Willkommenskultur

Großstädte gelten als Zentren einer urbanen, weltoffenen Kultur. Und je nach Perspektive bedeutet das irgendetwas zwischen »Cool, Freiräume für Kreativität und experimentelle Lebensräume« und »Sodom und Gomorrha«.

In welche Richtung das Pendel dabei mehr ausschlägt, lässt sich gar nicht so genau vorhersagen. Es hat sicher etwas mit der Größe der Großstadt zu tun, aber keineswegs ausschließlich wie ich als Bewohner des sächsischen Freistaates sicher sagen kann.

In Leipzig steht Pfingsten an, das heißt eigentlich: Es liegt in der Luft.

Und wem dies als Anhaltspunkt noch nicht genügt, der kann es auch hören:

Das WGT gehört schon länger zu Leipzig als ich, somit kann ich zu den Anfangszeiten nichts aus eigener Anschauung sagen.

Doch in den letzten 17 Jahren war mir Pfingsten doch immer die liebste Jahreszeit in dieser Stadt: Die faszinierte Freundlichkeit, mit der die Besucher_innen hier empfangen werden, begeistert mich immer wieder.

Und so großartig ich es auch jedes Jahr wieder finde, wenn mir gezeigt wird wie bunt schwarz eigentlich sein kann, so freue ich mich noch mehr über die Reaktionen der Stadtbewohner_innen.

Es sind dies Momente, in denen ich fühle: Ja, ich lebe gerne in dieser Stadt. Eine Stadt, deren Bewohner_innen in der Lage sind, zu verstehen, dass »fremd« kein Wort für »feindlich« ist.

Natürlich ist das romantisierend und natürlich gibt es auch hier Menschen, die ganz anders denken. Und trotzdem kann ich mir das WGT nicht in Dresden vorstellen, wo sich noch immer Tausende jeden Montag hinter einem Kleinkriminellen aus Spanien im Kreis drehen, weil sie Angst vor kriminellen Menschen aus dem Ausland haben.

Nein, es ist nicht nur die Anzahl der Bewohner_innen einer Stadt – mit deren Größe hat es aber vielleicht doch etwas zu tun.

Supa Richie

Man hat es in diesem Jahr nicht leicht, wenn man in Leipzig lebt und nationalem Jubeltum eher abhold ist.
Die Heldenstadt feiert sich ja generell gerne, in diesem Jahr nun mit besonders stolzgeschwellter Brust. Während aber die alljährlichen Oktoberfeierlichkeiten zumindest doch an Ereignisse erinnert, für die Leipzigs Bewohner tatsächlich substantiell einen Grund haben, sich zu feiern, sieht das bei den Großfeiern zum Jahr 1813 doch etwas anders aus.
Auch wenn ich angesichts der Plakatierungen schlimmste Befürchtungen hege, was die Erinnerungsarbeit in Sachen Völkerschlacht angeht, möchte ich doch fair sein und abwarten, was dort geschehen wird.
In Sachen Wagner allerdings hat ja nun nach Abschluss der hiesigen Festwoche einiges stattgefunden und es lässt sich im Wesentlichen zusammenfassen als: Unkritischer Jubeltaumel. Und dass, obwohl es reizvolle Punkte gegeben hätte, da man doch gleichzeitig auch Mendelssohn Bartholdy feiert, den Wagner als Paradebeispiel jüdischer Nichtschaffenskunst anführt.
Es ist erstaunlich, wie unsouverän Wagnerianer mit Einwänden gegen dessen Schaffen umgehen. Mit welch bemerkenswerten argumentativen Pirouetten versucht wird, Aspekte, die Zeitgenossen offenkundig waren, in der heutigen Rezeption auszublenden.
Anstatt also souverän zu sagen: »Ja, Wagner war ein größenwahnsinniger Antisemit – und ich höre seine Musik aus diesen und jenen Gründen trotzdem.«
Es gibt Rezeptionsmöglichkeiten, die das zulassen. Wir lesen ja schließlich auch noch Luther, dessen wütender Antisemitsmus sich hinter dem Wagners nicht zu verstecken braucht.
Was mich also ärgert, ist nicht, dass es Menschen gibt, die gerne Wagner hören wollen – sondern dessen Ikonisierung, die eine ernsthafte Beschäftigung mit ihm unmöglich zu machen versucht.

Ich möchte hierzu auf den großartigen Essay »Apocalypse Now. Der ewige Streit um Richard Wagners Pamphlet „Das Judentum in der Musik“ (1850/1869)« von Jan Süselbeck verweisen, der sich sehr sachlich mit diesem Thema auseinandersetzt und doch in seiner Pointiertheit höchst lesbar ist. Eine Kostprobe soll hier genügen:

Ohne die Bemerkungen Ruth Westheimers an dieser Stelle bezweifeln zu wollen, ist Heidenreichs publizistische Methode typisch: Eine Jüdin, noch dazu eine, deren Eltern in Auschwitz ermordet wurden, vorzuschieben, um die Größe Wagners zu bezeugen, soll hier jede Ideologiekritik am musikästhetischem Werk des Komponisten obsolet erscheinen lassen. Sie selbst, Heidenreich, sei als ’68erin natürlich auch immer ‚beredet‘ worden, Wagner höre man einfach nicht, weil Wagner „Hitlers Lieblingskomponist“ gewesen sei. Umso begeisterter zitiert sie ein Bonmot aus einem der von ihr in dem „Welt“-Artikel besprochenen Bücher: „Wie lange brauchte ich, um zu begreifen, was Christian Thielemann ganz lässig nebenbei sagt: ‚C-Dur ist immer C-Dur.‘ Was Wagners Sippe mit dem Dritten Reich gekungelt hat, hat mit Wagner selbst nichts zu tun und mit seiner für Machtgeprotze benutzten Musik schon gar nicht.“
Wirklich? Einen größeren Unsinn hat man selten gelesen: C-Dur ist eben nicht immer ,nur C-Dur‘. Muss man heute wirklich immer noch erklären, dass in der Musik, ebenso wie in der Literatur und allen anderen Künsten, der Kontext, die Wirkungsintention und die Rezeption eines Werkes aus bestimmten, darin verwendeten ästhetischen Elementen sehr wohl immer wieder etwas Spezifischeres machen können als ‚bloß C-Dur‘? Dass Kunstwerke ihre ästhetischen Mittel im Rahmen einer jeweils besonderen Botschaft instrumentalisieren können und sollen? Um nur einige hypothetische Beispiele zu nennen: Das Wort „Held“ etwa bedeutet eben nicht immer nur das, was es im bloßen ,Wortsinne‘ meint, sondern könnte bei Franz Kafka oder in einem Film von Charles Chaplin eine andere Bedeutung haben als bei Ernst Jünger. Und wenn Adolf Hitler in „Mein Kampf“ (1925) in einer Passage eine Lanze für die humanistische Bildung an deutschen Schulen bricht, so wird wohl niemand ernsthaft behaupten wollen, dieses Plädoyer könne, für sich genommen, bedenkenlos in die nächste PISA-Studie eingegliedert werden. Genauso ist es selbstverständlich auch in der Musik: Sollte ein antisemitischer Musiker die Tonart „C-Dur“ etwa gezielt dafür einsetzen, um damit den strahlenden ‚arischen‘ Protagonisten seiner Oper gegenüber dem ‚bösen‘ jüdischen Charakter positiv zu kennzeichnen, so ist die Harmonie seiner Komposition an der Stelle eben nicht einfach nur „C-Dur“. Zugegeben: Es ist wohl wirklich verlorene Liebesmüh’, solche Feinheiten einer Autorin wie Elke Heidenreich erklären zu wollen.

Süselbeck zitiert übrigens auch einen Zeitgenossen, der Wagners unsäglichen Artikel zum »Judenthum in dr Musik« mit dem unfassbar großartigen Satz kommentiert: »Die maßloseste Selbstvergötterung hat hier einen Gipfel erstiegen, auf dem ein Mensch mit gesunden Hirnfunktionen nicht mehr zu atmen vermag.«
Ich überlege noch, wie ich dies in meinen aktiven Wortschatz übernehmen kann…

Also, geneigte Leserschaft, schaut bitte herüber zu literaturkritik.de und lest Süselbeck. Es lohnt sich. Und es ist wichtig.

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P.S. Vollkommen sinnverdrehend möchte ich aber doch noch ein Plädoyer anbringen, inspiriert vom Schaufenster der Löwen-Apotheke Leipzig:
wagner
Das scheint mir ein probates Mittel gegen Untote. 😉