Power to the (reading) People

Der Welttag des Buches ist eine feine Sache. Einmal im Jahr soll das Buch, soll die Literatur im Vordergrund des öffentlichen Interesses stehen. Man hat sich dafür ein symbolträchtiges Datum ausgesucht, der 23. April ist weltliterarisch durchaus ein Schwergewicht. Und Schwergewichte sind es auch, die den Welttag publik mach(t)en. Es sind Branchenverbände und Großverlage, die ihre PR-Maschinen anwerfen, um schön gestrickte Marketing-Aktionen in Gang zu setzen.
Auch das ist natürlich eine feine Sache und jeder, der schon einmal selbst versucht hat, Aufmerksamkeit zu generieren, weiß, dass es überhaupt nicht schaden kann, professionelle PR-Maschinen anwerfen zu können.

Ganz unter uns gesagt, sind aber solche professionell geplanten Marketinggeschichten durchaus eine gute Portion öde. Nicht immer wirklich langweilig, aber es fehlt doch stets das Quentchen Überraschung. Besonders, wenn man dann schon eine Weile in der Branche ist, merkt, wie Budgets abschmelzen, wie Kreativität fehlt und überhaupt alles ein bisschen sehr in gewöhnliche Fahrwasser gerät, wo es eigentlich nur noch um lancierte Leseproben geht.

Umso erfreulicher nun, dass die Lesenden nun das Heft des Handelns ergreifen und einfach sagen: »Wir holen uns den Welttag zurück«. Also, keine Ahnung, ob sie das wirklich sagen, aber ich empfinde es so. 😉
Die Aktion »Blogger schenken Lesefreude« lädt dazu ein, am 24. April über ein Buch zu bloggen, das dann unter den Kommentierenden verlost wird. Ganz genau nachlesen kann man das in diesem Interview, das zudem alle notwendigen weiterführenden Links bereit hält. Leider habe ich inzwischen vergessen, wie ich auf diese Aktion gestoßen bin (es war aber kurz bevor die Branchenpresse darauf aufmerksam wurde), wollte aber, wie sich die geneigte Leserschaft sicher vorstellen kann, unbedingt mitmachen.
Es wird daher hier am 23. April die Möglichkeit geben, Frank Fischers wunderbaren »Weltmüller« zu gewinnen.

Weil heute aber heute ist und heute ist indiebookday, eine ebenfalls sehr exzellente Aktion, die ganz hervorragend passt, wenn es darum gehen soll, bei all der wirklich wichtigen Leistung, die die Big Player für die Branche erbringen (das ist ein eigenes Thema wert, aber all die Dienstleistungen, die Präsenz, die Werbung, die von den »bösen Großen« erbracht werden, sind durchaus ein Rückgrat, eine Basis, auf der die »Kleinen« aufsatteln können), sind es doch oft die kleinen, unabhängigen, selbstausbeuterischen Idealisten, die das Salz in der Suppe bilden. Die auf der Suche nach neuer, unentdeckter, aber guter Literatur sind, die Nischen besetzen, die auch das noch publizieren, was nur noch eine Handvoll Leute interessiert – und die dabei doch nicht reich werden. Und zwar selbst wenn sie einmal einen Durchbruch schaffen, so ergeht es ihnen doch oft wie den Fußballvereinen, die immer für ihre hervorragende Jugendarbeit gelobt werden, deren erste Mannschaft dann aber doch nur in der dritten Liga spielt…

Und all diese Unermüdlichen, diese Verrückten, die mit Herzblut bei der Sache sind und trotzdem sehr häufig (es sind wirklich viele, auch solche, bei denen der geneigte Leser dann nie vermuten würde) mit einem ganz anderen Job ihre Miete verdienen müssen, deren Arbeit soll dieses eine Mal ganz im Mittelpunkt stehen und die Bestsellerlisten wenigstens für einen Tag mal nach hinten schieben.

Für all jene in der geneigten Leserschaft, die jetzt vor Schreck gar nicht wissen, welches Buch sie sich heute unbedingt zulegen wollen, habe ich eine Liste zusammengestellt, die ich unter größten Schmerzen auf 10 Titel beschränkt habe. Und der Gewinner der Verlosung nächsten Monat darf sich noch eines von der Liste wünschen. oder aus dem Programm dieses schnuffigen Verlages.

Und da Klassenkampf ja gerade wieder salonfähig ist, jetzt etwas Musik:


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Wünscht euch was

2013 wird alles anders. Das ist ja offensichtlich, denn wie wir alle wissen, hat Ende Dezember des Vorjahres eine neue Ära begonnen. Seitdem sind wir alle bessere Menschen geworden und ernähren uns nur noch Lichtenergie. Oder so.
Wenn dem so ist, dann wäre natürlich meine Hypothese, dass der Hausheilige dieses Blogs zu allen Fragen des modernen Lebens eine Antwort bietet, hinfällig. So recht mag ich da aber nicht dran glauben, weswegen sich eines 2013 nicht ändern wird: Es wird weiter kräftigst gehuldigt. Und da keine kultische Handlung ohne Zeremonienmeister auskommt und kein Zeremonienmeister ohne kultige Gegenstände, werde ich im Laufe des Frühjahrs wieder ein paar Texte einsprechen, um sie hernach in silbrig glänzende Rundscheiben zu verwandeln.

Da wir aber ja nun im 21. Jahrhundert leben und dieses Internet angeblich so ein Mitmachdings ist, wo die Crowd gesourct und die Community gebuildet wird, habe ich mir überlegt, ich frage die geneigte Leserschaft, die ja sicher im Laufe der Jahre bereits zu wahren Tucholsky-Kennern geworden ist, nach eventuellen Textwünschen. Ich kann dabei nicht hoch und heilig versprechen, allen Wünschen zu entsprechen (es gibt zum Beispiel einige sehr gute Texte, die ich schlicht nicht so lesen kann, wie es angemessen wäre und Schloss Gripsholm zum Beispiel wäre mir jetzt eine Nummer zu lang… 😉 )

Wer sich also an Texte erinnert, die es schon einmal zu hören gab oder die gerne gehört werden würden – immer her damit.
Wer noch Texte sucht, sehr umfassend lassen die sich finden bei textlog. Anspieltipps hält die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft bereit.

Und wem völlig unklar ist, wie das bei mir so klingt, darf gerne einmal hereinhören.

Also, liebe geneigte Leserschaft, ich freue mich auf Vorschläge. Ansonsten ziehe ich am Ende meine Liste und nix ist mit Mitmachen. 😉


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P.S. Und auch Hinweise wie “Da gab es doch mal was, wo er über […] schreibt.” oder auch “Schrieb er nicht mal irgendwie sowas wie […], ich komme nur grad nicht auf den Titel.” sind gern gesehen. 😉

Das Buch des Tages

Den aufmerksamen Feuilleton-Lesern wird es aufgefallen sein: Heute gilt es ein Jubiläum zu feiern. Vor 60 Jahren fand die Uraufführung des Mutterstücks der Postmoderne, des Godfather of Absurdes Theater, des Über-Stücks des 20. Jahrhunderts statt.
Und im Gegensatz zum zeitgenössischen hiesigen Feuilleton, dessen Reaktionen geeignet sind, so manchem heute geschmähten Autor Hoffnung zumachen, weiß das heutige »Warten auf Godot« in den höchsten Tönen zu loben und seine Bedeutung in Regionen anzusiedeln, in denen jegliche Kritik als Blasphemie zu werten ist.

Anstatt also nun unzählige gleichlautende Artikel in diversen Medien zu lesen, empfehle ich der geneigten Leserschaft den einzig angemessenen Text zu lesen, nämlich das titelgebende Bravourstück aus Frank Fischers güldenem »Weltmüller«, den ich hier bereits wärmstens empfahl.

Für all jene, denen eine der lieferbaren Ausgaben zu teuer ist oder zunächst einmal überprüfen möchte wie recht ich habe, für all jene bietet sich die Möglichkeit eines Free Download.

Also, wie auch immer: Lest dieses Buch (und meinetwegen auch Beckett).


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Weiterhin: War is Over (If You Want It)

»So this is Christmas / And what have we done?
Another year over / and a new one just begun.«

In der Tat, es ist ein weiteres Jahr vergangen und erneut darf ein jeder in sich gehen und grübeln, was er oder sie im letzten Jahr so getrieben hat. Für heute möchte ich aber die geneigte Leserschaft in ihrer besinnlichen Stimmung das Weihnachtsfest genießen lassen.
Und da wir ja seit dem 21.12. in einer völlig neuen Ära leben und nun endlich alles ganz anders wird, sei auf diese Zeilen noch einmal besonders hingewiesen:

And so this is Christmas
For weak and for strong
For rich and the poor ones
The world is so wrong
And so Happy Christmas
For black and for white
For yellow and red ones
Let’s stop all the fight

Den kompletten Text gibt es hier.

Ich wünsche der geneigten Leserschaft eine besinnliche Weihnachtszeit.

Das Buch zum Sonntag (112)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

John Jeremiah Sullivan: Pulphead

Schubladen sind eine feine Sache. Die Welt wäre viel chaotischer oder zumindest würde sie einen viel chaotischeren Eindruck machen, gäbe es keine Schubladen. Schubladen sind eine sehr große Hilfe beim Sortieren und so nimmt es nicht Wunder, nein: scheint es geradezu zwangsläufig, dass dieses in der physischen Welt so überaus erfolgreiche Konzept auch im Nichtphysischen Anwendung findet. Es fällt uns unglaublich schwer, mit Entwicklungen, Gedanken, Menschen umzugehen, von denen wir nicht wissen wo wir »sie hinstecken« sollen. Aus welcher Richtung kommen die? Was wollen die? Und vor allem: von mir?
Das ist natürlich in einer derart hybriden Welt wie der Kunst, die sich um solcherlei Überlegungen oft überhaupt nicht schert (Oscar Wilde: »Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Weiter nichts.«), schwierig – was nicht heißt, dass es nicht versucht wird, die zuständigen Lehrstühle überbieten sich gerne egegenseitig in Kategorisierungen auf unterschiedlichsten Ebenen in unterschiedlichsten Aspekten. Und das gilt natürlich auch für Texte. Texte, die sich weigern, die vorgesehenen Schubladen zu respektieren und es unter Umständen sogar noch wagen, die Grenzen zwischen Fiktion und Nichtfiktion aufzuweichen, kommen in die hübsche, bunte Schublade Essay.
Was natürlich schade ist, denn die Kunst des Essay ist eine hohe, lobenswerte und es gibt Flecken auf der geographischen Karte der Lesenden in denen sie höher im Kurs steht als hierzulande*. Um der geneigten Leserschaft eine ungefähre Vorstellung davon geben zu können, was John Jeremiah Sullivan in seinen Texten treibt, werde ich sie auch genau dort einsortieren: Er schreibt Essays.
Sullivan ist Journalist und der Ursprung seiner Texte ist denn auch meist ein journalistischer Impuls. Sei es, dass er auf ein Thema gestoßen wird (»Du, John, schreib doch mal über…«) oder dass es ihn selbst drängt, zu einem Thema zu schreiben. Wie das Journalisten eben so machen. Und so entsteht ein ungemein bunter Strauß Themen, seien es die Nahtoderfahrungen seines Bruders, das Comeback von Axl Rose, »Katrina«, ein Christenrockfestival oder ein exzentrischer, aber brillanter Naturforscher des 19. Jahrhunderts.
Was er aber aus diesen Anreizen macht, ist mit dem üblichen Schubladeninstrumentarium nicht genau zu fassen. Sullivan zieht Parallelen, assoziert, beschreibt, erzählt Anektoden oder analysiert messerscharf.
Sullivan nahm mich bereits mit seinem ersten Text gefangen in dem er von seinen Erlebnissen auf einem Christenrock-Festival berichtet. Einer Veranstaltung unvorstellbarer Größe übrigens. Er berichtet von seinen missmutigen Vorbereitungen, die Anlass für einen Exkurs zur Internet-Paranoia von Eltern (und ihren Kindern) ist, stellt die Typen vor, die auf dem Festival begegnen, versucht, ihre Motivation zu erfassen und dem Lesenden nahezubringen, erzählt nebenbei von seinen eigenen religiösen Erfahrungen, baut en passant eine Analyse der Musik ein, die dort gespielt wird, erklärt die Spielregeln des Business, legt zwischendurch noch einen Abstecher bei einer der Bands ein, weil er die aus früheren Zeiten, als die noch andere und er mehr Musik machten, kennt und kommt schließlich auf die Jungs zurück, die er auf dem Zeltplatz kennenlernte und schaffte es dabei, dass ich für sie doch etwas mehr als nur Kopfschütteln übrig habe.

Sullivans Ankunft verlief nicht ganz glatt, ich fasse es mal kurz so zusammen: Er brauchte Hilfe. Und fragte seine Helfer anschließend natürlich, wer sie so seien:

“Nur ein paar Jungs aus West Virgina, die für Christus brennen”, sagte er. “Ich bin Ritter, das hier sind darius, Jake, Bub und Jakes Bruder Josh. Pee Wee springt hier auch irgendwo rum.”
“Hinter irgendeinem Rock her”, sagte Darius abfällig.
“Ihr hängt hier also ein bisschen rum rettet nebenher Leben?”
“Wir kommen aus West Virginia”, sagte Darius ein zweites Mal, als hielte er mich vielleicht für schwer von Begriff. […] “Die Stelle hatten wir letztes Jahr auch”, erzählte Darius. “Ich habe dafür gebetet. Ich habe gesagt: Herrgott, ich hätte diesen Platz wirklich gerne wieder, sofern es Dein Wille ist.”
Ich war davon ausgegangen, dass meine Festivaltage einigermaßen einsam ausfallen und im Ritualmord an mir gipfeln würden. Aber diese Jungs aus West Virginia hatten so viel Wärme. Sie strömte gerade zu aus ihnen heraus. Sie fragten mich, was ich so trieb, ob ich Sassafras-Tee mochte und wie viele Leute ich in meinem Wohnmobil mitgebracht hatte. Außerdem kannten sie einen Typen, der auf grauenvolle Weise ums Leben gekommen war und aus einem Bundesstaat kam, der denselben Namen trägt wie der Fluss, an dessen Ufern ich aufgewachsen bin. Und ich bin niemand, der solche Zufälle in Zweifel zieht.

(S. 24f.)**

Sullivan wirkt in seinen Texten sehr offen, sehr aufmerksam, sehr seinem Gegenüber zugewandt, eben ernsthaft interessiert, was den Versuch des Verstehenwollens überhaupt erst glaubhaft macht. Natürlich taucht er auf, natürlich erfährt der Lesende etwas von seinen Anschauungen, seinen Vorstellungen, aber im Mittelpunkt stehen die anderen. Er nimmt sich auf wunderbare Weise zurück, was die anderen um so mehr leuchten lässt. Die Themen sind meist Anstöße zu einem frei flottierenden Text (Ganz großartig übrigens »Das haus der Peyton Sawyer«, der zum scharfsinnigsten gehört, dass ich je zum Thema “Reality-TV” gelesen habe oder »Das Treiben der Lämmer«, in dem er die Grenzen zwischen allen Genres aufhebt). Ich kenne die USA aus eigener Anschauung nicht. Ich mag mich also irren. Aber Sullivan scheint mir hier ein überzeugendes Porträt abzuliefern und falls nicht, ist es immer noch unglaublich anregend zu lesen. Denn man merkt durchaus: Hier gibt sich einer nicht zufrieden mit dem, was ihm Mutter Kultur vorsetzt, nein, er legt sich durchaus mit ihr an. Er schaut genauer hin, ist im besten Sinne auf der Suche.
Wären journalistische Texte nur so, wir führten keine Debatten um »Qualitätsjournalismus«.

Oder, um es ganz kurz zu machen, wie es der Tagesspiegel in seiner Rezension vormachte: »John! Jeremiah! Sullivan!«

Und damit die geneigte Leserschaft meine berückenden Leseerfahrungen nachempfinden kann, muss hier natürlich noch der Hinweis auf die

lieferbaren Ausgaben

folgen.


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*Damit der Text nicht zu sehr abschweift: Zeitgenössischer Anspieltipp in deutscher Sprache ist aus meiner Sicht der ungemein luzide Franz Schuh.
rn2″>**aus: Auf diesen Rock will ich meine Kirche bauen. in: Sullivan, John Jeremiah: Pulphead. Suhrkamp Berlin 2012.

Das Buch zum Sonntag (111)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben

Sibylle Berg empfahl ich der geneigten Leserschaft bereits vor Jahren (nämlich als Nummer 12 und als Nummer 23). Dass ich sie nun ein drittes Mal ans Herz lege, hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ich sie gern lese. Wobei diese Aussage es nicht so ganz trifft, insbesondere beim heute zu empfehlenden Buch. Im Kundengespräch würde das in die falsche Richtung führen. Sibylle Berg ist keine Wohlfühlautorin. »Vielen Dank für das Leben« ist vielleicht das Buch von ihr, dass mich am stärksten aufgewühlt hat. Es scheint mir immer noch geprägt von der Wut auf die Welt zu sein, wie sie besonders bei ihren Theaterstücken offenbar wird, aber sie steht nicht mehr allein. Es ist kein Aufschrei, keine proklamierte Anklage, der Roman ist keine Empörungsprosa, sondern viel subtiler – und damit weit brutaler, weit kompromissloser, weit erschütternder. Hier werden keine Familiengeschichten verständnisinnig mit der deutschen Geschichte verwoben (weswegen sie den Deutschen Buchpreis auch 2012 nicht verliehen bekam), hier gibt es kein Suchen nach Verständnis für Anhänger totalitärer Ideologien, die es ja auch nicht immer leicht haben und ja trozdem auch irgendwie VaterMutterBruderSchwester sind und ja auch irgendwie Gefühle haben. Die alltäglichen Grausamkeiten, denen wir uns täglich aussetzen und die wir täglich begehen, die Furchtbarkeiten, die wir uns täglich gegenseitig antun, weil wir irgendwie durch dieses Leben durchkommen wollen, weil wir eben nur dieses eine Leben haben und möglichst viel davon haben wollen, all die Dinge, die wir bewusst oder aber, noch viel öfter, unbewusst, bzw., was die Sache wahrscheinlich mehr trifft, im Selbstbetrug tun – das sind die Themen, die in diesem Roman im Vordergrund stehen. “Gern” lese ich das in dem Sinne, dass auch ich natürlich Teil dieser Welt und ihrer Spielregeln bin und ein Korrektiv, ein Wachrütteln, ein Schlag ins Gesicht, ein Finger-in-die-Wunde-legen hilfreich sein kann, die eigenen Prioritäten im Leben, die eigenen Maßstäbe, die eigenen Handlungsmaximen in Frage zu stellen. Wobei Frau Berg nicht nur den Finger in die Wunde legt – da ist mindestens noch Salz im Spiel. Und ein Messer. Und eine rührende Bewegung. Kurz: Angenehme Kaminlektüre ist was anderes.
Nun sind Dystopien nichts Neues und auch wenn vielleicht literaturtheoretisch Vielen Dank für das Leben darauf hinauslaufen mag – in meinen Augen ist es keine. Für eine Dystopie ist das viel zu langweilig – das Verrückte, das Spannende an diesem Roman ist nämlich gerade, dass es keine Dystopie ist, sondern die Figuren und ihr Umfeld keinerlei Überzeichnung bedürfen, keinerlei Fortführung auf irgendeinen absurden Zustand, auf dass man die innewohnenden Grausamkeiten erkennen möge. Es sind alles durchaus Menschen, die man genau so zu kennen scheint. Die genau so hinter der Nachbarstür, der Wohnungstür, der eigenen Stirn zu wohnen scheinen. Keiner mit überragenden Ambitionen, keiner mit überragender Schlechtigkeit, alle nur mit ihrem eigenen, kleinen Leben beschäftigt, lediglich bestrebt, ihren kleinen Anteil am Glück zu ergattern.
Was das aber heißt, wird erst vor der Folie der Protagonistin klar. Toto, geboren in der DDR, aufgewachsen in einem Heim, von unklarer geschlechtlicher Zuordnung und auch sonst in keine der herkömmlichen Schubladen zu stecken. Toto ist ein Mensch, die nichts zu erreichen sucht, nichts gelten will, die der Welt mit Sanftmut begegnet, wo ihr nur Hass entgegenschlägt. Vor der der Folie dieses unwahrscheinlichen, aber keineswegs unmöglichen Menschen, vor dieser Idee davon, wie Menschen sein könnten, offenbart sich kompromisslos, wer und wie wir sind. Ich mag Toto sehr, ich habe, ganz im Gegensatz zu ihr, fast 400 Seiten lang immer wieder gehofft – auf irgendetwas, ich weiß auch nicht auf was. Allein, es gibt keine Hoffnung.
Lest dieses Buch, schaut in den Spiegel, aber macht euch darauf gefasst, dass euch nicht gefallen könnte, was ihr seht.

Die Großartigkeit von Roman ist in

diesen Ausgaben

lieferbar.


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Das Buch zum Sonntag (110)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Umberto Eco: Der Name der Rose

Wenn Wissenschaftler Romane schreiben, muss das keine gute Idee sein. Erst recht nicht, wenn sie sich mit einer Disziplin beschäftigt, die sehr tief in Bedeutungen, in Sprachstrukturen eindringt, kann schnell die Gefahr entstehen, dass der Wissenschaftler über den Romancier triumphiert und am Ende nur ein elaboriertes Konstrukt ohne literarischen Wert entsteht.*
Gelingt es aber, kann daraus ein vielschichtiges, unterhaltsames Werk dabei entstehen, das keine Angst vor der Verfilmung haben muss**. So wie Ecos Großwerk, das seinen schriftstellerischen Ruhm begründete und das dementsprechend auch weit bekannter ist als etwa seine Auseinandersetzungen mit Roland Barthes.
Dass Eco ein guter Botschafter in eigener Sache ist, beweist schon seine Angabe über den Impuls, dieses Werk zu schreiben. Er habe einen Mönch umbringen wollen. Und in Beantweortung der semiotischen Grundfrage nach dem Verhältnis von Zeichen zur realen Welt, hat er dann auch genau das gemacht.
Es geht in Ecos Roman um merkwürdige Todesfälle in einem mittelalterlichen Kloster. Das ist zumindest der Köder, mit dem er Leser einfängt. Denn in Wirklichkeit ist das nur eine Ebene des Romans, die auch sehr gut funktioniert, man kann den Roman lesen und sich tatsächlich nur für die Frage nach dem Mörder interessiert. Für einen Who-Dunnit wäre dann sicher der Umfang etwas gewöhnungsbedürftig, wenn man das aber als Schrullen eines talentierten Kriminalromanautors abtut, kommt man damit sehr gut durch. Wenn es aber nur das wäre, hätte es dieser Roman nicht zur eierlegenden Wollmilchsau der Buchbranche geschafft. Es gibt nahezu niemandem, dem dieses Buch nicht zu empfehlen wäre – der Traum eines jeden Buchhändlers am 23.12. – weil es nämlich gleichzeitig noch viel mehr ist.
Eco schafft hier eine Symbiose, die ihm sonst nie wieder gelingt und die ich so auch nur selten gefunden habe. Mein Grundstock an Kenntnissen der mittelalerlichen Philosophie und Theologie (die zugegebenermaßen schwerlich zu trennen sind) entstammt diesem Werk und den Dialogen seiner Figuren. Ganz auf die Kraft und Lebendigkeit seiner Charaktere vertrauend, lässt Eco hier seitenweise Dispute führen über Gott und die Welt und wie wohl in dieser am besten zu leben sei. Und das erstaunliche ist – das funktioniert. Als ich den Roman das erste Mal las, gerade frisch an Thomas Manns »Doktor Faustus« gescheitert***, konnte ich keinerlei Wissens- oder Erkenntnisvorsprung für mich reklamieren, hatte aber eine große Freude daran.
Dieser Roman wird getragen von einem Esprit, für den ich vielleicht aber auch besonders empfänglich bin. Hier finden Wortgefechte nicht mit offenem Visier statt, hier wird von hinten in die Brust gestochen. Mal eine klitzekleine Kostprobe:

“[…]Alles hier muß in herrlichstem Glanze erstrahlen…” fügte er an und sah William fest in die Augen, und gleich darauf begriff ich, warum er so stolz darauf beharrte, sein Tun zu rechtfertigen, “denn wir halten dafür, daß es nützlich und gut ist, die Wohltaten Gottes nicht zu verbergen, sondern im Gegenteil offen zu zeigen.”
“Gewiß”, sagte William höflich, “wenn Eure Erhabenheit es für richtig hält, daß der Herr auf diese Weise gepriesen sei, so hat Eure Abtei die höchste Stufe in dieser Form der Lobpreisung erreicht.”

(S. 182)****

Diese Stelle ist noch aus einem anderen Grund interessant, weil sie einen kleinen Einblick in die Vielschichtigkeit des Werkes gibt. Diese kleine Szene kann gelesen werden als das höfliche Gespräch zweier Mönche, die Konversation betreiben. Man kann aber auch die Ironie in Williams Antwort entdecken, die in scharfem Kontrast zum Tonfall steht. Gleichzeitig wirft der Dialog ein Schlaglicht auf eine der wichtigsten Fragen mittelalterlichen Denkens (und damit auch eines der Kernthemen des Buches), nämlich, ob es gottesfürchtig ist, (viel) zu besitzen und dieses auch noch zur Schau zu stellen (es gibt da durchaus diskutable Stellen im Neuen Testament, die des Abtes Sicht auf den ersten Blick nicht zu stützen scheinen). Hierüber kreuzen die beiden sehr wohl gerade die Klingen. Ein weiterer Aspekt, den dieser Dialog zeigt, ist der von Ecos extrem gründlicher Arbeit in diesem Roman. All jene, die das Vergnügen hatten, Latein lernen zu dürfen, werden unschwer in der Satzkonstruktion des Abtes erkannt haben, dass sie geradezu unmittelbar aus dem Lateinischen übersetzt scheint.
Dies soll zur Illustration genügen. 😉

Lieferbar ist das Buch in mannigfacher Form. Und zwar als Taschenbuch, Hardcover, Hörbuch und ebook.


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*Ähnliches gilt natürlich auch für Libretti. 😉
**Die (Über-)mächtigkeit des Bildmediums ist ein beliebtes Debattenthema. Ich gebe gerne zu, dass die Verfilmungen die Chance haben, ein Publikum eher und direkter zu ergreifen. Meine Berufserfahrung lehrt mich allerdings, dass eine Verfilmung keineswegs zwangsläufig von der Lektüre des Buches abhält. Ganz im Gegenteil. Verfilmte Bücher haben auch langfristig erheblich bessere Chancen, im Bewusstsein zu bleiben. Eben weil ein vergleichsweise kurzes Vergnügen wie ein Film durchaus die Möglichkeit haben, öfter wahrgenommen zu werden und auf diese Weise als Erinnerungsfaktor wirkt. Das ist im Prinzip nichts anderes als Werbung. Und wenn der Film gut gemacht ist, macht er langfristig auch oft Lust aufs Buch. Natürlich ist aber eine Literatur-Rezeption, die nach der Rezeption der Verfilmung erfolgt eine ganz andere. Gilt aber auch vice versa.
***Das war im jugendlichen Übermut, 14, vielleicht 15 Jahre alt, gerade mit Begisterung die Buddenbrooks gelesen und noch in der Vorstellung gefangen, wenn man ein Werk eines Autoren gelesen habe, seien die anderen ebenso leicht zu lesen…
****zitiert aus: Eco, Umberto: Der Name der Rose. Erweiterte Ausgabe mit Ecos Nachschrift und dem Kommentar von Burkhard Kroeber. Zweitausendeins. Frankfurt/Main. 2000

Das Buch zum Sonntag (109)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Jean-Paul Sartre: Wege der Freiheit

Sartre war für mich, wie die geneigte Leserschaft möglicherweise bereits bemerkt hat, eine der prägendsten Lektüreerfahrungen. Das hängt sicher nicht nur mit dem bei der jugendlichen Lektüre von Existentialisten nicht seltenen Epiphanie-Erlebnis* (was sich in diesem Falle vielleicht am besten mit »Aber natürlich, das macht alles keinen Sinn!« umschreiben ließe) zusammen.
Den Zyklus “Wege der Freiheit” halte ich aber auch heute für nichts weniger als ein literarisches Meisterwerk – zumindest was die abgeschlossene Trilogie betrifft – der vierte Band ist zu sehr Fragment.
Sartre gelingt es hier, in jedem Band eine andere Erzähltechnik einzusetzen – und zwar jedes Mal hervorragend passend zur erzählten Geschichte.
Im Mittelpunkt der Reihe, insbesondere in den ersten beiden Bänden, steht der Philosophie-Lehrer Mathieu nebst einigen Personen seines Umfeldes. Wir begegnen ihnen zunächst 1938, ungefähr 2 Tage lang im Juni, dann im Herbst, kurz vor dem Münchener Abkommen und schließlich nach der französischen Niederlage.
Während also Band 1 sehr kleinteilig, wenn auch weit von Ulysses mit seinem intertextuellen Ozean entfernt, so doch erzählerisch sicher nicht unbeeinflusst, und sehr detailliert die 48 Stunden erzählt und es an tiefgründigen Gesprächen und weitreichender Charakterzeichnung nicht mangeln lässt, dabei allerdings, sicher nicht zuletzt aufgrund der historischen Situation, durchaus dynamisch bleibt, wechselt er in Band 2 in eine völlig andere Erzählweise. Hier, wo er eine unsichere, unklare Situation, eine verunsicherte Gesellschaft zeigen will, erschafft er ein höchst komplexes Gebilde aus zum Teil sehr fragmentarischen Erzählstücken. Dies erfordert natürlich ein durchaus aufmerksames Lesen, gibt aber ein sehr überzeugendes, mitreißendes Bild. Band 3 wird dann geradezu tagebuchhaft, insbesondere da, wo er die Lagersituation schildert.
Es mag meiner jugendlichen Begeisterungsfähigkeit geschuldet sein, aber ich stehe auch heute noch dazu: Für mich handelt es sich bei »Wege der Freiheit« um einen der gelungensten Versuche, eine philosophische Weltsicht in Romanform zu gießen. Im Gegensatz zu vielen sonstigen Versuchen, verlagert er nicht einfach ein sokratisches Gespräch in die Romanhandlung, so dass die Figuren ein philosophisches Seminar nachstellen, sondern der Existentialismus und sein zentrales Thema, die Freiheit menschlichen Handelns und sein Verhalten zur Welt, sind integraler Bestandteil von Handlung und Struktur.
Sartre schafft es, sowohl eine Zeitstimmung einzufangen, quasi ein gesellschaftliches Standbild zu zeichnen** und gleichzeitig überaus lesbar ein Kunstwerk zu schaffen, das über die erzählte Geschichte hinaus geht. Die Dramatik der Situation kommt ihm dabei sicher zugute, was aber ja nicht schlimm ist, ganz im Gegenteil.

Wer diese faszinierende und prägende Lektüreerfahrung nachvollziehen möchte, kann das mit Hilfe der

lieferbaren Ausgaben

tun.


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*siehe hierzu z.B. Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee
**Mit noch mehr quantitaivem Aufwand und weit weniger philosophischer Dichte gelingt das übrigens Ilja Ehrenburg in seinm “Der Fall von Paris“, der die Zeit unmittelbar vor und nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris beschreibt und wie so oft bei Ehrenburg mehr Zeitdokument als großer literarischer Wurf ist.

Frank Westerman: Das Schicksal der weißen Pferde

Ich halte die Kulturgeschichte für eine spannendsten Entwicklungen der Geschichtsschreibung. Wo es in der politischen Geschichte immer nur um Könige, Kaiser und andere Potentaten geht, kann die Kulturgeschichte aus dem Vollen schöpfen. Und so können Tee, Salz oder Kaffee im Mittelpunkt des Interesses stehen, genauso gut aber auch die Entwicklung des Aborts im Wandel der Zeiten oder eben des Menschen Verältnis zu Tieren. Die daraus zu gewinnenden Erkenntnisse sind nicht minder aufschlussreich als die Winkelzüge Metternichs oder die strategischen Großtaten Ramses II.
Mit großen Erwartungen ging ich also an die Lektüre von Frank Westermans Schicksal der weißen Pferde, das im Untertitel nicht weniger verspricht als eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts sein zu wollen.
Westerman wird vom Verlag als Meister der literarischen Reportage eingeführt und das scheint mir auch recht zutreffend zu beschreiben, was im Buch passiert. Es handelt sich dabei nämlich keineswegs um eine konzise, umfassende und strukturierte Darstellung seine Sujets, sondern vielmehr um eine Beschreibung seiner Annäherung an das Thema, seine Recherchen, Gespräche und Reisen.
Im Zentrum steht das Schicksal der Lippizaner, einst der ganze Stolz der Habsburger Doppelmonarchie und durchaus Symbol des herrschaftlichen Selbstverständisses. Die edelste und schönste Rasse der Pferde, gezüchtet in verschiedenen Teilen des Vielvölkerreichs und ureigenste Erfindung desselben.
Ausgangspunkt Westermans eigenen Interesses scheint der Lippizanerhengst seines Reitlehrers (Conversano Primula) zu sein, dessen Erwerb in den Niederlanden seinerzeit eine kleine Sensation war. Ausgehend von dessen Stammbaum führt er durch die Zeitläufte des 20. Jahrhunderts, zeigt auf, welche Sonderrolle die Lippizaner immer spielten, insbesondere als Statussymbol – und zwar sowohl für die Nationalsozialisten wie für Tito oder die Republik Österreich. Immer wieder unterbricht er dies mit Exkursen in frühere Jahrhunderte (in denen die Lippizaner ähnlichen Status genossen), die Geschichte der Genetik und Züchtung oder mit Berichten über seine Reisen zu Orten und Menschen.

Das ist alles sehr gefällig zu lesen, gelegentlich sogar wirklich spannend – aber eine Aussage, eine Idee, eine Botschaft suchte ich vergebens. Außer zwei Dingen: Es schimmert durch alles, wenn es nicht simple Pferdenarrheit ist, ein Antispeziezistischer Ansatz, der interessant und diskutabel wäre, würde er denn formuliert.
Und Westerman mag offenkundig keine Russen. Im Gewande des sowjetischen Soldaten tauchen sie mehrfach in seiner Darstellung auf, während aber alle Akteure sonstiger ethnischer Herkunft, egal wie sie die Pferde nachher behandelten, so doch ihren symbolischen Wert jederzeit anerkannten, so tauchen die sowjetischen Soldaten stets nur auf, um sie als Lasttiere oder künftige Speise zu behandeln.
Ganz übel stieß mir jedoch folgender Satz auf, der aus einer eigenen (also nicht aus Quellen entnommenen) Schilderung einer Massenszene vor Stalin entstammt:

Nachdem das Klappern der Hufe verklungen war, trat eine Hundertschaft Iwans an:

(S. 214)

Sorry, aber so etwas geht gar nicht. Ich erwarte von einem Werk, das in irgendeiner Form als Geschichtswerk ernst genommen werden soll, dass Abwertungen ganzer Völker unterbleiben. Was ansonsten im Buch zu finden ist, mag als tendenziös bezeichnet werden können, aber Iwan als Bezeichnung für sowjetische Soldaten frei zu wählen, ist mindestens unseriös.

Im Ganzen bleibt mir das ganze Buch viel zu bruchstückhaft, es fehlt eine Linie, ein Faden, eine Idee, der all die, durchaus interessanten, durchaus gut erzählten Versatzstücke zusammenfügt. Es entsteht so keine Einheit, kein Werk, das seinen Untertitel wirklich rechtfertigt.
Aber für verschiedene Aspekte, gerade des Mensch-Tier-Verhältnisses und die politische Rolle von Wissenschaft in den letzten 150 Jahren vermag das Buch durchaus bereichernd wirken.

erschienen 2012 bei C.H. Beck.

Bestellt werden kann es hier:.

Das Rezensionsexemplar wurde zur Verfügung gestellt über das empfehlenswerte und hochinteressante Projekt .

Bibliographische Daten:

Frank Westerman: Das Schicksal der weißen Pferde. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. C.H. Beck München 2012.


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