauch- und Baumbewuchs vom mehr als doppelt so breiten Fußweg getrennt.
Level 3: Der Radweg ist in beide Richtungen freigegeben (logisch, er ist breit genug und vom Fußweg ja durch Bewuchs getrennt…). Ihnen kommt ein Radfahrer entgegen.

Bringt man die Ruhe auf, kann man bei dieser Übung einiges über die deutsche Schimpfkultur lernen. Besonders wenn man nebenbei erwähnt, daß man sich vollkommen im Recht befindet. Macht viel Freude.

Übung 3

Sie fahren auf einer innerstädtischen Straße. Hinter Ihnen fährt ein Auto. Vor Ihnen laufen Fußgänger, durchaus nicht in der Absicht, diese zu überqueren, sondern sie als Fußweg nutzend. Klingeln Sie.
Level 2: Hinter Ihnen fährt kein Auto.

Ich empfehle dabei dringend, die Tastensperre am Mobiltelefon ausgeschaltet zu haben. Um einen Notruf zu senden, wird keine Zeit sein, diese noch zu deaktivieren. 😉

Wünscht jemand Übungsadressen, ich teile gerne welche mit. 😉

Kurz: Wo auch immer der Radfahrer sich aufhält, jeder andere Verkehrsteilnehmer fühlt sich durch ihn belästigt. Und natürlich ist der Radfahrer immer Schuld, an allem. Egal, ob er sich nun korrekt verhält oder nicht. Eine Einbahnstraße ist für Radfahrer in Gegenrichtung freigegeben? Pech gehabt, mehr als ein paar Lackkratzer gibt das nicht. Das ist ein Radweg? Who cares? Müssense eben ma bremsen. Frechheit.

Es wäre allerdings äußerst unausgewogen, nicht zu erwähnen, daß es einen eklatant hohen Anteil von Radfahrern gibt, die sich um rein gar nichts scheren.
Es gibt diese Idioten, die meinen, sie können problemlos im Dunkeln ohne Licht fahren. Unabhängig davon, daß ich mir nicht sicher bin, ob die selbst ausreichend sehen – es geht viel mehr darum gesehen zu werden! Nur auf jemanden, der wahrgenommen wird, kann man auch reagieren. Und der Anteil unter allen Radfahrern ist erheblich.
Oder man fährt mal eben auf der falschen Straßenseite – es hat mich bereits 2 Vorderräder gekostet (und mit Nabendynamo sind die nicht mehr zum Spottpreis zu haben), daß jemand von rechts um die Ecke kam, der vorher nicht zu sehen war – weil er auf der linken Seite fuhr (und dann tatsächlich auch noch die Stirn zu haben, auf „rechts vor links“ zu bestehen, ist unglaublich – man stelle sich das mal mit Autos vor).
Oder, meine erklärten Lieblinge, erwachsene Menschen, die auf Fußwegen fahren. Und einem dann erklären, man möge ja mal bitte auf die Kinder aufpassen. Das sei ja gefährlich. Ach nee? Wirklich? Ist das vielleicht der Grund, warum Radfahrer verdammt noch mal auf die Straße gehören? Wer sich das nicht zutraut, muß eben laufen. Oder den Bus nehmen.

Naja, ehe ich mich jetzt in Rage schreibe:

Alles in allem scheint mir das Hauptproblem allerdings nicht das benutzte Verkehrsmittel zu sein, sondern eher die Menschen, die es benutzen. Ich bin ganz bestimmt niemand, der Regeln allein um der Regel willen eingehalten sehen möchte. Allerdings wünschte ich mir, gelegentlich würde immer mal wieder ins Gedächntis gerufen werden, daß hinter den meisten Regeln eine Idee steckt. Und ein derart komplexes System wie der Straßenverkehr ist darauf angewiesen, daß es Dinge gibt, auf die man sich verlassen kann. Zum Beispiel, daß wir alle rechts fahren. Und es verlangt der Respekt vor den anderen Menschen, darauf Rücksicht zu nehmen. Denn man gefährdet seltenst nur sich selbst…

Soweit die staatstragenden Worte für heute.

Einen habe ich noch:
Ist es eigentlich schon schizophren, seinem Kind auf dem Kindersitz einen Helm aufzusetzen, sich selbst aber nicht? So, als wäre das Auto, das einen umfährt nur für das Kind ein Problem, man selbst aber wird durch eine unsichtbare Macht geschützt? Oder ist es einfach nur dämlich?
Und da wir gerade dabei sind: Jeder Verkehrsteilnehmer weiß, daß alle anderen Idioten sind. Also: Setzt Helme auf. Ihr habt nur diesen einen Kopf.
Aber mit vernünftigen Argumenten kommt man da wohl nicht weit. Ich meine, wenn man mit einem Fahrrad mit einer Geschwindigkeit von knapp 100km/h enge Kurven bergab fährt und Stürze regelmäßig vorkommen, sollte doch der gesunde Menschenverstand sagen: Es gibt Helme? Prima, her damit!
Weit gefehlt. Es braucht eine Regulierung. Das ist im Übrigen eines der Grundübel: Ohne Zwang setzen sich selbst die vernünftigsten Ideen nicht durch. Was mich im Übrigen an der These des vernunftbegabten Wesens zweifeln läßt. Aber das ist ein anderes Thema.

Und, was hat der Hausheilige dazu zu sagen?

Der Deutsche fährt nicht wie andere Menschen. Er fährt, um recht zu haben. Dem Polizisten gegenüber; dem Fußgänger gegenüber, der es übrigens ebenso treibt – und vor allem dem fahrenden Nachbarn gegenüber. Rücksicht nehmen? um die entscheidende Spur nachgeben? auflockern? nett sein, weil das praktischer ist? Na, das wäre ja . . .
Es gibt bereits Frageecken in den großen Zeitungen, wo im vollen Ernst Situationen aus dem Straßenleben beschrieben werden, damit nun nachher wenigstens theoretisch die einzig ›richtige Lösung gestellt‹ werden kann – man kann das in keine andere Sprache übersetzen.
Als ob es eine solche Lösung gäbe! Als ob es nicht immer, von den paar groben Fällen abgesehen, auf die weiche Nachgiebigkeit, auf die Geschicklichkeit, auf die Geistesgegenwart ankäme, eben auf das Runde, und nicht auf das Viereckige! Aber nichts davon. Mit einer Sturheit, die geradezu von einem Kasernenhof importiert erscheint, fährt Wagen gegen Wagen, weil er das ›Vorfahrtsrecht‹ hat; brüllen sich die Leute an, statt sich entgegenzukommen – sie haben ja alle so recht!
Als Oberster kommt dann der Polizeimann dazu, und vor dem haben sie alle unrecht.
[in: Der Verkehr. Werke und Briefe: 1929, S. 694. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 7181 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 307) (c) Rowohlt Verlag]

*grmpf* Na, wenn er meint…

Ein Krieg ist ein Krieg ist ein Krieg ist ein Krieg

„Nenn die Dinge immer beim richtigen Namen. Die Angst vor einem Namen steigert nur die Angst vor der Sache selbst.“*
„Krieg [ahd. „Hartnäckigkeit“], organisierter, mit Waffengewalt ausgetragener Machtkonflikt zwischen Völkerrechtssubjekten oder zwischen Bevölkerungsgruppen (Bürgerkrieg) zur gewaltsamen Durchsetzung politischer, wirtschaftlicher, ideologischer oder miliutärischer Interessen.“**
„Wir machen einen Stabilisierungseinsatz und keinen Krieg“***

Ich habe lange überlegt, wie ich dieses Thema angehe. Habe mehrere Entwürfe geschrieben, die letztlich aber alle in einen derart mäandernden Wust ausarteten, daß selbst bei einem Blog mit meinem Header eine Publikation nicht zumutbar erschien. Stattdessen lasse ich einmal Bildern und freundlicher Musik den Vortritt.

Es gibt verschiedene Aspekte, warum mir vollkommen klar ist, warum Herr Jung sich standhaft weigert, den Afghanistan-Einsatz als das zu bezeichnen, was er ist. Es widert mich nur an, wenn er gleichzeitig Respekt für die Soldaten vor Ort fordert. Respekt, den zu zollen er selbst nicht bereit ist – sonst würde er ihnen zubilligen, was sie dort erleben: Krieg. Diese ganzen gräßlichen Euphemismen sprechen allem Hohn, was dort geschieht. Es geht dort (inzwischen?) um nichts anderes mehr als: Töten und/oder getötet werden.
Aber darum geht es mir nicht wirklich, denn wie gesagt, mir ist vollkommen klar, warum er in seiner Position sich außer Stande sieht, irgend etwas anderes zu sagen.
Für eine Gesellschaft, wie im Übrigen auch für jeden Einzelnen, ist es aber schwierig, wenn Probleme nicht korrekt thematisiert werden. Man kann eine Lösung immer nur dann finden, wenn die zu lösenden Probleme beim Namen genannt werden. Macht man sich schon bei der Analyse etwas vor, kann man sich den ganzen Aufwand auch sparen, man wird eine wirksame Lösung nur per Zufall finden. Dann aber braucht es auch gar keine Analyse. Dann kann man auch von vornherein auf Trial-and-Error setzen.
Also: Auch wenn es Automechaniker geben mag, die das anders handhaben (und über diese erregen sich die Betroffenen ja auch trefflich), wenn an einem Auto etwas nicht stimmt, dann schaut der Problemlöser doch erst einmal genau nach, wo das Problem eigentlich liegt und entscheidet dann, welche Lösungsstrategie passend ist. Und nur so kann es gehen.

Übrigens kann man das bei Frau Rowling, die ich eingangs zitierte, sehr gut lernen. Die Verdummungsstrategien, die Weigerung der öffentlichen Stellen, herannahendes Unheil zu benennen und anzugehen, stattdessen die beginnenden Probleme zu leugnen – und die Folgen, die solches Verhalten zeitigen kann, das führt sie wunderbar vor.

Und zum Schluß noch ein nicht zimperlicher Kommentar des Hausheiligen, der für die folgenden klaren Worte mächtig Ärger bekommen hat. Sie sind aber nichts anderes als die Demaskierung aller Euphemismen, mit denen Soldaten mythisiert werden. Was den Menschen, die Soldat waren, nicht im mindesten hilft:

Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder. Es ist ungemein bezeichnend, daß sich neulich ein sicherlich anständig empfindender protestantischer Geistlicher gegen den Vorwurf gewehrt hat, die Soldaten Mörder genannt zu haben, denn in seinen Kreisen gilt das als Vorwurf. Und die Hetze gegen den Professor Gumbel fußt darauf, daß er einmal die Abdeckerei des Krieges »das Feld der Unehre« genannt hat. Ich weiß nicht, ob die randalierenden Studenten in Heidelberg lesen können. Wenn ja: vielleicht bemühen sie sich einmal in eine ihrer Bibliotheken und schlagen dort jene Exhortatio Benedikts XV. nach, der den Krieg »ein entehrendes Gemetzel« genannt hat und das mitten im Kriege! Die Exhortatio ist in dieser Nummer nachzulesen.

aus: Der bewachte Kriegsschauplatz. in: Werke und Briefe: 1931, S. 553. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8532f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 253-254) (c) Rowohlt Verlag

Damit das Zitat auch stimmt, hier der Link zur Exhortatio. Allerdings wurde hier „orrenda carneficina“ (etwa: „grauenhaftes Abschlachten“) etwas mildernd als „entsetzliches Blutbad“ übersetzt. Wer des Italienischen mächtig ist, findet hier den italienischen Originaltext.

* aus: Rowling, Joanne K.: Harry Potter und der Stein der Weisen. Hamburg 1998, S. 323
** Der Brockhaus in 15 Bänden. Bd. 8 Koo-Lz. Leipzig, Mannheim. 1998
*** Verteidigungsminister Jung am 22.07.2009 zum Beginn der Offensive in Nordafghanistan

Ein Mißverständnis

Armeen haben es in einer offenen Gesellschaft nicht leicht. Strukturell völlig anders konzipiert, wirken sie nicht selten fremd, irgendwie anders.
Offene Gesellschaften neigen dazu, Konflikte eher nicht eskalieren zu lassen, sondern sie entweder im Konsens zu lösen oder zumindest einen modus vivendi zu finden.
Armeen jedoch, das liegt in der Natur der Sache, treten erst wirklich in Aktion, wenn ein Konflikt eskaliert. Das macht die Sache nicht einfacher.
Nun hat der Beauftragte für die Bundeswehr sich über mangelnde Unterstützung für die hiesige Armee in der Bevölkerung beklagt und behauptet, „die Intellektuellen“ hätten sich so gut wie nie mit der Bundeswehr beschäftigt.
Wie sehr viele Pauschalurteile ist auch dieses nahe am Unsinn. Wer einen Satz äußert wie: „Zum Beispiel die ganze intellektuelle Welt. Sie hat sich in den 60 Jahren Bundesrepublik so gut wie gar nicht um die Bundeswehr gekümmert.“ sollte sich fragen lassen, inwieweit er sich eigentlich in den letzten 60 Jahren um die intellektuelle Welt gekümmert hat. Für den Anfang möge er sich eine Liste mit Dissertationen zur Bundeswehr schicken lassen, anschließend empfehle ich den Besuch eines Zeitungsarchivs und zum Schluß kann er dann noch bei all den Bundeswehrangehörigen vorbeischauen, die auf Armeekosten studieren (oder sind das dann keine Intellektuellen?).
Aber über die alten Ressentiments der Militärs gegenüber Geisteswissenschaftlern und anderem Schreibtischgesocks möchte ich hier nicht weiter schreiben, mir geht es um etwas anderes.

Die „mangelnde Unterstützung in der Bevölkerung“ für die Bundeswehr halte ich für ein Gerücht, oder besser formuliert: Ein Mißverständnis.

Im Laufe der Jahre wurde viel über „Staatsbürger in Uniform“ geredet und damit suggeriert, die Bundeswehr sei eigentlich nichts anderes als, sagen wir mal, ein Krankenhaus oder ein Postamt. Die Dienstkleidung der Soldaten ist dann halt nur zufällig nicht weiß oder blau, sondern eben khaki.
Das ist aber Unfug, hoffe ich zumindest. Denn eine Armee kann ihren Job nur erledigen, wenn die konsequente Subordination funktioniert. Was auch immer gerne erzählt werden mag, im Falle eines Verteidigungsfalles muß an einer Stelle entschieden werden und das sollte dann auch ohne langwierige Diskussionen und Wiedervorlagen umgesetzt werden. Eine Armee, in der Parlamentsdebatten über den nächsten Schritt ausbrechen, wird kaum einen ernstzunehmenden Gegner abgeben. Selbstverantwortung des Soldaten hin oder her, Gewissensfreiheit schön und gut, aber, wenn es heißt: „Die oder Wir“ spielte und spielt das keine Rolle.
Nein, „Staatsbürger in Uniform“ meint einfach nur, daß die Soldaten nicht in einen anderen Staat wechseln, wenn sie ihre Dienstkleidung anlegen (man hat da so Erfahrungen gemacht…). Ansonsten aber bleibt eine Armee eine Armee. Und in einer Armee werden Aufträge erteilt und ausgeführt.

Derzeit gibt es eben beispielsweise den Auftrag, in Afghanistan Schulen zu bauen und Gegner dieser Idee daran zu hindern, die Bundeswehr bei der Ausführung ihres noblen Auftrages zu stören.
In der Bevölkerung hierzulande melden sich nun aber viele Stimmen, die meinen, unsere Armee führe da einen Auftrag aus, für den sie gar nicht zuständig sei (und es gibt gute Gründe, die Interpretation des Verteidigungscharakters, den Herr Struck diesem Einsatz zubilligt, anzuzweifeln). Dies interpretiert Herr Robbe nun also als „mangelnde Unterstützung“ für die Bundeswehr.

Und genau das ist ein Mißverständnis. Freilich, die Denkstruktur einer Armee läuft zwangsläufig auf ein „Für uns oder gegen uns“ hinaus legt die Identifikation des Auftragnehmers mit dem Auftrag nahe. Soldaten, die von der Richtigkeit ihres Tuns vollkommen überzeugt sind, waren schon immer die effektivsten Soldaten.
So aber wird in offenen Strukturen nicht gedacht. Dort ist die getrennte Bewertung von Auftrag (Schulen bauen und Taliban killen in Afghanistan) und Auftragnehmer (unsere Jungs) durchaus üblich.
Anders gesagt:
Man kann die Bundeswehr für eine dufte Truppe halten, die Spitzenarbeit macht, aber trotzdem der Meinung sein, sie solle diese vielleicht nicht grade in Afghanistan verrichten.
Sprich:
Die Ablehnung betrifft eher den Auftraggeber, bzw. den Auftrag selbst, nicht aber zwangsläufig den Auftragnehmer, der ja schlicht nur seinen Job macht (wobei ich nicht gesagt haben will, daß es niemanden gäbe, der beides ablehnt, bzw. der auch beides toll findet).
Würde der gute Herr Robbe nämlich einmal Umfragen in seine Betrachtungen einbeziehen, die diesem Umstand Rechnung tragen (wie diese hier zum Beispiel, die er kennen sollte), wäre ihm klar, was seine Behauptung ist: Unsinn (sollte es ihm klar sein, was naheliegend ist, müßten wir dies freilich anders bezeichnen, aber ich interpretiere hier mal wohlwollend).
Daß sich dies für die Soldaten, die in Afghanistan sind, anders darstellt und ihr sowieso schon nicht gerade ersprießlicher Alltag dort von einer solchen Ablehnung daheim nicht angenehmer wird, sei zugegeben.

Die Armee ist ein Thema, mit dem sich der Hausheilige recht ausführlich beschäftigt hat, ich möchte ihn an dieser Stelle mit einem Hinweis darauf zitieren, warum es wichtig ist, daß die Bundeswehr eben nicht außerhalb der Gesellschaft stehen darf (ihr wißt schon, der „Staatsbürger in Uniform“):

Bis dahin stand man sich als Mitmensch und Gegner gegenüber, – wenn man aber nicht mehr weiter kann, befiehlt man ›dienstlich‹. Praktisch: die Kommandogewalt gilt immer. Das ist eine gefährliche Waffe in Händen von Leuten, die noch nicht weit genug sind, um zwischen Privatverhältnissen und dem Dienst zu unterscheiden. Im Gegenteil: nachts um zwei, wenn man nicht mehr gerade stehen kann, hört die Gemütlichkeit, aber auch der Dienst auf.

[in: ‚Dienstlich‘. Werke und Briefe: 1913, S. 108. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 570 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 1, S. 119-120) (c) Rowohlt Verlag]

Vive la revolution

In Frankreich, dem europäischen Mutterland der modernen und durchaus auch mordenden Revolution ist mal wieder high life. Die traditionellen Formen des Arbeitskampfes wie Streiks, Betriebsbesetzungen und Großdemonstrationen wurden im Nachbarland in den letzten Jahren ja deutlich erweitert. Geiselnahmen beim Führungspersonal zum Beispiel. Oder eben jetzt neu: Bombendrohungen.
Die Romantiker des proletarischen Kampfes wünschen sich auch hierzulande ein etwas kämpferisches Proletariat, Frau Schwan rechnet sogar mit baldigem Einsetzen der offenen Revolte. Eines allerdings wird dabei gerne vergessen: Die Ergebnisse in Frankreich sind keineswegs besser als die hier erzielten. Noch so große Proteste haben Sarkozys Sozialkürzungen nicht im mindesten verhindert (und man muß hier auch mal deutlich sagen: Wer hat den denn gewählt? Ist ja nicht so, daß er ein Geheimnis aus seinen Plänen gemacht hätte – die weitverbreitete Neigung, Politikern nicht zu glauben, hat auch Nachteile), die Geiselnahmen brachten auch nichts ein – und hüben wie drüben werden Produktionen im selben Ausmaß verlagert. Natürlich sind Generalstreiks im Mehrjahresrhythmus beeindruckender als endlose Tarifverhandlungen mit Schlichtungskommissionen – aber soweit mir bekannt ist, hat trotzdem in Frankreich noch nicht das Paradies Einzug gehalten.
Also, unabhängig davon, daß die Gewerkschaften viele Fehler machen und ihr zurückgehender Einfluß durchaus nicht nur äußere Ursachen hat, es ist keineswegs so, daß lauter Protest zwangsläufig zu besseren Ergebnissen führt. Und den Erfolg sollte man doch an den Ergebnissen messen.
Nichtsdestotrotz sollten wir die Augen offen halten und uns nicht vom Kapital einlullen lassen. Irgendwann ist nämlich mal genug – und eines sollte klar sein: In einem Land, in dem nicht jährlich zum Generalstreik aufgerufen wird, würde ein solcher sehr viel mehr bewirken können. Und nun erteile ich dem Hausheiligen das Wort:

Ruhe und Ordnung

Wenn Millionen arbeiten, ohne zu leben,
wenn Mütter den Kindern nur Milchwasser geben –
das ist Ordnung.
Wenn Werkleute rufen: »Laßt uns ans Licht!
Wer Arbeit stiehlt, der muß vors Gericht!«
Das ist Unordnung.

Wenn Tuberkulöse zur Drehbank rennen,
wenn dreizehn in einer Stube pennen –
das ist Ordnung.
Wenn einer ausbricht mit Gebrüll,
weil er sein Alter sichern will –
das ist Unordnung.

Wenn reiche Erben im schweizer Schnee
jubeln – und sommers am Comer See –
dann herrscht Ruhe.
Wenn Gefahr besteht, daß sich Dinge wandeln,
wenn verboten wird, mit dem Boden zu handeln –
dann herrscht Unordnung.

Die Hauptsache ist: Nicht auf Hungernde hören.
Die Hauptsache ist: Nicht das Straßenbild stören.
Nur nicht schrein.
Mit der Zeit wird das schon.
Alles bringt euch die Evolution.
So hats euer Volksvertreter entdeckt.
Seid ihr bis dahin alle verreckt?
So wird man auf euern Gräbern doch lesen:
sie sind immer ruhig und ordentlich gewesen.

[Ruhe und Ordnung. in: Werke und Briefe: 1925, S. 26. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 3414 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 4, S. 17) (c) Rowohlt Verlag]

Das Leben als Reise

Das Bestattungsgewerbe gilt als krisensicher. Es gibt schließlich nur wenige Dinge, deren Unabänderlichkeit so unzweifelhaft ist wie das Ende unseres Daseins in dieser Welt. Oder, etwas profaner, dafür pointierter ausgedrückt: Gestorben wird immer.
Genau genommen läge also nichts näher, als ein Bestattungsinstitut zu eröffnen, um finanzmarktsicher Geld zu verdienen.
Aber, wie so viele andere Branchen, hat auch das Bestattungsgewerbe so seine Besonderheiten. Die Besonderheit in diesem Falle sind die Kunden. Die kommen nicht gerne und das trotz der evidenten Notwendigkeit des angebotenen Produktes. Die Menschen werden nicht gerne an ihre Endlichkeit erinnert. Und wenn sie dann einmal daran denken, welches Angebot nehmen sie dann wahr?
Es gibt Anbieter, die versuchen es mit der aus anderen Branchen bekannten Strategie: Der Preis macht´s. Gefällt mir persönlich nicht so. Zum einen wußte der Hausheilige bereits: „Man achte immer auf Qualität. Ein Sarg zum Beispiel
muß fürs Leben halten.“*
Zum anderen wage ich zu bezweifeln, daß eine Beerdigung, bei der nichts so sehr zählt wie der niedrige Preis, so gestaltet wird, daß die Teilnehmer wirklich das Gefühl haben, Abschied von einem für sie wichtigen Menschen zu nehmen.

Ein, aus meiner Sicht, schöneres Beispiel für das Schaufenster eines Beerdigungsinstituts fand ich in Lübeck.
Gelungen finde ich, wie hier in der Schaufenstergestaltung der Focus auf das Leben gerückt wird.
Im ersten Fenster wird, in einer Küstenstadt zugegebenermaßen naheliegend, das Thema der Lebensreise und deren Ende maritim umgesetzt. „Sterben“ als „Ankommen“ zu interpretieren, mithin positiv zu belegen, ist nicht ganz neu, aber der Slogan „Am Ende der Reise gut ankommen“ als Werbung für die Qualität des eigenen Angebots hat mir gefallen.
Im zweiten Fenster, das erkennt man dank meiner eher preiswerten Schnappschußkamera eher schlecht, wird der Tod nicht als zu bewältigender Verlust thematisiert, sondern als Gewinn an Erinnerung.
Zugegeben, die Zitate erzählen das Übliche, aber auch hier interessiert mich gar nicht so sehr die spritzige Originalität, sondern der Ansatz.
Die beiden Schaufenster bringen eine positive Botschaft, ohne dabei der kulturell vorgesehen Pietät, dem Respekt vor der Endlichkeit unseres Seins, der Tatsache, daß Bestattungensunternehmen keine Metzger oder Sockenverkäufer sind, keine Rechnung zu tragen.
Und zwar, und das unterscheidet die Schaufenster von allem, was ich bisher so gesehen habe, ohne dabei einen krampfhaften Spagat zu versuchen.
Leider kann die Website des Unternehmens da nicht mithalten…

Soweit meine unsortierten Gedanken dazu. Zum Abschluß noch ein Kommentar des Hausheiligen zum Thema Menschen und ihr Verhältnis zum Tod:

„Der Mensch möchte nicht gern sterben, weil er nicht weiß, was dann kommt. Bildet er sich ein, es zu wissen, dann möchte er es auch nicht gern; weil er das Alte noch ein wenig mitmachen will. Ein wenig heißt hier: ewig.“

in: Der Mensch. [Werke und Briefe: 1931, S. 498. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8478 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 231) (c) Rowohlt Verlag]

* in: Schnipsel. [Werke und Briefe: 1932, S. 30. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8746 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 20) (c) Rowohlt Verlag]

Die Rede zur aktuellen Krise…

… hält heute der Hausheilige dieses Blogs, Dr. jur. Kurt Tucholsky.

Kapital und Zinsen und Zubehör.
So lassen wir denn unser großes Malheur
nur einen, nur einen entgelten:
Den, der sich nicht mehr wehren kann,
Den Angestellten, den Arbeitsmann;
den Hund, den Moskau verhetzte,
dem nehmen wir nun das Letzte.
Arbeiterblut muß man keltern.
Wir sparen an den Gehältern –
immer runter!

Unsre Inserate sind nur noch ein Hohn.
Was braucht denn auch die deutsche Nation
sich Hemden und Stiefel zu kaufen?
Soll sie doch barfuß laufen!
Wir haben im Schädel nur ein Wort:
Export! Export!

Was braucht ihr eignen Hausstand?
Unsre Kunden wohnen im Ausland!
Für euch gibts keine Waren.
Für euch heißts: sparen! sparen!
Nicht wahr, ein richtiger Kapitalist
hat verdient, als es gut gegangen ist.
Er hat einen guten Magen,
Wir mußten das Risiko tragen . . .
Wir geben das Risiko traurig und schlapp
inzwischen in der Garderobe ab.

Was macht man mit Arbeitermassen?
Entlassen! Entlassen! Entlassen!
Wir haben die Lösung gefunden:
Krieg den eignen Kunden!
Dieweil der deutsche Kapitalist
Gemüt hat und Exportkaufmann ist.
Wußten Sie das nicht schon früher -?
Gott segne die Wirtschaftsverführer!

[Die Lösung. in: Werke und Briefe: 1931, S. 589. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8568-8569 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 269-270) (c) Rowohlt Verlag]

Die lachenden Erben

Die UNESCO hat also entschieden, daß ein Elbtal mit Autobahnbrücke irgendwie anders aussieht als ohne.
Da aber unglücklicherweise das Elbtal ohne Autobahnbrücke erhalten werden sollte, blieb der UNESCO wohl nichts anderes übrig, als festzustellen, daß das Erbe verloren ist.
Über die Starrsinnigkeit vor Ort wurde reichlichst geschrieben.
Und auch die Tatsache, daß das wunderbare föderale System so hervorragend funktioniert, daß ein Bürgerentscheid in Dresden es ermöglicht, völkerrechtliche Verträge zu ignorieren, lasse ich hier mal außer Betracht.
Viel interessanter finde ich die Reaktion in Dresdner Politikerkreisen und so etlichen BürgerInnen in der Stadt.
Denn deren Aussagen offenbaren ein völliges Mißverständnis der Welterbeliste. Die Liste ist keine Sammlung von touristischen Reisetipps. Die Idee hinter der UNESCO-Liste und den damit verbundenen Verträgen ist eigentlich, für die Menschheitsgeschichte relevante Gebäude, Landschaften, Kunstwerke etc. zu schützen, Verantwortung für ihren Erhalt zu übernehmen. Deshalb konnte beispielsweise Quedlinburg auch Mittel vom Bund bekommen, um seine Altstadt zu sanieren.
Daß der Erhalt solcher Denkmäler samt Erwähnung in den diversen Publikationen zur UNESCO-Welterbeliste zu einem Zustrom von Touristen führt und damit der Welterbetitel eine wirtschaftliche Bedeutung bekommt, ist durchaus nicht unbeabsichtigt, aber eben eher Mittel zum Zweck (nämlich der weiteren Erhaltung).
Und eben diese Wirkung scheint mir im Dresdner Selbstverständnis, gepaart mit einer ordentlichen Portion Arroganz, die ursprüngliche Idee des Welterbetitels verdrängt zu haben.
Wirklich großartig wird es aber dann, wenn bedauert wird, daß die UNESCO keinen Respekt vor Bürgerentscheiden habe. Knaller. Da stellen sich sich also Menschen hin, für die es in Anbetracht einer Autobrücke zweitrangig ist, daß ein internationales Gremium eine Kulturlandschaft für so wichtig hält, daß sie ihr Bedeutung für die gesamte Menschheit zubilligt, und klagt mangelnden Respekt davor ein, daß es eben den Menschen, die dort wohnen, wichtiger ist, staufrei aus oder in die Stadt zu kommen? Und da reden wir noch gar nicht davon, daß den Dresdnern ja nach Bekanntwerden der UNESCO-Bedenken keine Gelegenheit gegeben wurde, diese Wichtung noch einmal zu überdenken. Stattdessen wurde da ein Bürgerentscheid instrumentalisiert – und da wagt man es, über mangelnden Respekt zu reden?
Und das, wo sich Dresden doch bitte schön ganz freiwillig zum Erhalt des Elbtals verpflichtet hat. Oder hat irgendjemand Dresden zu einer Bewerbung um die Aufnahme ins Weltkulturerbe gewzungen? Mangelnder Respekt der UNESCO? Weil die der Meinung ist, Verträge seien nunmal einzuhalten? Geht´s noch?

Im Übrigen teile ich den Optimismus der Dresdner Entscheider nicht so uneingeschränkt. Natürlich wird der Tourismus in Elbflorenz nicht zusammenbrechen. Und mit der Waldschlößchenbrücke wird man einen weiteren festen Punkt in der Sightseeing-Tour haben („Und hier sehen Sie die Brücke, die Dresden dem Welterbetitel vorgezogen hat.“ – „Ahhh“). Aber: Ich bin mir nicht sicher, ob die Nichterwähnung in den Publikationen der nächsten Jahre zum Weltkulturerbe, die Nichtberücksichtigung bei Rundreiseprogrammen zu Welterbstätten etc. wirklich ohne Auswirkungen bleiben wird.

Soweit also meine unsortierten Gedanken zu dieser Problematik und nun noch eine Anmerkung des Hausheiligen zum Förderalismus deutscher Prägung:

„Aber was wir noch alles haben, und wofür in diesem Lande, das von der
Tuberkulose durchseucht ist und dessen Säuglingssterblichkeit nicht kleiner wird, noch Geld übrig ist, das ist schon ganz lustig. Hamburg hat einen Gesandten in Berlin (ob der auch einen Dolmetscher hat, ist noch nicht ganz heraus), – Preußen hat einen Gesandten in Dresden, jedes kleine Ländchen hat den ganzen Aufbau der großen Ministerialmaschine noch einmal, und ich kann mir die von Stolz und Wichtigkeit geschwellte Brust eines solchen Mannes vorstellen, wenn auch er ganz wie ein richtiger Erwachsener Minister spielt.“
[in: Das Reich und die Länder. Werke und Briefe: 1922, S. 36. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 9504 (vgl. Tucholsky-DT, S. 302) (c) Rowohlt Verlag]

Die Meute

Wer kennt das nicht?
Egal, ob Rabattaktion, Sonderverkauf oder gar Neueröffnung. Es spielen sich immer wieder dieselben Dramen ab.
Diejenigen Mitglieder des geneigten Lesepublikums, die das Glück haben, im Einzelhandel arbeiten zu dürfen, werden das Szenario kennen:
Die Mitarbeiter mit dem alleinseligmachenden Ladenschlüssel in der Hand werden sehnsüchtig erwartet, als stünde die Ankunft des Heilands oder gar St. Baracks persönlich bevor.
Allerdings mit einer unglaublichen Ungeduld, die sich indirekt proportional zur bis zur offiziellen Ladenöffnung fehlenden Zeit verhält. Die Angst, wieder mal zu kurz zu kommen, wieder mal was zu verpassen, wieder einmal nicht auf der Siegerseite zu stehen – wie ja so oft im Leben, treibt die Menschen zu seltsamen Verhalten.
Da wird an Türen geklopft, da werden die Mitarbeiter angeblafft („He, was machen Sie denn so lange?“, „Wenn alle so arbeiten würden…“, „Kein Wunder, daß hier nie jemand was kauft.“), es spielen sich Unmutszenen ab, als stünden wir kurz vor der Revolution, weil dem Volke die elementaren Rechte vorenthalten werden.
Wer einmal in einer solchen Meute gestanden hat, weiß, wie man Revolutionen anzettelt: Mit Rabatten und geschlossenen Ladentüren.
Einfach ganz groß „Heute Fernseher nur 10 EUR!“ ins Schaufenster hängen und dann nicht öffnen. Da hat´s sich dann aber mit „Friedliche Revolution“.

Es hilft übrigens gar nichts, den Laden wie jeden Tag pünktlich zu öffnen – denn natürlich hat der Einzelhandelsmitarbeiter nur hinten im Lager gestanden und Däumchen gedreht, einzig und allein, um Frau Erna Schmittke und Opa Alfons vom Erwerb des überlebensnotwendigen Toasters für 9.99 € abzuhalten – dafür standen sie ja auch extra schon drei Stunden vorher da. Und überhaupt ist das doch eh alles Betrug, man wird eh immer übervorteilt.
Wenn die Menschen nur genau so viel Ehrgeiz und Energie in Dinge stecken würden, die sie wirklich betreffen, bei denen ihre Existenz wirklich bedroht ist – es ginge diesem Lande besser.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, meint das Grundgesetz. Doch an jeder Wühlkiste des Landes wird sie freiwillig weggeworfen.

Und was meint der Hausheilige dazu? Hat er sowas auch schonmal beobachtet?

„Drängeln Se doch nich so . . . Nein, ich drängle gar nicht! . . . Ochse! . . . Un-
glaublich. Wir kommen ja gleich ran, wir waren zuerst hier. Warten Sie auch nochn bißchen? ne Gold-
grube, diß Geschäft, was meinen Sie! Die verdienen hier, was se wolln.“
[in: Herr Wendriner kauft ein. Werke und Briefe: 1924, S. 294. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 3270 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 3, S. 486) (c) Rowohlt Verlag]

Jack Sparrow for President

Das gestern beschlossene Zensurgesetz (und um nichts anderes handelt es sich, wie schon nach kürzester Zeit klar wurde, da Herr Strobl ja schon nach wenigen Stunden eine Erweiterung fordert) hat bereits im Vorfeld, aber auch im direkten Umfeld zu massiven Erschütterungen bei häufig jungen Menschen geführt.
Diese, politisch durchaus interessierten, Menschen sind insbesondere von der SPD enttäuscht. Die Union galt nicht wenigen eh als unwählbar und gestrig, aber das peinliche Verhalten der SPD in einer offenbar als Nagelprobe zu verstehenden Debatte, in der die Sozialdemokraten ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem „Kröten schlucken“ (Martin Buchholz) nachgingen und eine nach der anderen herunterwürgten, hat viele nicht nur an der SPD, sondern z.T. sogar am ganzen System verzweifeln lassen. Wie zum Beispiel Anke Gröner, die den Glauben an die FDGO verloren hat. Oder Johnny Häusler, der auf Spreeblick der SPD auf Nimmerwiedersehen wünscht und Thorben Friedrich bringt es in seinem offenen Brief, in dem er seinen Austritt ankündigt, auf den Punkt, wenn er schreibt:

Tritt das Gesetz in Kraft, trete ich aus der SPD aus und verabschiede mich von einer meiner Generation fremden Partei.

Unter den Kommentatoren des taz-Artikels zum Bundestagsbeschluß befindet sich denn auch der Nutzer „Gerüst“, der meint:

19.06.2009 14:15 Uhr:
Von Gerüst:
Ich war 16 Jahre lang treuer SPD-Wähler. Nun werden die meine Stimme nie wieder bekommen. Diese Partei lügt und betrügt und ist es nicht mehr wert gewählt zu werden.
Armes Deutschland!
Gott sei Dank gibt es mittlerweile Alternativen!

Gemeint ist wohl die inzwischen zu einiger Berühmtheit gelangte Piratenpartei, die in Schweden ja ein Europaparlamentsmandat errangen.
Auf der Suche nach Alternativen kann hier tatsächlich eine Generation fündig werden, für die das Internet, die digitale Welt überhaupt, Bestandteil der eigenen Lebenswirklichkeit, nicht selten der persönlichen Identität ist. Diese Partei greift entschieden und deutlich Fragen auf, die der „Generation online“ wichtig sind. Fragen und Problemkreise einer Generation, die sich sonst nur kaum bis gar nicht im etablierten Parteienspektrum wiederfindet, die nicht selten ignoriert werden, die arrogant beiseite geschoben werden (die Petition mit 134.000 (!!!) Mitzeichnern wird nonchalant in der nächsten Legislatur beraten, wo dann eine „Würdigung“ des beschlossenen Gesetzes vorgenommen werden kann, wie der Petitionsausschuß mitteilt).
Kurz:
Die Piratenpartei trifft den Nerv einer Generation. Sicher, sie erscheint momentan etwas monothematisch, aber dies ist kein Hindernis für eine erfolgreiche Etablierung, wie wir ja bereits an den Grünen sehen konnten, die auch eher mit einem klar umgrenzten Themenspektrum, dafür aber mit großer Mobilisierungskraft, gerade unter Jüngeren, antraten.
Unter diesem Aspekt halte ich die Piratenpartei für die spannendste Neugründung der letzten Jahre, jedenfalls alle mal relevanter als die unzähligen „Generationenparteien“ wie 50plus, Rentnerpartei oder Die Grauen, die nicht viel mehr zu bieten haben, als eben „Rentner“ im Namen stehen zu haben. Auch den Esoterikern bei den Violetten traue ich keine Relevanz zu. Aber, das kann natürlich auch daran liegen, daß ich die tiefere Wahrheit, die diese Welt im Innersten zusammenhält, noch nicht erkannt habe (was wahrscheinlich an meinem miesen Karma liegt) oder mal wieder die Aura putzen und die Chakren sortieren muß.

Das einzige, was mir Sorgen macht, ist die weitere Aufsplitterung einer im weitesten Sinne „progressiv“ zu nennenden Gesellschaftsschicht, der ein alles in allem immer noch recht kohärenter konservativer Block gegenüber steht. Ich habe das Gefühl, daß da die progrssiven Kräfte mal wieder ihren Lieblingsfehler begehen und sich lieber gegenseitig zerfleischen, als gemeinsam und entscheiden vorwärts zu gehen.

Soweit meine unsortierten Gedanken dazu und zum Schluß noch ein Kommentar des Hausheiligen:

Deutschland! wach auf und besinne dich!
Nur einen Feind hast du deines Geschlechts!
Der Feind steht rechts!
[in: Preußische Presse: Werke und Briefe: 1919, S. 232. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1342 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 109) (c) Rowohlt Verlag]

Ich bin der FDP dankbar

Und das kommt selten genug vor. Freilich, die Damen und Herren werden ihre Motive haben, aber nichtsdestotrotz: die Antwort der Budnesregierung auf Kleine Anfrage der FDP sollte jedem des Lesens Kundigen die Augen öffnen über die unfaßbare inhaltliche Grundlage des gestern beschlossenen Internetzensurgesetzes.
Kurz zusammengefaßt läßt sich sagen, die Bundesregierung hat keine Ahnung, ob ein über kommerzielle Webseiten organisisierter Markt für Kinderpornographie überhaupt existiert, geschweige denn wie er überhaupt organisiert ist. Und das, was sie nicht weiß, hat sie noch nicht einmal selbst herausgefunden, sondern sich von anderen Regierungen erzählen lassen.
Etwas zugespitzt, aber die Lage sehr gut verdeutlichend, haben die Kollegen bei ODEM die Antwort zusammengefaßt.
Sehr hilfreich in diesem Zusammenhang auch die Zusammenstellung der ZEIT zu den schlicht unsachlichen Argumentationen Frau von der Leyens (aka „Zensursula“).
Aber, letztlich, was wollen wir erwarten, wenn selbst Staatsanwälte in Prozessen um Internetkriminalität sich von den Angeklagten erstmal erklären lassen müssen, was sie da eigentlich so anklagen und wie das überhaupt so geht mit dem Zwischennetz. Bestes Beispiel dazu: Der Pirate-Bay-Prozess
Mir stellt sich hier nun die Frage:
Warum das alles? Was steckt dahinter?
Handelt es sich hier nur um den üblichen Aktionismus wie beim Waffengesetz, dessen Verschärfung ja auch nichts ändert, aber das beruhigende, wohlige Gefühl gibt, irgendetwas getan zu haben?
Oder geht es um mehr? Ist der nun eingetretene Dammbruch, nämlich Seiten für Nutzer sperren zu dürfen, wirklich nur blauäugig oder gar gewollt? Immerhin zensiert China das Netz ja auch nur, um gegen Pornographie und Terrorismus vorzugehen. Und dagegen kann man ja nun wohl nichts haben, oder?
Ich werde das Gefühl nicht los, daß StaSi2.0-Schäuble da die Ursula nur vorgeschickt hat.
Und die hat sich dann ja auch gleich mit voller Leidenschaft ins Zeug geworfen und allen Ernstes behauptet, diese Stopp-Schilder wären ein wirksames Mittel gegen die Vergewaltigung von Kindern. Gleichzeitig freilich bleibt straffrei, wer auf solche Seiten surft. Der ganze Aufwand dient also noch nicht einmal dazu, irgendjemanden zu belangen.
Ich mußte dabei an diese wunderbare Szene in „Independance Day“ denken, in der dem Präsidenten erklärt wird, warum er nie über die tatsächliche Existenz von Area 51 aufgeklärt wurde: „100% glaubwürdiges Dementi“. Und genau so überzeugend wirkt Frau von der Leyen. So, als würde sie das tatsächlichen GLAUBEN.
Ich persönlich glaube derzeit, es geht hier um mehr. In welche Richtung genau, ist mir noch nicht klar. Eine allerdings hat die CDU/CSU selbst ja schonmal zugegeben.
In der Pressemitteilung zur Niederlage der Kritiker in der SPD steht: „Damit ist eine gefährliche Entwicklung gestoppt worden. Unter Berufung auf eine angebliche Internetzensur durch den Staat wollten die Linksaußen in der SPD durchsetzen, dass das Internet zum rechtsfreien Raum wird. Die SPD wäre dadurch Gefahr gelaufen, Straftaten im Internet Vorschub zu leisten, von der Vergewaltigung und Erniedrigung kleiner Kinder bis hin zu Urheberrechtsverletzungen in breitestem Ausmaß gegenüber Künstlern und Kreativen.“
Aha. Es wird also immer nur um Kinderpornographie gehen? Wers glaubt, wird selig.
Diese ganze Sache samt schlichten Ignorierens einer 134.000-Unterschriften-Petition (ach halt, wird ja gar nicht ignoriert, man berät ja schon in der nächsten Legislatur darüber…) ist derartig frustrierend, daß ich allmählich geneigt bin, in den Politiker-Bashing-Chor einzustimmen.

Soweit für heute meine unsortierten Gedanken dazu und zum Schluß noch ein Kommentar des Hausheiligen in Sachen Dammbruch bei der Zensur, seinerzeit gegen das „Schmutz- und Schundgesetz“:

Heute ist es noch ›Der Junggeselle‹ und das ›Berliner Leben‹, heute sind es noch die
nackten, unwahrscheinlich dünnen Beine jener Figurinen in usum masturbantium; morgen ist es eine unwillkommene Wandervogelzeitschrift, eine Schulpublikation für revolutionär empfindende Schüler – und übermorgen sind es, woran kein Zweifel: wir.
Die bestehende Gesetzgebung reicht aus, um das in der Literatur zu verbieten, was wahrhaft schädlich und häßlich ist: die Auslegung der Paragraphen durch die Gerichte ist weit genug. Mehr brauchen wir nicht. Und mehr hieße, unter anderm, die Wirkung dieses Schundes überschätzen.
[in: Eveline, die Blume der Prärie: Werke und Briefe: 1926, S. 477. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 4559 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 4, S. 505) (c) Rowohlt Verlag]

Die Buchhändlerin von Welt…

… trägt in dieser Saison weder Chanel No5, noch D&G The One oder gar Cacharel Loulou, sondern natürlich: Buch
Schließlich wußte ja schon Seneca „Optimus odor in corpore est nullus“ (in etwa: Der beste Körpergeruch ist keiner) – und welcher Duft als die sanfte Mischung aus frischer Duckerschwärze, getrocknetem Leim und weichem Papier wäre wohl besser geeignet, um in einer Buchhandlung olfaktorisch quasi zu verschwinden?
Identitätskrisen, ausgelöst durch verwirrte Kunden („Sind sie ein Buch?“), sind freilich nicht auszuschließen, aber, hey, Berufsrisiken gibt es überall.
Und mal unter uns Gebetsschwestern gesprochen: Da haben wir schon ganz andere Dinge gehört.
Für die KollegInnnen des Antiquariats ist im übrigen bereits ein Produkt mit leicht muffiger Note in Arbeit.
Und sang schließlich nicht auch schon Kurt Cobain „Smells like book spirit“?

Wir sehen also: Der sinnfreien Produkte gibt es viele und ich möchte nicht mal ausschließen, daß eine erhebliche Zahl Kunden diese auch kauft.

Und zum Schluß noch ein Text des Hausheiligen zu eben diesem Thema:

Wenn Sie im Kranz Ihrer Geschäftsfreunde und schöner Frauen bei wohlgepflegtem, schäumendem Sekt sitzen, während Ihr behaglicher, vornehmer und taktvoller Haushalt Sie umgibt, dann vergessen Sie nicht, unsern Luxusapparat ›Kokmès‹ bei der Hand zu haben. Die faszinierende Wirkung Ihrer festlichen Geselligkeit wird dadurch noch erhöht; keine elegante und gepflegte Frau von Welt ist ohne denselben denkbar. ›Kokmès‹ ist ohne jede schädliche Nebenwirkung, weil es überhaupt keine hat. Wir fabrizieren es nur, um die hohen Anzeigenpreise wieder hereinzubringen, und wir inserieren, um fabrizieren zu können. Und so symbolisieren wir, was uns am meisten
am Herzen liegt: die deutsche Wirtschaft -!
[in: Werbekunst oder: Der Text unserer Anzeigen. Werke und Briefe: 1927, S. 947. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 5669 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 5, S. 431) (c)Rowohlt Verlag]

gefunden bei: Kaliban

Die Verfassung ist keine Loseblattsammlung

„Verfassung (Konstitution, Grundgesetz), die Grundordnung einer juristischen Person, bes. die eines Staates.“ (Der Brockhaus in fünfzehn Bänden. Leipzig, Mannheim. 1999)
Soso, die Grundordnung.
Mithin ist davon auszugehen, daß in einer solchen Verfassung, so sie denn schriftlich fixiert ist, nur die wesentlichen, grundlegenden Prinzipien eines Staates stehen.
Ich beobachte aber in letzter Zeit einen gewissen Hang zur Beliebigkeit. Aus verschiedensten Beweggründen, deren Lauterkeit ich nicht zwangsläufig in Abrede stellen will, werden Initaiven gestartet, dieses und jenes im Grundgesetz zu verankern.
Dabei geht es sowohl um reine Symbolpolitik (z.B. Kinderrechte – keines der dort aufgeführten Rechte wäre eine Ergänzung, es sei denn natürlich, man definierte Kinder nicht als Menschen) als auch um verbrämte Symbolpolitik, wie die jüngst beschlossene „Schuldenbremse“. Denn diese verhindert weder neue Schulden (es gelten ja dieselben Ausnahmeregelungen wie schon bei der bereits bekannten „Investitionen dürfen nicht niedriger sein als die Schulden“-Regel – und deren Dehnbarkeit ist bekannt), erfüllt also nicht den angeblichen Zweck und ist mithin nur Symbol, noch hat sie irgendeinen Sinn – Schulden sind ja nicht per se schlecht, wie jeder Unternehmer bestätigen wird. Entscheidend ist vielmehr, warum und zu welchem Zweck Schulden aufgenommen werden.
Nun ist aber eine Verfassung kein Gesetz, das man mal eben nach Gusto oder Wetterlage verändern sollte. Jede Änderung, jeder Eingriff in die Verfassung muß wohlüberlegt sein, seine grundsätzliche Bedeutung diskutiert und seine Auswirkungen genauestens bedacht werden.
Widrigenfalls, und diese Sorge habe ich, droht ein Abrutschen in die Beliebigkeit. Und das wäre nun fatal. Denn wie will eine Gesellschaft auf einem sicheren Fundament stehen, wenn dieses selbst eher auf Sand gebaut zu sein scheint, weil es sich ständig bewegt?
Mir scheint, hier hat ein seltsamer Geist in die Politik Einzug gehalten, der die Verfassung für ein Instrument der Tagespoltik hält.
Ergänzend dazu ein Kommentar Tarik Ahmias zur Unsinnigkeit der Regelung an sich: taz-Kommentar

Und zum Schluß noch eine Anmerkung des Hausheiligen zum Thema Geist der Politik:

Wir glauben, daß
das Wesentliche auf der Welt hinter den Dingen sitzt,
und daß eine anständige Gesinnung mit jeder, auch
mit der schlechtesten, Vorschrift fertig wird und sie
gut handhabt. Ohne sie aber ist nichts getan.
Was wir brauchen, ist diese anständige Gesinnung.
[in: Wir Negativen. Werke und Briefe: 1919, S. 112. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1222 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 55-56) (c) Rowohlt Verlag]

Man kann ja nicht alles wissen…

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Bestätigt aber nur mein Vorurteil, daß die Idee, Beamte, denen die Interessen ihrer Clique mehr am Herzen liegen als die des Gemeinwesens, sei ein Thema für Gegenden mit höherer Jahresdurchschnittstemperatur oder Kampfschlumpfregenten, reine Selbsttäuschung ist.

Wovon ich rede?
Hiervon:
Abitur ohne Merkel

Und was meint der Hausheilige dazu?

Und entscheidend ist nicht nur der Minister – gerade der
oft nicht – sondern der mittlere, ja selbst der untere
Exekutivbeamte, der sabotieren und warnen, abdrehen
und aufplustern kann – wie es ihm paßt.
[in: Verfassungstag. Werke und Briefe: 1922, S. 346. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 2748 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 3, S. 259-260) (c) Rowohlt Verlag]

Erlebte Demokratie

Die Welt ist bunt.
Dies konnte ich am Sonntag wieder in schönster Weise erleben. Als Stütze unserer Demokratie hatte ich mich bereit erklärt, als Wahlhelfer zu fungieren und wurde der Briefwahlauszählung zugeteilt.
Und das ist schon per se eine bunte Angelegenheit, da die notwendigen Bestandteile einer korrekten Briefwahl, zumal bei zwei gleichzeitig stattfindenden Wahlen, einen Blumenstrauß an Farben bieten.
Ich darf mal memorieren:
Der graue Stimmzettel für die Europawahl steckt in einem blauen Umschlag, zusammen mit dem weißen Wahlschein dann wiederum in einem rosafarbenen (oder war er rot? – man wird nicht jünger…). Der orangene Stimmzettel der Kommunalwahl allerdings gehört in einen gelben Umschlag und nebst gleichfarbigem Wahlschein in einen wiederum organge gefärbten Umschlag.
Es bleibt aber auch bunt, wenn man sich die illustre Gemeinschaft anschaut, die sich in den Wahlkommissionen findet.
Ich hatte reichlich Gelegenheit, mich in der wichtigsten Disziplin des Einzelhändlers zu üben:

Lächeln und winken

Diese überlebenswichtige Fähigkeit hilft nicht nur bei penetranten, arroganten, besserwisserischen, redseligen oder anderweitig enervierenden Kunden, die schamlos ausnutzen, daß der geneigte Lohnarbeiter ja vertraglich auf die Option des schreiend Weglaufens verzichtet hat, sondern auch in anderen Lebenslagen, in denen man Menschen einfach mal aushalten muß.
Besonders zwei Mitglieder der Wahlkommission stellten mich dabei auf eine harte Probe. Zum einen die Renterin, die einen Menschenschlag verkörpert, bei dem die Contenance zu bewahren mir regelmäßig schwer fällt: Von nichts eine Ahnung, aber sobald man etwas erklärt, haben sie es schon immer gewußt (und sind dann doch immer noch überfordert, wenn zum fünften Male der Stimmzettel nicht im gelben Umschlag steckte, sondern lose im organgenen lag…).

Lächeln und winken,

irgendwann sind die Stimmen ja alle mal gezählt.
Mein Schicksal bedauert habe ich jedoch in Anbetracht des Unglücks, neben jemandem zu sitzen, der -ungelogen- die kompletten sechs Stunden hindurch redundant erwähnte, daß er nicht religiös sei, aber Menschen, die sich als Christen bezeichneten, dies jedoch nicht wirklich lebten, nicht ausstehen könne (dies bei jeder CDU-Stimme, und auch gerne mal zwischendurch) und er Schwule überhaupt für Abschaum hielte (dies, gerne auch mehrfach, bei jeder FDP-Stimme). Im Übrigen sei es notwendig, daß es endlich mal wieder krache und überhaupt, die Leute. Achja, und der Klassiker: In der DDR, da ginge es ihm ja nicht schlecht etc. pp.
Leider war das Repertoire nicht größer und auch die Variationen ließen zu wünschen übrig.
So viel aufgestauter Frust. Aber, auch hier hilft nur:

Lächeln und winken.

Denn: Verbohrtheiten wie diese lassen sich sehr schwer ausdiskutieren – erst Recht, da man ja einen Job zu erledigen hat. Und beginnt die Debatte einmal, bricht sich der aufgestaute Zorn einmal Bahn – das nimmt kein Ende…
Einzig auf seinen Kommentar, daß es wohl bald einen dritten Weltkrieg geben würde (dies samt sanften Leuchten in den Augen), ließ ich mich zu einer Antwort hinreißen. Dann wäre wenigstens Ruhe und die Skorpione dürften ran, gab ich zurück. Was aber auch unklug war, denn damit fiel ja dieses Thema weg und die Redundanz der anderen Themen erhöhte sich zwangsläufig.
Doch was dem Buchhändler der Feierabend, ist dem Wahlhelfer die letzte gezählte Stimme und halb zehn ist es ja noch hell.
Im Übrigen: Gerade Kommunalwahlen erfordern ein Höchstmaß an Konzentration von den AuszählerInnen. Man sollte das nicht unterschätzen – insbesondere, da grelles Orange nicht wirklich hilft, einen klaren Kopf zu behalten… 😉

Zum Schluß noch ein Kommentar meines Hausheiligen zum Thema Wahlen:

Denn winsch ick Sie ooch ne vajniechte Wahl! Halten
Sie die Fahne hoch! Hie alleweje! Un ick wer Sie mal
wat sahrn: Uffjelöst wern wa doch . . . rejiert wern
wa doch . . .
Die Wahl is der Rummelplatz des kleinen Mannes!
Det sacht Ihn ein Mann, der det Lehm kennt! Jute
Nacht -!
[in: Ein älterer, aber leicht besoffener Herr. Werke und Briefe: 1930, S. 478. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 7677 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 8, S. 215) (c) Rowohlt Verlag]

Lieblingsspiel

Nun,

so reihe ich mich denn mit meinem ersten Beitrag in die lange Schlange der Kommentatoren ein, die sich mit der gar schrecklichen Welt der Computerspiele und ihren Auswirkungen auf unsere zarten Kinder und Jugendlichen, mithin also der Zukunft der Gesellschaft, befassen.
Und dies aus gegebenem Anlaß, die Herren Innenminister haben nämlich auch ein Lieblingsspiel, und zwar eines, das ganz hervorragend zu einer offenen, liberalen, pluralistischen Gesellschaft paßt:

Verbieten

Ich diskutiere gerne darüber, ob es gut und förderlich für die geistige und moralische Entwicklung Heranwachsender ist, wenn sie tagtäglich über Stunden Ego-Shooter spielen.
Allerdings möchte ich da doch fragen: Ist das Problem dabei wirklich der Ego-Shooter oder vielleicht doch eher ein Umfeld, daß es geschehen läßt, Heranwachsende stundenlang alleine vor einem Rechner sitzen zu lassen?
Und, als weiterer Aspekt:
Was ist eigentlich mit den Jahrmarktschießbuden? Dem Kriegsspiel Schach? Und PACMAN? Und wieso, zum Henker, ist es besser, Jugendlichen eine Waffe in die Hand zu drücken, als sie an einem Rechner sitzen zu lassen? Im Gegensatz zu einer Schußwaffe ist Software kein Tötungsinstrument.
Es ist mithin geradezu blödsinnig, Spiele zu verbieten und Waffen zu erlauben. Spiele wurden schließlich erfunden, um Waffen überflüssig zu machen.
Spiele sind eine kulturelle Leistung, und zwar eine bemerkenswerte. Ihr Zweck ist es, all die Aggressionen, die sich immer wieder einstellen, zu kanalisieren und in geregelte Bahnen zu lenken. Das spannende am Spiel ist in der Tat, daß es Regeln gibt: Es ist nicht alles möglich – die ganze Geschichte bleibt unter Kontrolle. Das ist, kulturell betrachtet, eine ungeheure Leistung.
Es wäre sehr erfreulich, wenn dieser Aspekt etwas stärker in den Focus gerückt würde.

Im Übrigen jedoch geht diese ganze Debatte um „Killerspiele“ vollkommen am Grundproblem vorbei. Das Hauptproblem ist, daß unsere Welt den Heranwachsenden immer weniger Angebote macht. Anstatt fröhlichen Lärm kleiner Kinder als Zeichen von Lebensfreude anzusehen, wird gegen Kinderspielplätze und Nachbarskinder geklagt, anstatt zu überlegen, welche Angebote ihnen zu machen wären, werden Jugendliche aus der Öffentlichkeit vertrieben, nur um sich dann darüber zu mokieren, daß sie nichts anderes mit ihrer Zeit anzufangen wüßten, als vorm Rechner oder der Glotze zu sitzen. Ja, wie denn nu?
Kurz:
Es ist idiotisch, Jugendlichen keinen Raum und keine Perspektiven zu bieten und sich dann zu wundern, daß sie keine Zukunft sehen und ihre Fähigkeiten nicht entfalten.

Soweit meine heutigen unsortierten Gedanken zu dem Thema. Ich bin sicher, es wird darauf noch zurückzukommen sein.
Zum Schluß noch der Kommentar meines Hausheiligen zum Thema Generationen:

Die verschiedenen Altersstufen des Menschen halten einander für verschiedne Rassen: Alte haben gewöhnlich vergessen, daß sie jung gewesen sind, oder sie vergessen, daß sie alt sind, und Junge begreifen nie, daß sie alt werden können.
[aus: Der Mensch. in: Werke und Briefe: 1931, S. 498. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8478 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 231) (c) Rowohlt Verlag]