Das Buch zum Sonntag (70)

Prolog: Wie die ganz wunderbare @missmarple76 formulierte, war bei mir heute “Intra-familiärer Kleinstbackwerkerzeugungssonntag”. Zudem hatte die Traumtochter™ einen nachmittäglichen Chor-Auftritt und sich der Faszination eines Weihnachtsmarktes im Dunkeln zu entziehen, kann von Kindern im präpubertären Alter schlicht nicht verlangt werden. Gestern Abend war ich viel zu müde (Stichworte: Buch = wunderbares und wertiges WeihnachtsGeschenk >> Buchhandel >> Adventssamstag). So viel dazu. Nun zur Sache.

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft:

Victor Klemperer: LTI

Bedenkt man, daß schon Humboldt meinte, mit dem Erlernen einer neuen Sprache lerne man eine ganze Kultur, ist es sehr erstaunlich, wie lange es bis zum liguistic turn dauerte. Das hat zwar nichts mit dem heutigen Buch zu tun, aber ich wollte das schon immer mal sagen und ehe ich jetzt noch anderthalb Jahre auf einen günstigen Moment warte, bringe ich das lieber mal heute an.
Wobei es in einem Punkt dann doch etwas mit Klemperers “Notizbuch eines Philologen” zu tun hat: Dem genauen Blick auf die Sprache, um zu verstehen, was geschieht.
Klemperer schaut sehr genau hin. Welche Wrter, welche Wendungen offiziell und alltäglich verwendet werden, wie sich der Gebauch und der Wortschatz ändert und kommt dabei zu sehr aufschlußreichen Beobachtungen.

Was nach außen das Gesicht eines unschuldigen Friedensspiels zur Erhaltung der Volksgesundheit zu wahren hat, muß tatsächlich eine Vorbereitung zum Kriege sein und auch im Bewußtsein des Volkes als etwas derart Ernstes geschätzt werden. Es gibt jetzt eine Hochschule für Sport, ein Sportaakademiker ist jedem anderen Akademiker mindestens gleichgestellt – in den Augen des Führers ihm sicherlich überlegen. Die Aktualität dieser Wertschätzung dokumentiert sich um die Mitte der dreißiger Jahre in der Benennung von Zigaretten und Zigarillos und wird durch sie gefördert: man raucht “Sportstudent” und “Wehrsport” und “Sportbanner” und “Sportnixe”.

(S. 295)*

Es fällt mir schwer, bei Klemperer nur kurz zu zitieren. Zu stringent sind seine Ausführungen, zu sehr widerstrebt es, etwas davon wegzulassen. Seine Überlegungen sind sehr scharfsinnig, sehr genau und mit einer bemerkenswerten Distanz geschrieben, die mich bei der Erstlektüre durchaus überraschte. Denn Klemperer hätte nun wahrlich jeden Grund wohl auch jedes Recht gehabt, ein wütendes Pamphlet zu schreiben. Dies ist vielleicht eine der größten Stärken dieses Buches, daß es keineswegs unbewegt oder unberührt aus sicherer Entfernung entstand, sondern auf unmittelbarem Erleben, auf tätiger und täglicher Beobachtung beruht. Und doch ist, bei aller akademischen Faszination, derer sich der Philologe keineswegs entziehen kann (die wahrscheinlich sogar notwendig ist, um überhaupt so genau beobachten zu können, es bedarf dafür ja einer gewissen Sensibilität für Worte, Sprache und deren Gebrauch) und die eine merkwürdige Ambivalenz erzeugt, der Impuls, der ihn bewog, dieses Buch zu veröffentlichen, ist immer sichtbar:

Wie viele Begriffe und Gefühle hat sie geschändet und vergiftet! Am sogenannten Abendgymnasium der Dresdner Volkshochschule und in den Diskussionen, die der Kulturbund mit der Freien Deutschen Jugend veranstaltete, ist mir oft und oft aufgefallen, wie die jungen Leute in aller Unschuld und bei aufrichtigem Bemühen, die Lücken und Irrtümer ihrer vernachlässigten Bildung auszufüllen, am Gedankengut des Nazismus festhalten. Sie wissen es gar nicht; der beibehaltene Sprachgebrauch der abgelaufenen Epoche verwirrt und verführt sie.

(S. 10)

Es geht um die Demaskierung der Sprache, um das Dahinterschauen, das Nachdenken darüber, welche Denkweise hinter einem bestimmten Sprachgebrauch steckt. Denn Worte werden nie zufälli8g gewählt. Sie sind immer Ausdruck einer Weltsicht. Und wenn denn Klemperer einmal der Furor packt, dann beim plumpen Heroismus, den er als ganz wesentliches Merkmal nazistischer Denkweise sieht.

Ich nenne derartiges einen komischen Rückfall; denn da der Nationalsozialismus auf Fanatismus gegründet ist und mit allen Mitteln die Erziehung zum Fanatismus betreibt, so ist fanatisch während der gesamten Ära des Dritten Reiches ein superlativisch anerkennendes Beiwort gewesen. Es bedeutet die Übersteigerung der Begriffe tapfer, hingebungsvoll, beharrlich, genauer: eine glorios verschmelzende Gesamtaussage all dieser Tugenden, und selbst der leiseste pejorative Nebensinn fiel im üblichen LTI-Gebrauch des Wortes fort. An Festtagen, an Hitlers Geburtstag etwa oder am Tag der Machtübernahme, gab es keinen zeitungsartikel, keinen Glückwunsch, keinen Aufruf an irgendeinen Truppenteil oder irgendeine Organisation, die nicht ein “fanatisches Gelöbnis” oder “fanatisches Bekenntnis” enthielten, die nicht den “fanatischen Glauben” an die ewige Dauer des Hitlerreiches bezeugten.

(S. 80f.)

Was man nun so Furor nennen kann. Diese Stelle kam nicht zuletzt deshalb in die Auswahl, weil sie zeigt, wie ungemein gut lesbar Klemperer ist. Es ist ja manches Mal erstaunlich, wie schlecht manche Philologen mit der Sprache umzugehen vermögen. Dieser hier kann es ganz hervorragend. Ich bin davon überzeugt, daß dieser schmale Band n Regalmeter historischer Literatur zu ersetzen vermag. Weniger, weil die Historiker unnütze Arbeit verrichten, ganz im Gegenteil, mögen sie nur alles, so exakt wie es ihnen ihre Wissenschaft erlaubt, erforschen, prüfen und nachweisen. Wer aber verstehen will, wie und warum im Dritten Reich gedacht wurde, der möge Klemperer lesen.
Wer das nicht möchte, möge bitte trotzdem Klemperer lesen. Denn eines kann LTI auf jeden Fall ganz hervorragend vermitteln: Sensibilität für den Gebrauch von Sprache. Sensibilität dafür, was wir alltäglich so hören, hin- und übernehmen. Welche Schlagworte wir uns von wem vorkauen lassen. Wie wir gesellschaftliche Gruppen bezeichnen. LTI ist über seinen ursprünglichen und unmittelbaren Aufklärungszweck hinaus vor allen Dingen ein Plädoyer dafür, selbst zu denken. Und zwar mit aller Konsequenz. Das macht das Leben sicher nicht einfacher, aber es hilft, sich die Sicht auf die Welt nicht verkleistern zu lassen und so in eine (Denk-)Richtung zu geraten, in die man gar nicht wollte.
Kaum etwas könnte in diesen hysterischen Zeiten wichtiger sein als das Nachprüfen dessen, was da eigentlich wie und von wem erzählt wird.

Beim Verweis auf die

lieferbaren Ausgaben

sei erwähnt, daß diese hier die wohl künftig maßgebende, weil korrigierte und verbesserte Edition ist.


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*zitiert nach: Klemperer: LTI. Reclam Leipzig. 16. Auflage 1996