“Strafe nicht – sondern schütze die Gesellschaft vor Rechtsbrechern.”

Die Wahlperiode, in der ich als Schöffe am Jugendgericht tätig war, neigt sich dem Ende zu. Es war eine höchst interessante Zeit, ich habe Menschen aus sozialen Zusammenhängen kennengelernt, die mir tatsächlich vollkommen fremd waren (und sind). Es gab dort bemerkenswerte Geschichten zu hören, Lebensgeschichten, deren einzige Konstanz ihre Brüche waren. Ich sah junge Menschen, die, ganz egal, wie sie sich vor Gericht gaben, doch eines einte: Eine tiefgehende Verunsicherung. Manches Mal waren da nur Flügel und keine Wurzeln. Und tatsächlich dachte ich auch in manchen Fällen, ganz entgegen meiner ursprünglichen Überzeugung: “Da ist nichts mehr zu wollen, diesen jungen Menschen haben wir verloren.”

Wann auch immer in der jeweiligen Heimatstadt der geneigten Leserschaft die nächsten Schöffenwahlen anstehen, ich kann nur dazu ermutigen, sich zu bewerben. Mir hat es geholfen, die Welt einmal mit anderen Augen zu sehen und wenig ist wichtiger als ein Perspektivwechsel*.

Der Hausheilige dieses Blogs, Dr. iur. Kurt Tucholsky, hat den vielleicht besten Text (ich kenne zumindest keinen besseren) dazu geschrieben:

Merkblatt für Geschworene

Nachdruck erbeten

Wenn du Geschworener bist, dann glaube nicht, du seist der liebe Gott. Daß du neben dem Richter sitzt und der Angeklagte vor euch steht, ist Zufall – es könnte ebensogut umgekehrt sein.

Wenn du Geschworener bist, gib dir darüber Rechenschaft, dass jeder Mensch von Äußerlichkeiten gefangen genommen wird – du auch. Ein Angeklagter mit brandroten Haaren, der beim Sprechen sabbert, ist keine angenehme Erscheinung; laß ihn das nicht entgelten.

Wenn du Geschworener bist, denk immer daran, dass dieser Angeklagte dort nicht der erste und einzige seiner Art ist, tagtäglich stehen solche Fälle vor andern Geschworenen; fall also nicht aus den Wolken, dass jemand etwas Schändliches begangen hat, auch wenn du in deiner Bekanntschaft solchen Fall noch nicht erlebt hast.

Jedes Verbrechen hat zwei Grundlagen: die biologische Veranlagung eines Menschen und das soziale Milieu, in dem er lebt. Wo die moralische Schuld anfängt, kannst du fast niemals beurteilen – niemand von uns kann das, es sei denn ein geübter Psychoanalytiker oder ein sehr weiser Beicht-Priester. Du bist nur Geschworener: strafe nicht – sondern schütze die Gesellschaft vor Rechtsbrechern.

Bevor du als Geschworener fungierst, versuche mit allen Mitteln, ein Gefängnis oder ein Zuchthaus zu besichtigen; die Erlaubnis ist nicht leicht zu erlangen, aber man bekommt sie. Gib dir genau Rechenschaft, wie die Strafe aussieht, die du verhängst – versuche, mit ehemaligen Strafgefangenen zu sprechen, und lies: Max Hölz, Karl Plättner und sonstige Gefängnis- und Zuchthauserinnerungen. Dann erst sage deinen Spruch.

Wenn du Geschworener bist, laß nicht die Anschauung deiner Klasse und deiner Kreise als die allein mögliche gelten. Es gibt auch andre – vielleicht schlechtere, vielleicht bessere, jedenfalls andre.

Glaub nicht an die abschreckende Wirkung eures Spruchs; eine solche Abschreckung gibt es nicht. Noch niemals hat sich ein Täter durch angedrohte Strafen abhalten lassen, etwas auszufressen. Glaub ja nicht, dass du oder die Richter die Aufgabe hätten, eine Untat zu sühnen – das überlaß den himmlischen Instanzen. Du hast nur, nur, nur die Gesellschaft zu schützen. Die Absperrung des Täters von der Gesellschaft ist ein zeitlicher Schutz.

Wenn du Geschworener bist, vergewissere dich vor der Sitzung über die Rechte, die du hast: Fragerechte an den Zeugen und so fort.

Die Beweisaufnahme reißt oft das Privatleben fremder Menschen vor dir auf. Bedenke –: wenn man deine Briefe, deine Gespräche, deine kleinen Liebesabenteuer und deine Ehezerwürfnisse vor fremden Menschen ausbreitete, sähen sie ganz, ganz anders aus, als sie in Wirklichkeit sind. Nimm nicht jedes Wort gleich tragisch – wir reden alle mehr daher, als wir unter Eid verantworten können. Sieh nicht in jeder Frau, die einmal einen Schwips gehabt hat, eine Hure; nicht in jedem Arbeitslosen einen Einbrecher; nicht in jedem allzuschlauen Kaufmann einen Betrüger. Denk an dich.

Wenn du Geschworener bist, vergiß dies nicht –: echte Geschworenengerichte gibt es nicht mehr. Der Herr Emminger aus Bayern hat sie zerstört, um den Einfluß der ›Laien‹ zu brechen. Nun sitzt ihr also mit den Berufsrichtern zusammen im Beratungszimmer.

Sieh im Richter zweierlei: den Mann, der in der Maschinerie der juristischen Logik mehr Erfahrung hat als du – und den Fehlenden aus Routine. Der Richter kennt die Schliche und das Bild der Verbrechen besser als du – das ist sein Vorteil; er ist abgestumpft und meist in den engen Anschauungen seiner kleinen Beamtenkaste gefangen – das ist sein Nachteil. Du bist dazu da, um diesen Nachteil zu korrigieren.

Laß dir vom Richter nicht imponieren. Ihr habt für diesen Tag genau die gleichen Rechte; er ist nicht dein Vorgesetzter; denke dir den Talar und die runde Mütze weg, er ist ein Mensch wie du. Laß dir von ihm nicht dumm kommen. Gib deiner Meinung auch dann Ausdruck, wenn der Richter mit Gesetzesstellen und Reichsgerichtsentscheidungen zu beweisen versucht, dass du unrecht hast – die Entscheidungen des Reichsgerichts taugen nicht viel. Du bist nicht verpflichtet, dich nach ihnen zu richten. Versuche, deine Kollegen in deinem Sinne zu beeinflussen, das ist dein Recht. Sprich knapp, klar und sage, was du willst – langweile die Geschworenen und die Richter während der Beratung nicht mit langen Reden.

Du sollst nur über die Tat des Angeklagten dein Urteil abgeben – nicht etwa über sein Verhalten vor Gericht. Eine Strafe darf lediglich auf Grund eines im Strafgesetzbuch angeführten Paragraphen verhängt werden; es gibt aber kein Delikt, das da heißt ›Freches Verhalten vor Gericht‹ Der Angeklagte hat folgende Rechte, die ihm die Richter, meistens aus Bequemlichkeit, gern zu nehmen pflegen: der Angeklagte darf leugnen; der Angeklagte darf jede Aussage verweigern; der Angeklagte darf ›verstockt‹ sein. Ein Geständnis ist niemals ein Strafmilderungsgrund –: das haben die Richter erfunden, um sich Arbeit zu sparen. Das Geständnis ist auch kein Zeichen von Reue, man kann von außen kaum beurteilen, wann ein Mensch reuig ist, und ihr sollt das auch gar nicht beurteilen. Du kennst die menschliche Seele höchstens gefühlsmäßig, das mag genügen; du würdest dich auch nicht getrauen, eine Blinddarmoperation auszuführen – laß also ab von Seelenoperationen.

Wenn du Geschworener bist, sieh nicht im Staatsanwalt eine über dir stehende Persönlichkeit. Es hat sich in der Praxis eingebürgert, dass die meisten Staatsanwälte ein Interesse daran haben, den Angeklagten ›hineinzulegen‹ – sie machen damit Karriere. Laß den Staatsanwalt reden. Und denk dir dein Teil.

Vergewissere dich vorher, welche Folgen die Bejahung oder Verneinung der an euch gerichteten Fragen nach sich zieht.

Hab Erbarmen. Das Leben ist schwer genug.

Kurt Tucholsky: Merkblatt für Geschworene. in: Die Weltbühne, 06.08.1929, Nr. 32, S. 202.

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* Diese Szene beeindruckte ihren jugendlichen Betrachter derart, dass er beschloss, Lehrer zu werden. Und ich möchte auch heute noch glauben, dass es möglich ist, ein solcher zu sein, auch wenn mein Weg woanders hinführte.

Merkt ihr nischt?

Ich habe mir bereits vor einiger Zeit abgewöhnt, den Verlautbarungen diverser Politiker Gehör zu schenken. Mir fehlt die Muße, unter all den Paraphrasen und Euphemismen mühsam das hervorzugraben, was gemeint sein könnte – wenn denn etwas gemeint ist.
Als allerdings einigermaßen politisch interessierter Mensch und nach der Erfahrung, dass die Dechiffrierer auch nicht ganz frei von Eigeninteressen sind, lässt es sich jedoch manches Mal nicht vermeiden, doch zur Quelle vorzustoßen und genauer zu schauen, was die Darsteller des Politikzirkus von sich geben.

So durften wir also in den letzten Tagen erfahren, dass Dank der heldenhaften Tätigkeit unserer Sicherheitskräfte und mit Unterstützung unseres Brudervolkes die hinterhältigen Pläne einiger vom imperialistischen Ausland gesteuerter feindlicher Elemente zum Sturz unserer demokratischen Ordnung vereitelt werden konnten.

Jedenfalls, wenn ich das richtig verstanden habe.

Nahezu gleichzeitig sah ich einen Bericht über begeisterte Eltern, die von den Möglichkeiten des Digitalen Klassenbuchs überaus erfreut waren, gibt es ihnen doch die Möglichkeit, jederzeit genauestens darüber informiert zu sein, wann sich ihr Kind wo wie aufge- und verhalten hat.

Und da frage ich mich doch: Merkt ihr nischt?

Mir jedenfalls ist klar, warum sich so ertaunlich wenig Protest regt: Die Leute finden das toll, der aufgeklärte, freiheitsliebende, aufrechte und kritische Citoyen ist eine Chimäre, ein Trugbild, ein Märchen. Es gibt ihn nicht. Oder zumindest nicht in ausreichender Anzahl.
Es bleibt nur noch festzuhalten, dass der Terror gewonnen hat, der Elfteseptember das Mahnmal des Abschieds von der Freiheit ist, denn diese haben wir aus purer Angst aufgegeben und finden das toll.

Falls unsere Kinder einmal fragen, warum Systeme wie die DDR so lange funktionierten: Eben genau darum: Wer nichts zu verbergen hat, braucht sich nicht zu fürchten. Und betroffen sind immer nur die anderen. Damit kann man offenkundig einen Staat machen.

Und die Bürger nicken.
Behaglich nicken sie, zufrieden, dass sie leben,
und froh, die Störenfriede los zu sein,
die Störenfriede ihrer Kontokasse.
Wo braust Empörung auf? Wo lodern Flammen,
die Unrat zehren, und sie heilsam brennen?
Die Bürger nicken. Schlecht verhohlne Freude.
Sie wollen Ordnung – das heißt: Unterordnung.
Sie wollen Ruhe – das heißt: Kirchhofsstille.

Kurt Tucholsky: Eisner. in: Die Weltbühne, 27.02.1919, Nr. 10, S. 224, wieder in: Fromme Gesänge.

Siehe hierzu auch das maßgebliche Buch zum Thema.

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München. Eine Assoziation.

In München wurde nun also das Camp um die sich im Hungerstreik befindlichen Asylbewerber aufgelöst.

Es gäbe dazu einiges zu sagen, vom mal wieder öffentlich zur Schau getragenen Ausländerhass bayerischer Politiker, die dafür wahrscheinlich mal wieder mit der absoluten Mehrheit belohnt werden, von Menschen, denen jegliches Verständnis dafür abhanden gekommen zu sein scheint, in anderen als in juristischen Kategorien zu denken, von anderen, die möglicherweise nicht nur lautere Motive hatten, sondern vielleicht auch eine Profilneurose spazieren tragen, über die Arroganz der Mächtigen, die Verzweiflung der Machtlosen – allein, ich habe mir in der letzten Woche den Luxus gegönnt, mal nicht über die Rettung der Welt nachzudenken, sondern mir Zeit für meine Familie zu nehmen. Ich kann daher nichts substantielles, nicht einmal unsortierte Gedanken ohne ausreichende empirische Datenbasis, zu dieser Sache beitragen.

Und so möchte ich es bei einer Assoziation belassen:
http://data8.blog.de/media/590/7112590_30dcecc5ce_a.wav

Ruhe und Ordnung

Wenn Millionen arbeiten, ohne zu leben,
wenn Mütter den Kindern nur Milchwasser geben –
das ist Ordnung.

Wenn Werkleute rufen: »Laßt uns ans Licht!
Wer Arbeit stiehlt, der muß vors Gericht!«
Das ist Unordnung.

Wenn Tuberkulöse zur Drehbank rennen,
wenn dreizehn in einer Stube pennen –
das ist Ordnung.

Wenn einer ausbricht mit Gebrüll,
weil er sein Alter sichern will –
das ist Unordnung.

Wenn reiche Erben im schweizer Schnee
jubeln – und sommers am Comer See –
dann herrscht Ruhe.

Wenn Gefahr besteht, dass sich Dinge wandeln,
wenn verboten wird, mit dem Boden zu handeln –
dann herrscht Unordnung.

Die Hauptsache ist: Nicht auf Hungernde hören.
Die Hauptsache ist: Nicht das Straßenbild stören.
Nur nicht schrein.
Mit der Zeit wird das schon.
Alles bringt euch die Evolution.
So hats euer Volksvertreter entdeckt.
Seid ihr bis dahin alle verreckt?

So wird man auf euern Gräbern doch lesen:
sie sind immer ruhig und ordentlich gewesen.

Text: Tucholsky, Kurt: Ruhe und Ordnung. in: Tucholsky, Gesammelte Werke, Bd. 4, Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek 1975, S. 17f.
Lesung: Ille, Steffen: Gruß nach vorn. Ille & Riemer Leipzig, Weißenfels. 2011

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Wahlkampf

Ich liege gerade krank im Bett, daher muss der Hausheilige heute mal den Text übernehmen. Heute waberte durch die Nachrichten der Auftakt zur 100Tage-Aktion der SPD, mit der sie behauptet, die Wahl gewinnen zu wollen.
Ich hätte da mal eine Wortmeldung aus dem Jahr 1924:

Man sollte genug aus den letzten zehn Jahren gelernt haben. Demokratische Regierungen haben sich benommen wie die wilden Tyrannen, und konservative sind mit artiger Milde an ihr Werk gegangen – auch sie getrieben oder geschoben von den Umständen. Den emsigen und ewigen Politikastern aber ist zu sagen, daß die Politik eine viel kleinere Rolle auf der Welt spielt, als die meisten Wichtigmacher unter
ihnen wahrhaben wollen. Es gibt Menschen, die nie aus dieser Welt der Ausschußsitzungen, Mehrheitsbeschlüsse, Wahlkreisgeometrien herauskommen und nicht über die Abgeordneten, ihre Reichskanzler und Kommissionen, ihre Kompromisse und Vertagungen hinauszusehen vermögen. Mag sein, daß da in diesen Réunions viele Gesetze angefertigt werden – regiert wird die Welt meist anderswo. Aber es tut so wohl, das wichtig zu nehmen und sich auch so vorzukommen. Man lese politische Leitartikel dieser Sorte, die etwa ein Jahr alt sind – und man hat ein Bild von dem vertanen Quantum Intelligenz, Arbeit, Kombinationsgabe, Zeit. Die Politik ist auch ein Stigma eines Landes – ihr einziges oder gar hervorragendstes ist sie nicht.
Und solche politischen Leitartikel zu schreiben mag ein Beruf sein und eine ansprechende Beschäftigung. Irgendeine tiefere Bedeutung kommt diesem Treiben nicht zu.

zitiert aus: »Wahlvergleichung« in: Tucholsky, Kurt: Werke und Briefe. 1924. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 10749f. Digitale Bibliothek, Band 15, Berlin 1999
Der ganze Text lohnt sich durchaus auch (»Der Wähler wählt in den meisten Fällen nicht das, was man nachträglich in seine Wahl hineinlegt.« steht da zum Beispiel. 😉

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Gachmuret feat. Der Hausheilige – live und in Bewegung

Es wird einmal wieder Zeit, den letztens in diesem Rahmen doch arg vernachlässigten Hausheiligen wieder dorthin zu rücken, wo er hingehört: Ins Rampenlicht.

In Halle wird im Rahmen eines bemerkenswerten Konzeptes der Kleinkunst gehuldigt und natürlich kann keine Kleinkunsthuldigung, die etwas auf sich hält, auf Dr. Kurt Tucholsky verzichten.

So strömt also zahlreich herbei, wenn am 22. Juni ab 20 Uhr die 2. KleinKunstNacht in Halle an der Saale gefeiert wird, mit 22 Künstlern in 34 Vorstellungen an 11 Spielorten:

Logo KKN

Wer es PRISM und sich selbst etwas leichter machen möchte, auf der zugehörigen Facebook-Veranstaltungsseite kann man nicht nur sich vernehmbar zur Teilnahme bekennen, sondern auch gleich Eintrittskarten erwerben. Es könnte sich durchaus auch für die anderen Künstler lohnen, da sind höchst interessante Leute dabei.

Und sollte tatsächlich jemand in der geneigten Leserschaft keinerlei Vorstellung haben, was dort auf ihn oder sie zukommen könnte: Es wird wohl etwas in dieser Art sein. 😉

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Man tut was für die Revolution und weiß genau: Mit dieser Partei kommt sie nicht.

Das Zitat des Tages stammt vom Hausheiligen dieses Blogs:

»Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem 1. August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleinern Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas –: vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahingegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.«

(Kurt Tucholsky, »Schnipsel«, 1932)

Ich wollte freundlicheres schreiben, aber ich war unglücklicherweise heute in Leipzig – wo Passanten angeraunzt und zur Seite gestoßen werden, damit die Damen und Herren Ehrengäste aber auch ja ungestört im Gewandhaus sich bejubeln können, während die doofen Proleten auf dem Markt mit Massenware und Bildschirmübertragung abgefertigt werden.
Aber gut, was will man machen, Herr Steinbrück hat ja seinen besten Arbeiterkumpel auch seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen.

Wir leben in einer zunehmend deindustrialisierten Welt, die Arbeiter-Attitüde ergibt also eh keinen Sinn mehr und »Wann wir schreiten Seit an Seit« wirkt nur noch albern. Und dass diese Partei irgendwelche Interessen außer den eigenen vertritt, glaube ich schon lange nicht mehr. Es mag dies auch für andere gelten, aber wer mit fetten Limousinen zum bourgeoisesten Saal der Stadt fährt, um schön abgeschirmt sich selbst zu feiern – der kann mir mit sozialer Attitüde gestohlen bleiben. Da sind mir andere Vereine lieber, die machen wenigstens keinen Hehl daraus, dass sie sich für was besseres halten.

»Jenosse«, sahre ick, »woso wählst du eijentlich SPD –?« Ick dachte, der Mann kippt mir vom Stuhl! »Donnerwetter«, sacht er, »nu wähl ick schon ssweiunsswanssich Jahre lang diese Pachtei«, sacht er, »aber warum det ick det dhue, det hak ma noch nie iebalecht! – Sieh mal«, sachte der, »ick bin in mein Bessirk ssweita Schriftfiehra, un uff unse Ssahlahmde is det imma so jemietlich; wir kenn nu schon die Kneipe, un det Bier is auch jut, un am erschten Mai, da machen wir denn ‘n Ausfluch mit Kind und Kejel und den janzen Vaein … und denn ahms is Fackelssuch … es is alles so scheen einjeschaukelt«, sacht er. »Wat brauchst du Jrundsätze«, sacht er, »wenn dun Apparat hast!« Und da hat der Mann janz recht. Ick werde wahrscheinlich diese Pachtei wähln – es is so ein beruhjendes Jefiehl. Man tut wat for de Revolutzjon, aber man weeß janz jenau: mit diese Pachtei kommt se nich. Und das is sehr wichtig fier einen selbständjen Jemieseladen!

(Kurt Tucholsky, »Ein älterer, aber leicht besoffener Herr«, 1930)

Ich hätte wirklich gerne etwas freundliches geschrieben, aber fiel nichts ein.

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Mit neuen Augen – Ein Bericht

Der folgende Text erschien im Januar 2013-Rundbrief der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft und berichtet von der Jahrestagung eben dieser im Herbst in Rheinsberg. Ich veröffentliche ihn nun auch hier, um auch der geneigten Leserschaft die Möglichkeit zu geben, sich einen Eindruck verschaffen zu können:

Mit neuen Augen – Ein Bericht

„Zufall? Es gibt keinen Zufall, oder er sieht doch ganz, ganz anders aus, als man gemeinhin denkt …“1

Wenn es kein Zufall war, dann war es also ein anderer Grund. Aber es war zumindest keine abgesprochene Begegnung am 15. März 2012, als ich die Ehre hatte, Bernt Brüntrup zu den Zuhörern meiner Tucholsky-Lesung auf dem Leipziger Messe-Gelände zu zählen. Der rührige Schatzmeister dieser Gesellschaft hatte, wie wenige Mitlesende überraschen dürfte, keinerlei Scheu, mich im Nachgang anzusprechen und es war eben diese Begegnung, die mir den letzten Anstoß gab, das Eintrittsformular auszufüllen. Die Jahrestagung in Rheinsberg fand mich also als frischgebackenes Neumitglied, durchaus unsicher, ob ich mich im Kreise derer, die sich schon so viel länger mit Tucholsky beschäftigten, dieser Ehre würdig erweisen könnte.
Das Tagungsthema „Tucholsky und die Frauen“ war sicher angesichts des Tagungsortes ein durchaus naheliegendes, aber nichtsdestotrotz ja ein schier unerschöpfliches. Rolf Hosfeld eröffnete den Reigen mit der These, Tucholsky habe eine große Sehnsucht nach Nähe verspürt, gleichzeitig aber eben diese Nähe nicht aushalten können. Das wirkte durchaus schlüssig, wie auch seine ganze Biographie eher eine Neudarstellung schon bekannter Erkenntnisse als echter Neugewinn ist2, jedenfalls überzeugender als die Einschätzung Tucholskys als „Erotomane“, die mir eher zeitgenössische Verunglimpfung als belegbarer biographischer Tatbestand zu sein scheint. Die auf Hosfelds Vortrag folgende Diskussion lässt sich im Wesentlichen als Dokumentation eines Missverständnisses zusammenfassen. Der Autor meinte nicht dieses Publikum und das Publikum meinte nicht diesen Biographen. So redete man trefflich aneinander vorbei und leider verpufften die wenigen interessanten Ansätze zur Debatte schnell wieder. Weiterlesen “Mit neuen Augen – Ein Bericht”

Wünscht euch was

2013 wird alles anders. Das ist ja offensichtlich, denn wie wir alle wissen, hat Ende Dezember des Vorjahres eine neue Ära begonnen. Seitdem sind wir alle bessere Menschen geworden und ernähren uns nur noch Lichtenergie. Oder so.
Wenn dem so ist, dann wäre natürlich meine Hypothese, dass der Hausheilige dieses Blogs zu allen Fragen des modernen Lebens eine Antwort bietet, hinfällig. So recht mag ich da aber nicht dran glauben, weswegen sich eines 2013 nicht ändern wird: Es wird weiter kräftigst gehuldigt. Und da keine kultische Handlung ohne Zeremonienmeister auskommt und kein Zeremonienmeister ohne kultige Gegenstände, werde ich im Laufe des Frühjahrs wieder ein paar Texte einsprechen, um sie hernach in silbrig glänzende Rundscheiben zu verwandeln.

Da wir aber ja nun im 21. Jahrhundert leben und dieses Internet angeblich so ein Mitmachdings ist, wo die Crowd gesourct und die Community gebuildet wird, habe ich mir überlegt, ich frage die geneigte Leserschaft, die ja sicher im Laufe der Jahre bereits zu wahren Tucholsky-Kennern geworden ist, nach eventuellen Textwünschen. Ich kann dabei nicht hoch und heilig versprechen, allen Wünschen zu entsprechen (es gibt zum Beispiel einige sehr gute Texte, die ich schlicht nicht so lesen kann, wie es angemessen wäre und Schloss Gripsholm zum Beispiel wäre mir jetzt eine Nummer zu lang… 😉 )

Wer sich also an Texte erinnert, die es schon einmal zu hören gab oder die gerne gehört werden würden – immer her damit.
Wer noch Texte sucht, sehr umfassend lassen die sich finden bei textlog. Anspieltipps hält die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft bereit.

Und wem völlig unklar ist, wie das bei mir so klingt, darf gerne einmal hereinhören.

Also, liebe geneigte Leserschaft, ich freue mich auf Vorschläge. Ansonsten ziehe ich am Ende meine Liste und nix ist mit Mitmachen. 😉


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P.S. Und auch Hinweise wie “Da gab es doch mal was, wo er über […] schreibt.” oder auch “Schrieb er nicht mal irgendwie sowas wie […], ich komme nur grad nicht auf den Titel.” sind gern gesehen. 😉

Wünscht Ihm alles, alles Gute – und soll verzeihen.

Ich habe den Hausheiligen dieses Blogs hier schon des öfteren zu Wort kommen lassen. Meist mit mehr oder weniger spitzen Kommentaren zu Politik, Gesellschaften und dem Menschen als solchen. Anlässlich der jüngst stattgefundenen Tagung der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft, die sich in Rheinsberg dem anlässlich des Ortes durchaus naheliegenden Thema “Tucholsky und die Frauen” widmete, nahm ich mir seinen Abschiedsbrief an Mary Gerold-Tucholsky, seine zweite Ehefrau* , wieder einmal vor. Er schickte diesen Brief, nur wenige Tage vor seinem Tod geschrieben, nicht ab. Und es ist dies ein so berührender Text, dass wir Nachgeborenen Mary Gerold dankbar sein dürfen für Ihre Bereitschaft, ihn veröffentlichen zu lassen.
Doch nun genug von mir, bis auf den zarten Hinweis auf das maßgebliche Buch zum Thema.

An Mary Gerold-Tucholsky

[Hindås] [den 19. Dezember 1935]

Sollte Er verheiratet oder ernsthaft gebunden sein, so bitte ich Ihn, diesen Brief ungelesen zu vernichten. Ich mag mich nicht in ein fremdes Glück drängen – ich will ja nichts. Ich habe nichts zu enthüllen, nichts zu sagen, was Er nicht besser wüßte als ich. Ich habe Ihn nur um Verzeihung bitten wollen. Verspricht also zu verbrennen, wenn das so ist – es soll nichts mehr aufgerührt werden.
Wünscht Ihm das Glück
N.

Liebe Mala,
will Ihm zum Abschied die Hand geben und Ihn um Verzeihung bitten für das, was Ihm einmal angetan hat.
Hat einen Goldklumpen in der Hand gehabt und sich nach Rechenpfennigen gebückt; hat nicht verstanden und hat Dummheiten gemacht, hat zwar nicht verraten, aber betrogen, und hat nicht verstanden.
Ich weiß, daß Er nicht rachsüchtig ist. Was er damals auf der Rückfahrt nach Berlin durchgemacht hat; was späterhin gewesen ist –: ich habe es reichlich abgebüßt. Ganz klar, so klar wie das Abbild in einem geschliffenen Spiegel, ist mir das ganz zum Schluß geworden. Nun kommt alles wieder, Bilder, Worte [. . .] und wie ich Ihn habe gehen lassen – jetzt, wo alles vorüber ist, weiß ich: ich trage die ganze, die ganze Schuld.
[. . .] Und jetzt sind es beinah auf den Tag sieben Jahre, daß weggegangen ist, nein, daß hat weggehn lassen – und nun stürzen die Erinnerungen nur so herunter, alle zusammen. Ich weiß, was ich in Ihm und an Ihm beklage: unser ungelebtes Leben.
Wäre die Zeit normal (und ich auch), so hätten wir jetzt ein Kind von, sagen wir, 12 Jahren haben können, und, was mehr ist, die Gemeinsamkeit der Erinnerungen.
Hat nicht mehr zu rufen gewagt. Hofft, daß Er meiner Bitte auf dem Umschlag entsprochen hat – das andere wäre nicht schön. Ich darf also annehmen, daß, wenn Er dies liest, er nicht ein Glück stört, das ich mir nicht habe verdienen können.
Nein, zu rufen hat nicht mehr gewagt. Ich habe aus leicht begreiflichen Gründen niemals irgendwelche »Nachforschungen« angestellt; ob Er verheiratet ist, hätte man mir sagen können – das andere nicht. Und hat vor allem nicht gewagt, weil Ihn nun noch ein zweites Mal aus der Arbeit und allem nicht hat herausreißen dürfen –: ist krank und kann sich nicht mehr verteidigen, geschweige denn einen andern. Mir fehlt nichts Wichtiges und nichts Schweres – es sind eine Reihe kleiner Störungen, die mir die Arbeit unmöglich machen. Ins Elend, das sicher gewesen wäre, konnte Ihn nicht herausrufen – ganz abgesehen davon, daß ich niemals gehofft habe, ob gekommen wäre.
Doch. Hat gewußt.
Wäre Er jetzt gekommen, Er hätte nicht einen andern, aber einen verwandelten, gereifteren gefunden. Ich habe über das, was da geschehen ist, nicht eine Zeile veröffentlicht – auf alle Bitten hin nicht. Es geht mich nichts mehr an. Es ist nicht Feigheit – was dazu schon gehört, in diesen Käseblättern zu schreiben! Aber ich bin au dessus de la mêlée, es geht mich nichts mehr an. Ich bin damit fertig.
Und so viel ist nun frei geworden, jetzt, jetzt weiß ich – aber nun nützt es nichts mehr. Hat anfangs Dummheiten gemacht, den üblichen coup de foudre für 2.50 francs, halbnötige Sachen und hat auch gute Freundschaften gehabt. Aber ich sehe mich noch nach Seiner Abfahrt im Parc Monceau sitzen, da, wo ich mein Paris angefangen habe – da war ich nun »frei« – und ich war ganz dumpf und leer und gar nicht glücklich. Und so ist es denn auch geblieben.
Seine liebevolle Geduld, diesen Wahnwitz damals mitzumachen, die Unruhe, die Geduld, neben einem Menschen zu leben, der wie ewig gejagt war, der immerzu Furcht, nein, Angst gehabt hat, jene Angst, die keinen Grund hat, keinen anzugeben weiß – heute wäre sie nicht mehr nötig. Heute weiß. Wenn Liebe das ist, was einen ganz und gar umkehrt, was jede Faser verrückt, so kann man das hier und da empfinden. Wenn aber zur echten Liebe dazu kommen muß, daß sie währt, daß sie immer wieder kommt, immer und immer wieder –: dann hat nur ein Mal in seinem Leben geliebt.
Ihn.
[. . .] Hat eine lächerliche »Freiheit« auf der andern Seite vermutet, wo ja in Wahrheit gar nichts ist. Hat immer stiller und stiller gelebt, jetzt ist wie an den Strand gespült, das Fahrzeug sitzt fest, will nicht mehr.
Will Ihn nur noch um Verzeihung bitten.
Ich bin einmal ein Schriftsteller gewesen und habe von S. J. geerbt, gern zu zitieren. Wenn Er wissen will, wie sich das bei den Klassikern ausnimmt, so lies den Abschiedsbrief nach, den Heinrich von Kleist an seine Schwester geschrieben, in Wannsee, 1811. Und vielleicht auch blättere ein bißchen im ›Peer Gynt‹ herum, ich weiß nicht, ob wir das Stück zusammen gesehen haben, es ist nicht recht aufführbar. Da kraucht der Held gegen den Schluß hin im Wald herum, kommt an die Hütte, in der dieses Schokoladenbild, die Solveig, sitzt, und sie singt da irgend etwas Süßliches. Aber dann steht da: »Er erhebt sich – totenbleich« – und dann sagt er vier Zeilen. Und die meine ich.
»O – Angst« . . . nicht vor dem Ende. Das ist mir gleichgültig, wie alles, was um mich noch vorgeht, und zu dem ich keine Beziehung mehr habe. Der Grund zu kämpfen, die Brücke, das innere Glied, die raison d’être fehlt. Hat nicht verstanden.
Wünscht Ihm alles, alles Gute –
und soll verzeihen.
Nungo

aus: Werke und Briefe: 1935. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien (=Digitale Bibliothek, Bd. 15), Directmedia Berlin 1999, S. 12250-12254 (vgl. Tucholsky-BA, S. 591-594) (c) Rowohlt Verlag

Zum Nachlesen als .pdf

*Und seine zweite gescheiterte Ehe, nichtsdestotrotz die einzige Frau, bei der mit Fug und Recht wohl von einer lebenslangen Verbundenheit gesprochen werden kann, und zwar beiderseits.


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Und noch einmal: Küsst die Faschisten

Man sollte sich vielleicht doch nicht mit Geschichte befassen. Allzu gruselig ist es doch, wie oft sich ein- und dieselben Dinge wiederholen und wie wenig Mühe sich manche Kräfte geben müssen, um sich eine Strategie auszudenken. Und auch wenn es die geneigte Leserschaft ermüden mag, zu den aktuellen Meldungen um die Zwickauer Nazi-Zelle, die beliebten Kürzungen der Mittel im Kampf gegen Rechts und die perfide Dramatisierung des Linksterrorismus ((gar nicht zu reden von den bösen Muslimen) bei gleichzeitiger Marginalisierung desselben von rechts , muß ich noch einmal auf diesen Text verweisen:

http://www.blog.de/srv/media/dewplayer.swf?son=http://data7.blog.de/media/632/5938632_f94e907f9b_a.mp3

Rosen auf den Weg gestreut

Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!
Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!
Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!

Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: »Ja und Amen – aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!«
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.

Und schießen sie –: du lieber Himmel,
schätzt ihr das Leben so hoch ein?
Das ist ein Pazifisten-Fimmel!
Wer möchte nicht gern Opfer sein?
Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen . . .
Und verspürt ihr auch
in euerm Bauch
den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –:
Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,
küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft –!

Die Lesung findet sich auf dem Hörbuch Gruß nach vorn

in: Werke und Briefe: 1931. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8324-8325 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 162-163)