Vive la revolution

In Frankreich, dem europäischen Mutterland der modernen und durchaus auch mordenden Revolution ist mal wieder high life. Die traditionellen Formen des Arbeitskampfes wie Streiks, Betriebsbesetzungen und Großdemonstrationen wurden im Nachbarland in den letzten Jahren ja deutlich erweitert. Geiselnahmen beim Führungspersonal zum Beispiel. Oder eben jetzt neu: Bombendrohungen.
Die Romantiker des proletarischen Kampfes wünschen sich auch hierzulande ein etwas kämpferisches Proletariat, Frau Schwan rechnet sogar mit baldigem Einsetzen der offenen Revolte. Eines allerdings wird dabei gerne vergessen: Die Ergebnisse in Frankreich sind keineswegs besser als die hier erzielten. Noch so große Proteste haben Sarkozys Sozialkürzungen nicht im mindesten verhindert (und man muß hier auch mal deutlich sagen: Wer hat den denn gewählt? Ist ja nicht so, daß er ein Geheimnis aus seinen Plänen gemacht hätte – die weitverbreitete Neigung, Politikern nicht zu glauben, hat auch Nachteile), die Geiselnahmen brachten auch nichts ein – und hüben wie drüben werden Produktionen im selben Ausmaß verlagert. Natürlich sind Generalstreiks im Mehrjahresrhythmus beeindruckender als endlose Tarifverhandlungen mit Schlichtungskommissionen – aber soweit mir bekannt ist, hat trotzdem in Frankreich noch nicht das Paradies Einzug gehalten.
Also, unabhängig davon, daß die Gewerkschaften viele Fehler machen und ihr zurückgehender Einfluß durchaus nicht nur äußere Ursachen hat, es ist keineswegs so, daß lauter Protest zwangsläufig zu besseren Ergebnissen führt. Und den Erfolg sollte man doch an den Ergebnissen messen.
Nichtsdestotrotz sollten wir die Augen offen halten und uns nicht vom Kapital einlullen lassen. Irgendwann ist nämlich mal genug – und eines sollte klar sein: In einem Land, in dem nicht jährlich zum Generalstreik aufgerufen wird, würde ein solcher sehr viel mehr bewirken können. Und nun erteile ich dem Hausheiligen das Wort:

Ruhe und Ordnung

Wenn Millionen arbeiten, ohne zu leben,
wenn Mütter den Kindern nur Milchwasser geben –
das ist Ordnung.
Wenn Werkleute rufen: »Laßt uns ans Licht!
Wer Arbeit stiehlt, der muß vors Gericht!«
Das ist Unordnung.

Wenn Tuberkulöse zur Drehbank rennen,
wenn dreizehn in einer Stube pennen –
das ist Ordnung.
Wenn einer ausbricht mit Gebrüll,
weil er sein Alter sichern will –
das ist Unordnung.

Wenn reiche Erben im schweizer Schnee
jubeln – und sommers am Comer See –
dann herrscht Ruhe.
Wenn Gefahr besteht, daß sich Dinge wandeln,
wenn verboten wird, mit dem Boden zu handeln –
dann herrscht Unordnung.

Die Hauptsache ist: Nicht auf Hungernde hören.
Die Hauptsache ist: Nicht das Straßenbild stören.
Nur nicht schrein.
Mit der Zeit wird das schon.
Alles bringt euch die Evolution.
So hats euer Volksvertreter entdeckt.
Seid ihr bis dahin alle verreckt?
So wird man auf euern Gräbern doch lesen:
sie sind immer ruhig und ordentlich gewesen.

[Ruhe und Ordnung. in: Werke und Briefe: 1925, S. 26. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 3414 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 4, S. 17) (c) Rowohlt Verlag]

Das Leben als Reise

Das Bestattungsgewerbe gilt als krisensicher. Es gibt schließlich nur wenige Dinge, deren Unabänderlichkeit so unzweifelhaft ist wie das Ende unseres Daseins in dieser Welt. Oder, etwas profaner, dafür pointierter ausgedrückt: Gestorben wird immer.
Genau genommen läge also nichts näher, als ein Bestattungsinstitut zu eröffnen, um finanzmarktsicher Geld zu verdienen.
Aber, wie so viele andere Branchen, hat auch das Bestattungsgewerbe so seine Besonderheiten. Die Besonderheit in diesem Falle sind die Kunden. Die kommen nicht gerne und das trotz der evidenten Notwendigkeit des angebotenen Produktes. Die Menschen werden nicht gerne an ihre Endlichkeit erinnert. Und wenn sie dann einmal daran denken, welches Angebot nehmen sie dann wahr?
Es gibt Anbieter, die versuchen es mit der aus anderen Branchen bekannten Strategie: Der Preis macht´s. Gefällt mir persönlich nicht so. Zum einen wußte der Hausheilige bereits: “Man achte immer auf Qualität. Ein Sarg zum Beispiel
muß fürs Leben halten.”*
Zum anderen wage ich zu bezweifeln, daß eine Beerdigung, bei der nichts so sehr zählt wie der niedrige Preis, so gestaltet wird, daß die Teilnehmer wirklich das Gefühl haben, Abschied von einem für sie wichtigen Menschen zu nehmen.

Ein, aus meiner Sicht, schöneres Beispiel für das Schaufenster eines Beerdigungsinstituts fand ich in Lübeck.
Gelungen finde ich, wie hier in der Schaufenstergestaltung der Focus auf das Leben gerückt wird.
Im ersten Fenster wird, in einer Küstenstadt zugegebenermaßen naheliegend, das Thema der Lebensreise und deren Ende maritim umgesetzt. “Sterben” als “Ankommen” zu interpretieren, mithin positiv zu belegen, ist nicht ganz neu, aber der Slogan “Am Ende der Reise gut ankommen” als Werbung für die Qualität des eigenen Angebots hat mir gefallen.
Im zweiten Fenster, das erkennt man dank meiner eher preiswerten Schnappschußkamera eher schlecht, wird der Tod nicht als zu bewältigender Verlust thematisiert, sondern als Gewinn an Erinnerung.
Zugegeben, die Zitate erzählen das Übliche, aber auch hier interessiert mich gar nicht so sehr die spritzige Originalität, sondern der Ansatz.
Die beiden Schaufenster bringen eine positive Botschaft, ohne dabei der kulturell vorgesehen Pietät, dem Respekt vor der Endlichkeit unseres Seins, der Tatsache, daß Bestattungensunternehmen keine Metzger oder Sockenverkäufer sind, keine Rechnung zu tragen.
Und zwar, und das unterscheidet die Schaufenster von allem, was ich bisher so gesehen habe, ohne dabei einen krampfhaften Spagat zu versuchen.
Leider kann die Website des Unternehmens da nicht mithalten…

Soweit meine unsortierten Gedanken dazu. Zum Abschluß noch ein Kommentar des Hausheiligen zum Thema Menschen und ihr Verhältnis zum Tod:

“Der Mensch möchte nicht gern sterben, weil er nicht weiß, was dann kommt. Bildet er sich ein, es zu wissen, dann möchte er es auch nicht gern; weil er das Alte noch ein wenig mitmachen will. Ein wenig heißt hier: ewig.”

in: Der Mensch. [Werke und Briefe: 1931, S. 498. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8478 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 231) (c) Rowohlt Verlag]

* in: Schnipsel. [Werke und Briefe: 1932, S. 30. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8746 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 20) (c) Rowohlt Verlag]

Die Rede zur aktuellen Krise…

… hält heute der Hausheilige dieses Blogs, Dr. jur. Kurt Tucholsky.

Kapital und Zinsen und Zubehör.
So lassen wir denn unser großes Malheur
nur einen, nur einen entgelten:
Den, der sich nicht mehr wehren kann,
Den Angestellten, den Arbeitsmann;
den Hund, den Moskau verhetzte,
dem nehmen wir nun das Letzte.
Arbeiterblut muß man keltern.
Wir sparen an den Gehältern –
immer runter!

Unsre Inserate sind nur noch ein Hohn.
Was braucht denn auch die deutsche Nation
sich Hemden und Stiefel zu kaufen?
Soll sie doch barfuß laufen!
Wir haben im Schädel nur ein Wort:
Export! Export!

Was braucht ihr eignen Hausstand?
Unsre Kunden wohnen im Ausland!
Für euch gibts keine Waren.
Für euch heißts: sparen! sparen!
Nicht wahr, ein richtiger Kapitalist
hat verdient, als es gut gegangen ist.
Er hat einen guten Magen,
Wir mußten das Risiko tragen . . .
Wir geben das Risiko traurig und schlapp
inzwischen in der Garderobe ab.

Was macht man mit Arbeitermassen?
Entlassen! Entlassen! Entlassen!
Wir haben die Lösung gefunden:
Krieg den eignen Kunden!
Dieweil der deutsche Kapitalist
Gemüt hat und Exportkaufmann ist.
Wußten Sie das nicht schon früher -?
Gott segne die Wirtschaftsverführer!

[Die Lösung. in: Werke und Briefe: 1931, S. 589. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8568-8569 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 269-270) (c) Rowohlt Verlag]

Die lachenden Erben

Die UNESCO hat also entschieden, daß ein Elbtal mit Autobahnbrücke irgendwie anders aussieht als ohne.
Da aber unglücklicherweise das Elbtal ohne Autobahnbrücke erhalten werden sollte, blieb der UNESCO wohl nichts anderes übrig, als festzustellen, daß das Erbe verloren ist.
Über die Starrsinnigkeit vor Ort wurde reichlichst geschrieben.
Und auch die Tatsache, daß das wunderbare föderale System so hervorragend funktioniert, daß ein Bürgerentscheid in Dresden es ermöglicht, völkerrechtliche Verträge zu ignorieren, lasse ich hier mal außer Betracht.
Viel interessanter finde ich die Reaktion in Dresdner Politikerkreisen und so etlichen BürgerInnen in der Stadt.
Denn deren Aussagen offenbaren ein völliges Mißverständnis der Welterbeliste. Die Liste ist keine Sammlung von touristischen Reisetipps. Die Idee hinter der UNESCO-Liste und den damit verbundenen Verträgen ist eigentlich, für die Menschheitsgeschichte relevante Gebäude, Landschaften, Kunstwerke etc. zu schützen, Verantwortung für ihren Erhalt zu übernehmen. Deshalb konnte beispielsweise Quedlinburg auch Mittel vom Bund bekommen, um seine Altstadt zu sanieren.
Daß der Erhalt solcher Denkmäler samt Erwähnung in den diversen Publikationen zur UNESCO-Welterbeliste zu einem Zustrom von Touristen führt und damit der Welterbetitel eine wirtschaftliche Bedeutung bekommt, ist durchaus nicht unbeabsichtigt, aber eben eher Mittel zum Zweck (nämlich der weiteren Erhaltung).
Und eben diese Wirkung scheint mir im Dresdner Selbstverständnis, gepaart mit einer ordentlichen Portion Arroganz, die ursprüngliche Idee des Welterbetitels verdrängt zu haben.
Wirklich großartig wird es aber dann, wenn bedauert wird, daß die UNESCO keinen Respekt vor Bürgerentscheiden habe. Knaller. Da stellen sich sich also Menschen hin, für die es in Anbetracht einer Autobrücke zweitrangig ist, daß ein internationales Gremium eine Kulturlandschaft für so wichtig hält, daß sie ihr Bedeutung für die gesamte Menschheit zubilligt, und klagt mangelnden Respekt davor ein, daß es eben den Menschen, die dort wohnen, wichtiger ist, staufrei aus oder in die Stadt zu kommen? Und da reden wir noch gar nicht davon, daß den Dresdnern ja nach Bekanntwerden der UNESCO-Bedenken keine Gelegenheit gegeben wurde, diese Wichtung noch einmal zu überdenken. Stattdessen wurde da ein Bürgerentscheid instrumentalisiert – und da wagt man es, über mangelnden Respekt zu reden?
Und das, wo sich Dresden doch bitte schön ganz freiwillig zum Erhalt des Elbtals verpflichtet hat. Oder hat irgendjemand Dresden zu einer Bewerbung um die Aufnahme ins Weltkulturerbe gewzungen? Mangelnder Respekt der UNESCO? Weil die der Meinung ist, Verträge seien nunmal einzuhalten? Geht´s noch?

Im Übrigen teile ich den Optimismus der Dresdner Entscheider nicht so uneingeschränkt. Natürlich wird der Tourismus in Elbflorenz nicht zusammenbrechen. Und mit der Waldschlößchenbrücke wird man einen weiteren festen Punkt in der Sightseeing-Tour haben (“Und hier sehen Sie die Brücke, die Dresden dem Welterbetitel vorgezogen hat.” – “Ahhh”). Aber: Ich bin mir nicht sicher, ob die Nichterwähnung in den Publikationen der nächsten Jahre zum Weltkulturerbe, die Nichtberücksichtigung bei Rundreiseprogrammen zu Welterbstätten etc. wirklich ohne Auswirkungen bleiben wird.

Soweit also meine unsortierten Gedanken zu dieser Problematik und nun noch eine Anmerkung des Hausheiligen zum Förderalismus deutscher Prägung:

“Aber was wir noch alles haben, und wofür in diesem Lande, das von der
Tuberkulose durchseucht ist und dessen Säuglingssterblichkeit nicht kleiner wird, noch Geld übrig ist, das ist schon ganz lustig. Hamburg hat einen Gesandten in Berlin (ob der auch einen Dolmetscher hat, ist noch nicht ganz heraus), – Preußen hat einen Gesandten in Dresden, jedes kleine Ländchen hat den ganzen Aufbau der großen Ministerialmaschine noch einmal, und ich kann mir die von Stolz und Wichtigkeit geschwellte Brust eines solchen Mannes vorstellen, wenn auch er ganz wie ein richtiger Erwachsener Minister spielt.”
[in: Das Reich und die Länder. Werke und Briefe: 1922, S. 36. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 9504 (vgl. Tucholsky-DT, S. 302) (c) Rowohlt Verlag]

Die Meute

Wer kennt das nicht?
Egal, ob Rabattaktion, Sonderverkauf oder gar Neueröffnung. Es spielen sich immer wieder dieselben Dramen ab.
Diejenigen Mitglieder des geneigten Lesepublikums, die das Glück haben, im Einzelhandel arbeiten zu dürfen, werden das Szenario kennen:
Die Mitarbeiter mit dem alleinseligmachenden Ladenschlüssel in der Hand werden sehnsüchtig erwartet, als stünde die Ankunft des Heilands oder gar St. Baracks persönlich bevor.
Allerdings mit einer unglaublichen Ungeduld, die sich indirekt proportional zur bis zur offiziellen Ladenöffnung fehlenden Zeit verhält. Die Angst, wieder mal zu kurz zu kommen, wieder mal was zu verpassen, wieder einmal nicht auf der Siegerseite zu stehen – wie ja so oft im Leben, treibt die Menschen zu seltsamen Verhalten.
Da wird an Türen geklopft, da werden die Mitarbeiter angeblafft (“He, was machen Sie denn so lange?”, “Wenn alle so arbeiten würden…”, “Kein Wunder, daß hier nie jemand was kauft.”), es spielen sich Unmutszenen ab, als stünden wir kurz vor der Revolution, weil dem Volke die elementaren Rechte vorenthalten werden.
Wer einmal in einer solchen Meute gestanden hat, weiß, wie man Revolutionen anzettelt: Mit Rabatten und geschlossenen Ladentüren.
Einfach ganz groß “Heute Fernseher nur 10 EUR!” ins Schaufenster hängen und dann nicht öffnen. Da hat´s sich dann aber mit “Friedliche Revolution”.

Es hilft übrigens gar nichts, den Laden wie jeden Tag pünktlich zu öffnen – denn natürlich hat der Einzelhandelsmitarbeiter nur hinten im Lager gestanden und Däumchen gedreht, einzig und allein, um Frau Erna Schmittke und Opa Alfons vom Erwerb des überlebensnotwendigen Toasters für 9.99 € abzuhalten – dafür standen sie ja auch extra schon drei Stunden vorher da. Und überhaupt ist das doch eh alles Betrug, man wird eh immer übervorteilt.
Wenn die Menschen nur genau so viel Ehrgeiz und Energie in Dinge stecken würden, die sie wirklich betreffen, bei denen ihre Existenz wirklich bedroht ist – es ginge diesem Lande besser.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, meint das Grundgesetz. Doch an jeder Wühlkiste des Landes wird sie freiwillig weggeworfen.

Und was meint der Hausheilige dazu? Hat er sowas auch schonmal beobachtet?

“Drängeln Se doch nich so . . . Nein, ich drängle gar nicht! . . . Ochse! . . . Un-
glaublich. Wir kommen ja gleich ran, wir waren zuerst hier. Warten Sie auch nochn bißchen? ne Gold-
grube, diß Geschäft, was meinen Sie! Die verdienen hier, was se wolln.”
[in: Herr Wendriner kauft ein. Werke und Briefe: 1924, S. 294. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 3270 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 3, S. 486) (c) Rowohlt Verlag]

Jack Sparrow for President

Das gestern beschlossene Zensurgesetz (und um nichts anderes handelt es sich, wie schon nach kürzester Zeit klar wurde, da Herr Strobl ja schon nach wenigen Stunden eine Erweiterung fordert) hat bereits im Vorfeld, aber auch im direkten Umfeld zu massiven Erschütterungen bei häufig jungen Menschen geführt.
Diese, politisch durchaus interessierten, Menschen sind insbesondere von der SPD enttäuscht. Die Union galt nicht wenigen eh als unwählbar und gestrig, aber das peinliche Verhalten der SPD in einer offenbar als Nagelprobe zu verstehenden Debatte, in der die Sozialdemokraten ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem “Kröten schlucken” (Martin Buchholz) nachgingen und eine nach der anderen herunterwürgten, hat viele nicht nur an der SPD, sondern z.T. sogar am ganzen System verzweifeln lassen. Wie zum Beispiel Anke Gröner, die den Glauben an die FDGO verloren hat. Oder Johnny Häusler, der auf Spreeblick der SPD auf Nimmerwiedersehen wünscht und Thorben Friedrich bringt es in seinem offenen Brief, in dem er seinen Austritt ankündigt, auf den Punkt, wenn er schreibt:

Tritt das Gesetz in Kraft, trete ich aus der SPD aus und verabschiede mich von einer meiner Generation fremden Partei.

Unter den Kommentatoren des taz-Artikels zum Bundestagsbeschluß befindet sich denn auch der Nutzer “Gerüst”, der meint:

19.06.2009 14:15 Uhr:
Von Gerüst:
Ich war 16 Jahre lang treuer SPD-Wähler. Nun werden die meine Stimme nie wieder bekommen. Diese Partei lügt und betrügt und ist es nicht mehr wert gewählt zu werden.
Armes Deutschland!
Gott sei Dank gibt es mittlerweile Alternativen!

Gemeint ist wohl die inzwischen zu einiger Berühmtheit gelangte Piratenpartei, die in Schweden ja ein Europaparlamentsmandat errangen.
Auf der Suche nach Alternativen kann hier tatsächlich eine Generation fündig werden, für die das Internet, die digitale Welt überhaupt, Bestandteil der eigenen Lebenswirklichkeit, nicht selten der persönlichen Identität ist. Diese Partei greift entschieden und deutlich Fragen auf, die der “Generation online” wichtig sind. Fragen und Problemkreise einer Generation, die sich sonst nur kaum bis gar nicht im etablierten Parteienspektrum wiederfindet, die nicht selten ignoriert werden, die arrogant beiseite geschoben werden (die Petition mit 134.000 (!!!) Mitzeichnern wird nonchalant in der nächsten Legislatur beraten, wo dann eine “Würdigung” des beschlossenen Gesetzes vorgenommen werden kann, wie der Petitionsausschuß mitteilt).
Kurz:
Die Piratenpartei trifft den Nerv einer Generation. Sicher, sie erscheint momentan etwas monothematisch, aber dies ist kein Hindernis für eine erfolgreiche Etablierung, wie wir ja bereits an den Grünen sehen konnten, die auch eher mit einem klar umgrenzten Themenspektrum, dafür aber mit großer Mobilisierungskraft, gerade unter Jüngeren, antraten.
Unter diesem Aspekt halte ich die Piratenpartei für die spannendste Neugründung der letzten Jahre, jedenfalls alle mal relevanter als die unzähligen “Generationenparteien” wie 50plus, Rentnerpartei oder Die Grauen, die nicht viel mehr zu bieten haben, als eben “Rentner” im Namen stehen zu haben. Auch den Esoterikern bei den Violetten traue ich keine Relevanz zu. Aber, das kann natürlich auch daran liegen, daß ich die tiefere Wahrheit, die diese Welt im Innersten zusammenhält, noch nicht erkannt habe (was wahrscheinlich an meinem miesen Karma liegt) oder mal wieder die Aura putzen und die Chakren sortieren muß.

Das einzige, was mir Sorgen macht, ist die weitere Aufsplitterung einer im weitesten Sinne “progressiv” zu nennenden Gesellschaftsschicht, der ein alles in allem immer noch recht kohärenter konservativer Block gegenüber steht. Ich habe das Gefühl, daß da die progrssiven Kräfte mal wieder ihren Lieblingsfehler begehen und sich lieber gegenseitig zerfleischen, als gemeinsam und entscheiden vorwärts zu gehen.

Soweit meine unsortierten Gedanken dazu und zum Schluß noch ein Kommentar des Hausheiligen:

Deutschland! wach auf und besinne dich!
Nur einen Feind hast du deines Geschlechts!
Der Feind steht rechts!
[in: Preußische Presse: Werke und Briefe: 1919, S. 232. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1342 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 109) (c) Rowohlt Verlag]

Ich bin der FDP dankbar

Und das kommt selten genug vor. Freilich, die Damen und Herren werden ihre Motive haben, aber nichtsdestotrotz: die Antwort der Budnesregierung auf Kleine Anfrage der FDP sollte jedem des Lesens Kundigen die Augen öffnen über die unfaßbare inhaltliche Grundlage des gestern beschlossenen Internetzensurgesetzes.
Kurz zusammengefaßt läßt sich sagen, die Bundesregierung hat keine Ahnung, ob ein über kommerzielle Webseiten organisisierter Markt für Kinderpornographie überhaupt existiert, geschweige denn wie er überhaupt organisiert ist. Und das, was sie nicht weiß, hat sie noch nicht einmal selbst herausgefunden, sondern sich von anderen Regierungen erzählen lassen.
Etwas zugespitzt, aber die Lage sehr gut verdeutlichend, haben die Kollegen bei ODEM die Antwort zusammengefaßt.
Sehr hilfreich in diesem Zusammenhang auch die Zusammenstellung der ZEIT zu den schlicht unsachlichen Argumentationen Frau von der Leyens (aka “Zensursula”).
Aber, letztlich, was wollen wir erwarten, wenn selbst Staatsanwälte in Prozessen um Internetkriminalität sich von den Angeklagten erstmal erklären lassen müssen, was sie da eigentlich so anklagen und wie das überhaupt so geht mit dem Zwischennetz. Bestes Beispiel dazu: Der Pirate-Bay-Prozess
Mir stellt sich hier nun die Frage:
Warum das alles? Was steckt dahinter?
Handelt es sich hier nur um den üblichen Aktionismus wie beim Waffengesetz, dessen Verschärfung ja auch nichts ändert, aber das beruhigende, wohlige Gefühl gibt, irgendetwas getan zu haben?
Oder geht es um mehr? Ist der nun eingetretene Dammbruch, nämlich Seiten für Nutzer sperren zu dürfen, wirklich nur blauäugig oder gar gewollt? Immerhin zensiert China das Netz ja auch nur, um gegen Pornographie und Terrorismus vorzugehen. Und dagegen kann man ja nun wohl nichts haben, oder?
Ich werde das Gefühl nicht los, daß StaSi2.0-Schäuble da die Ursula nur vorgeschickt hat.
Und die hat sich dann ja auch gleich mit voller Leidenschaft ins Zeug geworfen und allen Ernstes behauptet, diese Stopp-Schilder wären ein wirksames Mittel gegen die Vergewaltigung von Kindern. Gleichzeitig freilich bleibt straffrei, wer auf solche Seiten surft. Der ganze Aufwand dient also noch nicht einmal dazu, irgendjemanden zu belangen.
Ich mußte dabei an diese wunderbare Szene in “Independance Day” denken, in der dem Präsidenten erklärt wird, warum er nie über die tatsächliche Existenz von Area 51 aufgeklärt wurde: “100% glaubwürdiges Dementi”. Und genau so überzeugend wirkt Frau von der Leyen. So, als würde sie das tatsächlichen GLAUBEN.
Ich persönlich glaube derzeit, es geht hier um mehr. In welche Richtung genau, ist mir noch nicht klar. Eine allerdings hat die CDU/CSU selbst ja schonmal zugegeben.
In der Pressemitteilung zur Niederlage der Kritiker in der SPD steht: “Damit ist eine gefährliche Entwicklung gestoppt worden. Unter Berufung auf eine angebliche Internetzensur durch den Staat wollten die Linksaußen in der SPD durchsetzen, dass das Internet zum rechtsfreien Raum wird. Die SPD wäre dadurch Gefahr gelaufen, Straftaten im Internet Vorschub zu leisten, von der Vergewaltigung und Erniedrigung kleiner Kinder bis hin zu Urheberrechtsverletzungen in breitestem Ausmaß gegenüber Künstlern und Kreativen.”
Aha. Es wird also immer nur um Kinderpornographie gehen? Wers glaubt, wird selig.
Diese ganze Sache samt schlichten Ignorierens einer 134.000-Unterschriften-Petition (ach halt, wird ja gar nicht ignoriert, man berät ja schon in der nächsten Legislatur darüber…) ist derartig frustrierend, daß ich allmählich geneigt bin, in den Politiker-Bashing-Chor einzustimmen.

Soweit für heute meine unsortierten Gedanken dazu und zum Schluß noch ein Kommentar des Hausheiligen in Sachen Dammbruch bei der Zensur, seinerzeit gegen das “Schmutz- und Schundgesetz”:

Heute ist es noch ›Der Junggeselle‹ und das ›Berliner Leben‹, heute sind es noch die
nackten, unwahrscheinlich dünnen Beine jener Figurinen in usum masturbantium; morgen ist es eine unwillkommene Wandervogelzeitschrift, eine Schulpublikation für revolutionär empfindende Schüler – und übermorgen sind es, woran kein Zweifel: wir.
Die bestehende Gesetzgebung reicht aus, um das in der Literatur zu verbieten, was wahrhaft schädlich und häßlich ist: die Auslegung der Paragraphen durch die Gerichte ist weit genug. Mehr brauchen wir nicht. Und mehr hieße, unter anderm, die Wirkung dieses Schundes überschätzen.
[in: Eveline, die Blume der Prärie: Werke und Briefe: 1926, S. 477. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 4559 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 4, S. 505) (c) Rowohlt Verlag]

Die Buchhändlerin von Welt…

… trägt in dieser Saison weder Chanel No5, noch D&G The One oder gar Cacharel Loulou, sondern natürlich: Buch
Schließlich wußte ja schon Seneca “Optimus odor in corpore est nullus” (in etwa: Der beste Körpergeruch ist keiner) – und welcher Duft als die sanfte Mischung aus frischer Duckerschwärze, getrocknetem Leim und weichem Papier wäre wohl besser geeignet, um in einer Buchhandlung olfaktorisch quasi zu verschwinden?
Identitätskrisen, ausgelöst durch verwirrte Kunden (“Sind sie ein Buch?”), sind freilich nicht auszuschließen, aber, hey, Berufsrisiken gibt es überall.
Und mal unter uns Gebetsschwestern gesprochen: Da haben wir schon ganz andere Dinge gehört.
Für die KollegInnnen des Antiquariats ist im übrigen bereits ein Produkt mit leicht muffiger Note in Arbeit.
Und sang schließlich nicht auch schon Kurt Cobain “Smells like book spirit”?

Wir sehen also: Der sinnfreien Produkte gibt es viele und ich möchte nicht mal ausschließen, daß eine erhebliche Zahl Kunden diese auch kauft.

Und zum Schluß noch ein Text des Hausheiligen zu eben diesem Thema:

Wenn Sie im Kranz Ihrer Geschäftsfreunde und schöner Frauen bei wohlgepflegtem, schäumendem Sekt sitzen, während Ihr behaglicher, vornehmer und taktvoller Haushalt Sie umgibt, dann vergessen Sie nicht, unsern Luxusapparat ›Kokmès‹ bei der Hand zu haben. Die faszinierende Wirkung Ihrer festlichen Geselligkeit wird dadurch noch erhöht; keine elegante und gepflegte Frau von Welt ist ohne denselben denkbar. ›Kokmès‹ ist ohne jede schädliche Nebenwirkung, weil es überhaupt keine hat. Wir fabrizieren es nur, um die hohen Anzeigenpreise wieder hereinzubringen, und wir inserieren, um fabrizieren zu können. Und so symbolisieren wir, was uns am meisten
am Herzen liegt: die deutsche Wirtschaft -!
[in: Werbekunst oder: Der Text unserer Anzeigen. Werke und Briefe: 1927, S. 947. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 5669 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 5, S. 431) (c)Rowohlt Verlag]

gefunden bei: Kaliban

Die Verfassung ist keine Loseblattsammlung

“Verfassung (Konstitution, Grundgesetz), die Grundordnung einer juristischen Person, bes. die eines Staates.” (Der Brockhaus in fünfzehn Bänden. Leipzig, Mannheim. 1999)
Soso, die Grundordnung.
Mithin ist davon auszugehen, daß in einer solchen Verfassung, so sie denn schriftlich fixiert ist, nur die wesentlichen, grundlegenden Prinzipien eines Staates stehen.
Ich beobachte aber in letzter Zeit einen gewissen Hang zur Beliebigkeit. Aus verschiedensten Beweggründen, deren Lauterkeit ich nicht zwangsläufig in Abrede stellen will, werden Initaiven gestartet, dieses und jenes im Grundgesetz zu verankern.
Dabei geht es sowohl um reine Symbolpolitik (z.B. Kinderrechte – keines der dort aufgeführten Rechte wäre eine Ergänzung, es sei denn natürlich, man definierte Kinder nicht als Menschen) als auch um verbrämte Symbolpolitik, wie die jüngst beschlossene “Schuldenbremse”. Denn diese verhindert weder neue Schulden (es gelten ja dieselben Ausnahmeregelungen wie schon bei der bereits bekannten “Investitionen dürfen nicht niedriger sein als die Schulden”-Regel – und deren Dehnbarkeit ist bekannt), erfüllt also nicht den angeblichen Zweck und ist mithin nur Symbol, noch hat sie irgendeinen Sinn – Schulden sind ja nicht per se schlecht, wie jeder Unternehmer bestätigen wird. Entscheidend ist vielmehr, warum und zu welchem Zweck Schulden aufgenommen werden.
Nun ist aber eine Verfassung kein Gesetz, das man mal eben nach Gusto oder Wetterlage verändern sollte. Jede Änderung, jeder Eingriff in die Verfassung muß wohlüberlegt sein, seine grundsätzliche Bedeutung diskutiert und seine Auswirkungen genauestens bedacht werden.
Widrigenfalls, und diese Sorge habe ich, droht ein Abrutschen in die Beliebigkeit. Und das wäre nun fatal. Denn wie will eine Gesellschaft auf einem sicheren Fundament stehen, wenn dieses selbst eher auf Sand gebaut zu sein scheint, weil es sich ständig bewegt?
Mir scheint, hier hat ein seltsamer Geist in die Politik Einzug gehalten, der die Verfassung für ein Instrument der Tagespoltik hält.
Ergänzend dazu ein Kommentar Tarik Ahmias zur Unsinnigkeit der Regelung an sich: taz-Kommentar

Und zum Schluß noch eine Anmerkung des Hausheiligen zum Thema Geist der Politik:

Wir glauben, daß
das Wesentliche auf der Welt hinter den Dingen sitzt,
und daß eine anständige Gesinnung mit jeder, auch
mit der schlechtesten, Vorschrift fertig wird und sie
gut handhabt. Ohne sie aber ist nichts getan.
Was wir brauchen, ist diese anständige Gesinnung.
[in: Wir Negativen. Werke und Briefe: 1919, S. 112. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1222 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 55-56) (c) Rowohlt Verlag]

Man kann ja nicht alles wissen…

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Bestätigt aber nur mein Vorurteil, daß die Idee, Beamte, denen die Interessen ihrer Clique mehr am Herzen liegen als die des Gemeinwesens, sei ein Thema für Gegenden mit höherer Jahresdurchschnittstemperatur oder Kampfschlumpfregenten, reine Selbsttäuschung ist.

Wovon ich rede?
Hiervon:
Abitur ohne Merkel

Und was meint der Hausheilige dazu?

Und entscheidend ist nicht nur der Minister – gerade der
oft nicht – sondern der mittlere, ja selbst der untere
Exekutivbeamte, der sabotieren und warnen, abdrehen
und aufplustern kann – wie es ihm paßt.
[in: Verfassungstag. Werke und Briefe: 1922, S. 346. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 2748 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 3, S. 259-260) (c) Rowohlt Verlag]