Eine Woche in ungelesenen Büchern (5)

Für diese Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft folgende nicht gelesenen Bücher:

Cover Menschen in New York

Menschen in New York von Brandon Stanton ist die Buchumsetzung (bzw. die deutsche Übersetzung der Buchumsetzung) eines großartigen Projekts, das ich bereits seit einiger Zeit auf Facebook verfolge. Brandon Stanton läuft durch die Stadt und fotografiert Menschen. Was auch immer er dabei macht: Er bringt sie dazu, ihm berührende, manchmal intime, Geschichten zu entlocken. Eine Frage, eine Antwort – und jedes Mal steht dort ein Blick in das Leben eigentlich völlig fremder Menschen, die einmal merkwürdig nah wirken. Mich hat sein Projekt jedenfalls sehr beeindruckt und beeindruckt es noch heute, jeden Tag aufs Neue.

Cover Theogonie

Hesiods Theogonie gilt als das älteste Zeugnis griechischer Literatur (was damit für die abendländische Kultur nicht ganz egal ist). Raoul Schrott wiederum ist bekannt geworden für seinen höchst eigenen Zugang zu antiker Literatur. Mir fehlt eindeutig der philologische Hintergrund, um beurteilen zu können, wie weit sich Schrott in seinen Nachdichtungen vom Original entfernt. Wahrscheinlich ist er kein zuverlässiger Wegbegleiter in die antike Welt. Die Idee, ältere Texte zur Vorlage für eigene Werke zu nehmen, ist allerdings nicht völlig neu und meiner Meinung nach legitim. Es verlangt freilich vom Lesenden einen durchaus aufgeklärten Umgang mit dem Ergebnis. Dann aber kann es sich bei einer zeitgenössischen Auseinandersetzung mit einem 2800 Jahre alten Text um eine sehr spannende Lektüre handeln. Will sagen: Puristen (und Altphilologen) würde ich das Buch nur empfehlen, wenn sie Probleme mit zu niedrigem Blutdruck haben.

Cover Das neue Spiel

Das neue Spiel nennt Michael Seemann (@mspro) seine Auseinandersetzung mit dem Kontrollverlust, den die digitale Welt mit sich bringt. @mspro gehörte viele Jahre zu meiner Timeline (er gehörte zu den ersten 10 Leuten, denen ich folgte). Ich entfernte ihn dann irgendwann, weil ich so selten seiner Meinung war, bzw. mich seine Positionen so ärgerten, dass ich aus Gründen des seelischen Gleichgewichts darauf verzichtete, ihn unmittelbar zur Kenntnis zu nehmen. Was aber natürlich gar nichts heißt, denn meine Befindlichkeiten gelten nur für mich. Seine Analysen und Gedanken zu Kontrollverlust und Filtersouveränität sind unbedingt zur Kenntnis zu nehmen und seit ich mich nicht mehr täglich mit ihm beschäftige, scheinen mir auch einige seiner Punkte durchaus zustimmungsfähig. Andererseits: Ich habe das Buch (das übrigens per Crowdfunding mit einer bemerkenswerten Urheberlizenz ausgestattet wurde und daher auch kostenfrei online zu lesen ist oder zu einem äußerst günstigen Preis als eBook erworben werden kann) allerdings ja auch noch nicht gelesen. Sollte ich demnächst also irgendwo mit hochrotem Kopf auftauchen, wisst ihr, was ich gelesen habe…

Flattr this

Der Ehrgeiz eines Hirnforschers und die Verzweiflung eines Vaters

Die Äußerug, man habe ein autistisches Kind erzielt oft eine merkwürdige Reaktion. Irgendwas zwischen Mitleid und Abscheu.
Und natürlich, das unterscheidet dieses Thema nicht von allen andere Themen, über die man sich unterhalten kann, hat praktisch jeder schon einmal etwas davon gehört und eine festgefügte Meinung, die sich zwar bestenfalls auf ein paar Hollywood-Weisheiten und Wetten-dass?-Erfahrungen stützt, aber nichtsdestotrotz bereits die Summe aller menschlichen Weisheit repräsentiert. Man kennt das.
Weshalb hier dringend dazu geraten sei: Welches Thema auch immer der geneigten Leserschaft wichtig ist – sprecht es bloß nicht auf einer gesellschaftlichen Veranstaltung irgendeiner Art an. Redet lieber übers Wetter (also natürlich nur, falls dies nciht zufällig eure Herzensangelegenheit ist…)

Auf Zeit-Online gibt es einen lesenswerten Artikel (ja, das kommt vor), der zwar leider im ganz typischen unverbindlichen Pseudoreportagenduktus dieser Publikation geschrieben ist, aber nichtsdestotrotz zum einen die Diagnosenirrfahrt als auch die Verzweiflung der Eltern einigermaßen gut einfängt (und das bemerkenswerte Können anderer Generationen, die einfach tun und dabei richtig liegen, das mit der Lebenserfahrung scheint ein Konzept zu sein…)

Vor allem demonstriert er sehr schön, wie wenig wir über Autisten, Gehirne, das Leben, das Universum und ganzen Rest wissen.

Einmal hier entlang bitte.

P.S. Zur Menschenkenntnis von Psychologen hat sich der Hausheilige dieses Blogs in einem hübschen Kabinettstückchen abschließend geäußert: In der Hotelhalle (1930).

Lahmann-Koller

Damit der geneigten Leserschaft nicht allzu langweilig wird, sei hier, quasi als Pausenunterhaltung, auf einen Text verwiesen, der in Sachen medizinische Rehabiliationsmaßnahmen weiterhin als der maßgebliche Text zum Thema gelten muss:

Kreuzworträtsel mit Gewalt.

Dieser Text beantwortet sehr überzeugend das Hauptproblem einer jeder Kur:

Ich absolvierte täglich ein längeres Zirkusprogramm, von morgens um sieben bis mittags um halb eins. Der Turnlehrer; die Wiegeschwester; der Bademeister; der Masseur; der Assistenzarzt; die Zimmerschwester … sie alle waren emsig um mich bemüht. Ich kam mir recht krank vor, und wenn ich mir krank vorkam, dann schnauzten sie mich an, was mir wohl einfiele – es ginge mir schon viel, viel besser. Was war da zu machen?

Was war vor allem an den langen Nachmittagen zu machen, die etwa acht- bis neunmal so lang waren wie die reichlich gefüllten Vormittage?

Wer nicht lesen möchte, sondern lieber hören:

Und ich versuche dann mal in den nächsten Wochen einen Lahmann-Koller zu vermeiden… 😉

Flattr this

Pause (3)

Liebe geneigte Leserschaft,

dieser Blog geht in die Sommerpause. Ich vermag noch nicht zu sagen, wann die Piemont-Kirschen wieder pflück- und verarbeitungsbereit, bin aber zuversichtlich, dass es auch dieses Mal eine Rückkehr geben wird.

Bis dahin: Musik.

Noch immer: War Is Over (If You Want It)

»So this is Christmas / And what have we done?
Another year over / and a new one just begun.«

In der Tat, es ist ein weiteres Jahr vergangen und erneut darf ein jeder in sich gehen und grübeln, was er oder sie im letzten Jahr so getrieben hat. Für heute möchte ich aber die geneigte Leserschaft in ihrer besinnlichen Stimmung das Weihnachtsfest genießen lassen.

And so this is Christmas
For weak and for strong
For rich and the poor ones
The world is so wrong
And so Happy Christmas
For black and for white
For yellow and red ones
Let’s stop all the fight

Den kompletten Text gibt es hier.

Ich wünsche der geneigten Leserschaft eine besinnliche Weihnachtszeit.

Ich bin ein langweiliger Spießer

Der 31. Oktober ist der Gegenstand vielfältiger Auseinandersetzungen, deren Intensität weit über das hinausgeht, was bei einem Kinderspaß erwartbar wäre. Alle Jahre wieder entzünden sich ideologisch aufgeheizte Debatten um Kürbisgesichter, Süßigkeiten, Kinderstreiche und Maskenbälle.
Dass die evangelische Kirche von der Umdeutung des Reformationstages wenig begeistert ist, liegt auf der Hand. Immerhin huldigt man an diesem Tag dem eigenen Ersatzheiligen nebst Gründungsmythos der eigenen Institution. Da wird dann selbst diese, sonst der Integration zunächst kirchenfremder Bräuche nicht abgeneigte Religionsgemeinschaft, ungewohnt humorlos (das offene Verhältnis der evangelischen Kirche zur Lebenswirklichkeit ist Stärke und Schwäche zugleich, aber das sei ein andermal erörtert).
Übrigens ist natürlich auch das Festhalten am Mythos des Thesenanschlages, den die historische Forschung seit Jahrzehnten für eben genau dies hält: einen Mythos, auch eher den zuständigen Tourismusbehörden und den Qualitätsjournalisten vorzuwerfen als einer Glaubensgemeinschaft, die ja immerhin das Privileg besitzt, Wahrheit nach anderen Kriterien zu definieren.

Doch es gibt auch von anderer Seite Angriffe gegen die weiter voranschreitende Übernahme der Halloween-Bräuche. Die kommen zum Beispiel aus einem eher traditionalistischen Lager, wo man zwar auch keine Ahnung hat, was man am 31.10. so feiern könnte, aber auf jeden Fall findet, dieses amerikanische Zeug, das ginge ja mal gar nicht – und dabei vollkommen ignoriert, dass die kulturelle Verbindung zur US-amerikanischen Populärkultur seit Jahrzehnten derart fest und tief verwurzelt ist, dass es keineswegs verwundert, wenn junge Menschen im Fernsehen behaupten, die Süßigkeitenjagd gehöre nunmal dazu, schließlich sei das Tradition.

Nur, ganz ehrlich, müssen wir uns wirklich wegen merkwürdiger Bräuche derart aufregen? Betrachtet man einmal das Kalenderjahr und die höchst merkwürigen Dinge, die da im Jahreskreis als Kultur gelten (ich meine, mal ehrlich: Hühnereier im Gras verstecken zu Ostern? Streiche am 1. April? Kleidungsstücke zerschneiden zur »Weiberfastnacht«? Überhaupt, Karneval: Kostümiert durch Straßen und Bars ziehen, bis sich endlich ein Kopulationspartner gefunden hat – und dafür auch noch von der Arbeit freigestellt werden? usw. usf.), gibt es genügend Anlass, Halloween äußerst entspannt zu betrachten. Ja mei, dann laufens halt rum, sammeln Süßigkeiten und spielen die Zombieapokalypse schon mal durch. Sollen sie doch. Wer lieber zum Gottesdienst möchte, kann das ja gerne tun. Und wem das zu amerikanisch ist, der ziehe sich halt seine Lederhose an.

Ich freilich, ich stelle heute meine Klingel aus. Meinetwegen können die Leute treiben, was sie wollen, sie können von mir aus heute auch Baal anbeten, wenn ihnen das irgendwie hilft oder Chtulhu beschwören – ich aber, ich hätte heute gerne einfach meine Ruhe.

Das Schlusswort gehört dem Hausheiligen dieses Blogs:

Diese Art Deutscher hat nie unrecht, er geht nie in sich, kommt nie auf den Gedanken, daß auch er vielleicht jemandem Unrecht getan haben könne – er siegt, und wenn er nicht siegt, dann borgt er sich einen Sieg, und den findet er immer in dem, was er ›Staatsräson‹ oder ›Gesinnung‹ oder ›Innenleben‹ oder ›vaterländische Religiosität‹ oder sonst dergleichen nennt. Diese Linie läßt sich von Luther an verfolgen, der das Unglück Deutschlands gewesen ist.

*

Flattr this

*aus: Tucholsky, Kurt: Grimms Märchen. in: Werke und Briefe: 1928. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 6164-6165, Digitale Bibliothek Bd. 15, vgl. Tucholsky-GW Bd. 6, S. 218.

„Strafe nicht – sondern schütze die Gesellschaft vor Rechtsbrechern.“

Die Wahlperiode, in der ich als Schöffe am Jugendgericht tätig war, neigt sich dem Ende zu. Es war eine höchst interessante Zeit, ich habe Menschen aus sozialen Zusammenhängen kennengelernt, die mir tatsächlich vollkommen fremd waren (und sind). Es gab dort bemerkenswerte Geschichten zu hören, Lebensgeschichten, deren einzige Konstanz ihre Brüche waren. Ich sah junge Menschen, die, ganz egal, wie sie sich vor Gericht gaben, doch eines einte: Eine tiefgehende Verunsicherung. Manches Mal waren da nur Flügel und keine Wurzeln. Und tatsächlich dachte ich auch in manchen Fällen, ganz entgegen meiner ursprünglichen Überzeugung: „Da ist nichts mehr zu wollen, diesen jungen Menschen haben wir verloren.“

Wann auch immer in der jeweiligen Heimatstadt der geneigten Leserschaft die nächsten Schöffenwahlen anstehen, ich kann nur dazu ermutigen, sich zu bewerben. Mir hat es geholfen, die Welt einmal mit anderen Augen zu sehen und wenig ist wichtiger als ein Perspektivwechsel*.

Der Hausheilige dieses Blogs, Dr. iur. Kurt Tucholsky, hat den vielleicht besten Text (ich kenne zumindest keinen besseren) dazu geschrieben:

Merkblatt für Geschworene

Nachdruck erbeten

Wenn du Geschworener bist, dann glaube nicht, du seist der liebe Gott. Daß du neben dem Richter sitzt und der Angeklagte vor euch steht, ist Zufall – es könnte ebensogut umgekehrt sein.

Wenn du Geschworener bist, gib dir darüber Rechenschaft, dass jeder Mensch von Äußerlichkeiten gefangen genommen wird – du auch. Ein Angeklagter mit brandroten Haaren, der beim Sprechen sabbert, ist keine angenehme Erscheinung; laß ihn das nicht entgelten.

Wenn du Geschworener bist, denk immer daran, dass dieser Angeklagte dort nicht der erste und einzige seiner Art ist, tagtäglich stehen solche Fälle vor andern Geschworenen; fall also nicht aus den Wolken, dass jemand etwas Schändliches begangen hat, auch wenn du in deiner Bekanntschaft solchen Fall noch nicht erlebt hast.

Jedes Verbrechen hat zwei Grundlagen: die biologische Veranlagung eines Menschen und das soziale Milieu, in dem er lebt. Wo die moralische Schuld anfängt, kannst du fast niemals beurteilen – niemand von uns kann das, es sei denn ein geübter Psychoanalytiker oder ein sehr weiser Beicht-Priester. Du bist nur Geschworener: strafe nicht – sondern schütze die Gesellschaft vor Rechtsbrechern.

Bevor du als Geschworener fungierst, versuche mit allen Mitteln, ein Gefängnis oder ein Zuchthaus zu besichtigen; die Erlaubnis ist nicht leicht zu erlangen, aber man bekommt sie. Gib dir genau Rechenschaft, wie die Strafe aussieht, die du verhängst – versuche, mit ehemaligen Strafgefangenen zu sprechen, und lies: Max Hölz, Karl Plättner und sonstige Gefängnis- und Zuchthauserinnerungen. Dann erst sage deinen Spruch.

Wenn du Geschworener bist, laß nicht die Anschauung deiner Klasse und deiner Kreise als die allein mögliche gelten. Es gibt auch andre – vielleicht schlechtere, vielleicht bessere, jedenfalls andre.

Glaub nicht an die abschreckende Wirkung eures Spruchs; eine solche Abschreckung gibt es nicht. Noch niemals hat sich ein Täter durch angedrohte Strafen abhalten lassen, etwas auszufressen. Glaub ja nicht, dass du oder die Richter die Aufgabe hätten, eine Untat zu sühnen – das überlaß den himmlischen Instanzen. Du hast nur, nur, nur die Gesellschaft zu schützen. Die Absperrung des Täters von der Gesellschaft ist ein zeitlicher Schutz.

Wenn du Geschworener bist, vergewissere dich vor der Sitzung über die Rechte, die du hast: Fragerechte an den Zeugen und so fort.

Die Beweisaufnahme reißt oft das Privatleben fremder Menschen vor dir auf. Bedenke –: wenn man deine Briefe, deine Gespräche, deine kleinen Liebesabenteuer und deine Ehezerwürfnisse vor fremden Menschen ausbreitete, sähen sie ganz, ganz anders aus, als sie in Wirklichkeit sind. Nimm nicht jedes Wort gleich tragisch – wir reden alle mehr daher, als wir unter Eid verantworten können. Sieh nicht in jeder Frau, die einmal einen Schwips gehabt hat, eine Hure; nicht in jedem Arbeitslosen einen Einbrecher; nicht in jedem allzuschlauen Kaufmann einen Betrüger. Denk an dich.

Wenn du Geschworener bist, vergiß dies nicht –: echte Geschworenengerichte gibt es nicht mehr. Der Herr Emminger aus Bayern hat sie zerstört, um den Einfluß der ›Laien‹ zu brechen. Nun sitzt ihr also mit den Berufsrichtern zusammen im Beratungszimmer.

Sieh im Richter zweierlei: den Mann, der in der Maschinerie der juristischen Logik mehr Erfahrung hat als du – und den Fehlenden aus Routine. Der Richter kennt die Schliche und das Bild der Verbrechen besser als du – das ist sein Vorteil; er ist abgestumpft und meist in den engen Anschauungen seiner kleinen Beamtenkaste gefangen – das ist sein Nachteil. Du bist dazu da, um diesen Nachteil zu korrigieren.

Laß dir vom Richter nicht imponieren. Ihr habt für diesen Tag genau die gleichen Rechte; er ist nicht dein Vorgesetzter; denke dir den Talar und die runde Mütze weg, er ist ein Mensch wie du. Laß dir von ihm nicht dumm kommen. Gib deiner Meinung auch dann Ausdruck, wenn der Richter mit Gesetzesstellen und Reichsgerichtsentscheidungen zu beweisen versucht, dass du unrecht hast – die Entscheidungen des Reichsgerichts taugen nicht viel. Du bist nicht verpflichtet, dich nach ihnen zu richten. Versuche, deine Kollegen in deinem Sinne zu beeinflussen, das ist dein Recht. Sprich knapp, klar und sage, was du willst – langweile die Geschworenen und die Richter während der Beratung nicht mit langen Reden.

Du sollst nur über die Tat des Angeklagten dein Urteil abgeben – nicht etwa über sein Verhalten vor Gericht. Eine Strafe darf lediglich auf Grund eines im Strafgesetzbuch angeführten Paragraphen verhängt werden; es gibt aber kein Delikt, das da heißt ›Freches Verhalten vor Gericht‹ Der Angeklagte hat folgende Rechte, die ihm die Richter, meistens aus Bequemlichkeit, gern zu nehmen pflegen: der Angeklagte darf leugnen; der Angeklagte darf jede Aussage verweigern; der Angeklagte darf ›verstockt‹ sein. Ein Geständnis ist niemals ein Strafmilderungsgrund –: das haben die Richter erfunden, um sich Arbeit zu sparen. Das Geständnis ist auch kein Zeichen von Reue, man kann von außen kaum beurteilen, wann ein Mensch reuig ist, und ihr sollt das auch gar nicht beurteilen. Du kennst die menschliche Seele höchstens gefühlsmäßig, das mag genügen; du würdest dich auch nicht getrauen, eine Blinddarmoperation auszuführen – laß also ab von Seelenoperationen.

Wenn du Geschworener bist, sieh nicht im Staatsanwalt eine über dir stehende Persönlichkeit. Es hat sich in der Praxis eingebürgert, dass die meisten Staatsanwälte ein Interesse daran haben, den Angeklagten ›hineinzulegen‹ – sie machen damit Karriere. Laß den Staatsanwalt reden. Und denk dir dein Teil.

Vergewissere dich vorher, welche Folgen die Bejahung oder Verneinung der an euch gerichteten Fragen nach sich zieht.

Hab Erbarmen. Das Leben ist schwer genug.

Kurt Tucholsky: Merkblatt für Geschworene. in: Die Weltbühne, 06.08.1929, Nr. 32, S. 202.

Flattr this

* Diese Szene beeindruckte ihren jugendlichen Betrachter derart, dass er beschloss, Lehrer zu werden. Und ich möchte auch heute noch glauben, dass es möglich ist, ein solcher zu sein, auch wenn mein Weg woanders hinführte.

Alte Helden. Wirre Gedanken ohne sinnvolle Konklusion.

michaelis2

Als ich diese Ankündigungen für ein Konzert von Dirk Michaelis in Leipzig hängen sah, fertigte ich ein photographisches Abbild an zu dem Behufe, in Verbindung mit eben diesem auf dem Kurznachrichtendienst »Twitter« alsbald ein geistreiches Bonmot zu veröffentlichen, das durch die Verbindung des Künstlernamens mit dem Auftrittsort auf eine vielleicht zu weit gehende Verehrung lokal verbundener Künstler referieren sollte und so geeignet gewesen wäre, die Gemüter zu erheitern und meinen Ruhm zu mehren.
So war der Plan.
Dann aber schaute ich mir das Plakat genauer an und stellte fest, was Dirk Michaelis da zu singen beabsichtigte. »Welthits in deutscher Sprache« nämlich. Das klang dann aber doch sehr nach Teleshop, diesem grauenhaften Ort, an dem man Welthits in noch ganz anderer Form käuflich erwerben kann (interpretiert von singenden Saxophonen etwa oder von grinsenden Gitarristen).
Dies stimmte mich nachdenklich.
Nun war ich nie ein besonders großer Freund der Kunst von Dirk Michaelis (die Karussell-Lieder, die ich mag, stammen aus der Zeit vor seinem Engagement in der Band), aber »Als ich fortging« war ein wichtiger Teil meiner jugendlichen Sozialisation und lässt mich auch heute nicht kalt. Das mag der Grund für eine gewisse sentimentale Grundsympathie sein, auch wenn ich keine Ahnung habe, was er in den letzten Jahren so getrieben hat.
Welches Recht also habe ich denn nun, wehmütig zu sein, wenn ich ein solches Plakat sehe und (möglicherweise auch vollkommen zu Unrecht) mit Assoziationen belege, von denen »Och nö, das ist aber schade« noch die freundlichste ist? Weiterlesen „Alte Helden. Wirre Gedanken ohne sinnvolle Konklusion.“

#Lesefreude, der Welttag des Buches und Decca

UPDATE, 29.04. 2013:
Da nun doch weit mehr Menschen teilnehmen als ich zu hoffen wagte, habe ich mir überlegt, die Preise etwas breiter aufzustellen. Es gibt jetzt folgende Gewinnmöglichkeiten:

1. Preis: Das Frank-Fischer-Komplettpaket
bestehend aus: »Weltmüller«, »Südharzreise«, »Der Louvre in zwanzig Minuten«, »Die Zerstörung der Leipziger Stadtbibliothek im Jahr 2003« und den beiden von Frank Fischer herausgegebenen und mit einem Nachwort versehenen Brawe-Dramen »Der Freygeist« und »Brutus«. Plus: Ein beliebiger Titel aus dem Verlagsprogramm von Ille & Riemer.
2. Preis: Das Frank-Fischer-Best-Of-Paket
bestehend aus: »Weltmüller«, »Südharzreise« und »Der Louvre in zwanzig Minuten«. Plus: Ein beliebiger Titel aus dem Verlagsprogramm von Ille & Riemer.
3. Preis: Das Frank-Fischer-Basis-Paket
bestehend aus: »Weltmüller« und »Der Louvre in zwanzig Minuten«. Plus: Ein beliebiger Titel aus dem Verlagsprogramm von Ille & Riemer.
4. Preis: Frank Fischers »Weltmüller«
bestehend aus: bestehend aus: »Weltmüller«. Plus: Ein beliebiger Titel aus dem Verlagsprogramm von Ille & Riemer.
5.-10. Preis: Ein beliebiger Titel aus dem Verlagsprogramm von Ille & Riemer.

Wie angekündigt, gibt es heute etwas zu gewinnen, da dieser Blog an der wunderbaren Aktion »Blogger schenken Lesefreude« teilnimmt, über die ich bereits berichtete.
Meine Wahl für das zu verlosende Buch fiel auf das güldene Buch Frank Fischers, betitelt »Weltmüller«.

Dieses stand hier bereits als Nummer 102 der Reihe »Buch zum Sonntag« im Mittelpunkt des Interesses. Ich formulierte meine Begeisterung seinerzeit folgendermaßen:

Vexierspiegel. Wenn ich eine Assoziation zu diesem Buch finden sollte, dann wäre es wohl diese.
Drei Reportagen eines preisentkrönten Journalisten namens Frank Fischer, von Begebenheiten handelnd, die in ihrer Absurdität gleichwohl möglich wirken. Ein Buch, das mit allem spielt, mit Wirklichkeitsebenen, mit Reflexionen, mit Wahrnehmungen, mit Erwartungshaltungen. Und wie, zumindest geht es mir so, beim Vexierspiegel der Eindruck entsteht, man müsse nur den richtigen Winkel finden, dann zeige sich die Wirklichkeit in ihrer unverzerrten Form, so drängt sich beim »Weltmüller« der Gedanke auf, man müsse ihn nur oft genug und mit der richtigen Fragestellung lesen und schon offenbare sich, was die Welt im Innersten zusammen hält. Oder zumindest doch, was eigentlich Kunst ist und welche Rolle sie in der besten der möglichen Welten spielt.
Es sind verschiedenste Lesarten dieses Bravourstücks möglich.
Man kann es als leichte Fingerübung eines talentierten Autors lesen, als intellektuelle Spielerei eines Passionsfeuilletonisten, gut geeignet, der distinguierten Zahnärztin als Geburtstagspräsent zu überreichen – bei all den Namen, die dort auftauchen, wird sie es kaum wagen, das Buch schlecht zu finden. Kann man machen.
Man kann es aber auch lesen als Satire auf „den Betrieb“. Auf den Theater- und sonstigen Kunstbetrieb, auf dieses um sich selbst drehende Universum, das stets darauf bedacht zu sein scheint, sich durch Deutungs- und Bedeutungshöhen abzugrenzen vom schnöden Plebs und dabei doch genau diesen, zumindest in seinem bildungsbürgerlichen Gewand, braucht, um die eigene Größe zu demonstrieren. Kann man machen.
Man kann es aber auch lesen als ein Schelmenstück, in dem ein Hamlet mit Tierpflegern und ein Godot mit einer sechsten Rolle oder 192 Tafeln auf dem Leipziger Augustusplatz eine Variation auf Kerkelings „Hurz“ sind, geeignet, das Publikum in seiner Erwartungshaltung vorzuführen, in seiner Sucht danach, sich selbst intellektuell nicht im Abseits zu sehen, alles, was das Etikett „Kunst“ trägt auch interpretieren und verstehen zu wollen – und vor allem auch zu können. Kann man machen.
Und das schöne wäre: Man hätte bei allen diesen Lesarten sein Vergnügen, je nachdem, wo man sich als Lesender selbst verortet.[…] »Weltmüller« ist für mich eines der faszinierendsten Leseerlebnisse der letzten Zeit – hochreferentiell, intertextuell geradezu ein Thanksgivingtruthahn – und doch auch ohne all dies ein exzellent funktionierender Text.

Das ist aber alles gar nicht der Grund, weshalb es mir ein tiefes inneres Bedürfnis war, für diese Aktion Frank Fischer auszuwählen. Die Hauptmotivation ist etwas, das ich ein »Decca-Erlebnis« nennen möchte. Die heute wohl nur noch Klassik-Fans und Freunden der Popmusikgeschichte bekannte Plattenfirma »Decca« lehnte im Jahr 1962 mit der Begründung, »guitar groups are on the way out« und der leichten Fehleinschätzung »The Beatles have no future in show business« ab, die Beatles unter Vertrag zu nehmen. Und in Sachen Frank Fischer habe ich ein ganz ähnliches Erlebnis zu berichten:

Zu den konventionellen Buchhändler-Träumen, die mir in den letzten Jahren in der Branche begegnet sind, gehört neben der fixen Idee, irgendwann einmal ein Literatur-Café zu eröffnen (wirklich, man müsste da mal eine empirische Untersuchung machen, aber ich bin mir sehr sicher, die Quote liegt signifikant hoch), der Gedanke, unbedingt selbst Bücher zu publizieren, und zwar vor allem die Bücher, die die bösen Großverlage nicht bringen, weil sie die Auflagenschwelle nicht erreichen können. Mit ersterem dauert es bei mir noch etwas, den Verlag habe ich bereits vor über 10 Jahren (mit-)gegründet und publiziere da nun vor mich hin. Vor einigen Jahren landete ein Manuskript auf meinem metaphorischen Schreibtisch, in dem der Ich-Erzähler von seiner Reise entlang der neugebauten A38 von Leipzig nach Göttingen reiste. Ich lehnte ab, insbesondere, da dies ein ziemlich schlechtes Jahr für den Verlag war und gerade ungefähr gar kein Geld da war. Es gibt keine Verlagsentscheidung, die ich mehr bereute als diese. Und so ist meine Gefühlslage durchaus ambivalent, jedes Mal, wenn ich Frank Fischers »Südharzreise«, die wenig später bei den Kollegen von SuKuLTuR erschien, zur Hand nehme.

Deshalb also gibt es unter allen, die bis zum 30.04. diesen Beitrag kommentieren, ein Exemplar des »Weltmüller« zu gewinnen. Und weil der Welttag des Buches so eine feine Sache ist, lege ich für den Gewinnenden noch ein Buch aus meinem Verlagsprogramm oben drauf, das sich die- oder derjenige dann frei aussuchen darf.

Flattr this

Rose Tremain: Adieu, Sir Merivel

Tremain Cover

Im Buchhändlerleben kommt es immer wieder vor, dass persönliche Beziehungen zu Kunden entstehen. Diese wollen dann oft mit niemand anderem mehr sprechen, von keinem anderen beraten werden, ja manchmal nicht einmal Bestellungen aufgeben, sondern gehen unverrichteter Dinge wieder davon, sollte man gerade nicht anwesend sein (oder warten, bis man sein Pausenbrot gegessen hat…)
Ich habe meine Buchhandelslaufbahn bei einem MA-Spezialisten begonnen, intensive Beratung und lauschige Gespräche über Novitäten und Klassiker sind da durchaus Mangelware. Nichtesdestotrotz, meine erste Kundin, die explizit von mir beraten werden wollte, fand sich dort – weil ich sie nicht merkwürdig anschaute, als sie ihr Interesse an historischen Romanen offenbarte*.
Ich habe in jungen Jahren sehr gerne historische Romane gelesen, was im Wesentlichen dem Einfluss Alexandre Dumas´ auf mein junges Gemüt geschuldet ist, aber nach einer sehr extensiven Christian-Jacq-Phase hat sich mein Leseinteresse doch anderen Gefilden zugewandt.
Nun fand ich aber bei dem immer noch empfehlenswerten Projekt Blogg Dein Buch einen neuen Roman von Rose Tremain, immerhin mit dem Orange Prize ausgezeichnete Autorin, die zudem bei Insel Verlag publiziert wird, was mir ein gutes Zeichen erschien.
Ein nicht mehr ganz junger Vertrauter des englischen Königs Karl II., der Arzt Sir Merivel, sucht nach neuen Herausforderungen und begibt sich nach Frankreich, um in Versailles am Hofe zu reüssieren, was gründlich danebengeht. Immerhin aber ergibt sich eine Liebesbeziehung zu einer unglücklich verheirateten Frau und zu guter Letzt steht seine Loyalität zum König vor einer Prüfung.
Kann man machen, dachte ich mir, Mid-Life-Crisis in einem Zeitalter ohne Porsche, das könnte recht unterhaltsam werden.
Weiterlesen „Rose Tremain: Adieu, Sir Merivel“