Merkt ihr nischt?

Ich habe mir bereits vor einiger Zeit abgewöhnt, den Verlautbarungen diverser Politiker Gehör zu schenken. Mir fehlt die Muße, unter all den Paraphrasen und Euphemismen mühsam das hervorzugraben, was gemeint sein könnte – wenn denn etwas gemeint ist.
Als allerdings einigermaßen politisch interessierter Mensch und nach der Erfahrung, dass die Dechiffrierer auch nicht ganz frei von Eigeninteressen sind, lässt es sich jedoch manches Mal nicht vermeiden, doch zur Quelle vorzustoßen und genauer zu schauen, was die Darsteller des Politikzirkus von sich geben.

So durften wir also in den letzten Tagen erfahren, dass Dank der heldenhaften Tätigkeit unserer Sicherheitskräfte und mit Unterstützung unseres Brudervolkes die hinterhältigen Pläne einiger vom imperialistischen Ausland gesteuerter feindlicher Elemente zum Sturz unserer demokratischen Ordnung vereitelt werden konnten.

Jedenfalls, wenn ich das richtig verstanden habe.

Nahezu gleichzeitig sah ich einen Bericht über begeisterte Eltern, die von den Möglichkeiten des Digitalen Klassenbuchs überaus erfreut waren, gibt es ihnen doch die Möglichkeit, jederzeit genauestens darüber informiert zu sein, wann sich ihr Kind wo wie aufge- und verhalten hat.

Und da frage ich mich doch: Merkt ihr nischt?

Mir jedenfalls ist klar, warum sich so ertaunlich wenig Protest regt: Die Leute finden das toll, der aufgeklärte, freiheitsliebende, aufrechte und kritische Citoyen ist eine Chimäre, ein Trugbild, ein Märchen. Es gibt ihn nicht. Oder zumindest nicht in ausreichender Anzahl.
Es bleibt nur noch festzuhalten, dass der Terror gewonnen hat, der Elfteseptember das Mahnmal des Abschieds von der Freiheit ist, denn diese haben wir aus purer Angst aufgegeben und finden das toll.

Falls unsere Kinder einmal fragen, warum Systeme wie die DDR so lange funktionierten: Eben genau darum: Wer nichts zu verbergen hat, braucht sich nicht zu fürchten. Und betroffen sind immer nur die anderen. Damit kann man offenkundig einen Staat machen.

Und die Bürger nicken.
Behaglich nicken sie, zufrieden, dass sie leben,
und froh, die Störenfriede los zu sein,
die Störenfriede ihrer Kontokasse.
Wo braust Empörung auf? Wo lodern Flammen,
die Unrat zehren, und sie heilsam brennen?
Die Bürger nicken. Schlecht verhohlne Freude.
Sie wollen Ordnung – das heißt: Unterordnung.
Sie wollen Ruhe – das heißt: Kirchhofsstille.

Kurt Tucholsky: Eisner. in: Die Weltbühne, 27.02.1919, Nr. 10, S. 224, wieder in: Fromme Gesänge.

Siehe hierzu auch das maßgebliche Buch zum Thema.

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Moralische Überlegenheit

Eines meiner prägendsten Erlebnisse in Bezug darauf, wie unsere Gesellschaft so tickt, hatte ich in einer politikwissenschaftlichen Einführungsveranstaltung. Dort war eine Schautafel zu sehen, die dem Auditorium die Unterschiede zwischen freien und unfreien Staatssystemen erklären sollte. Es ging dabei um den Anteil von Bereichen, Themen, Werten, die gesellschaftlich diskutabel, also diskursfähig seien. “Freie” Systeme sehen dabei nur einen kleinen Teil von Grundwerten vor, die eben als Grundlage des Systems nicht zur Disposition stünden und einen sehr großen Bereich, der gesellschaftlich offen diskutiert und ausgehandelt würde – bei den “Unfreie” dann vice versa. So daß eben in “unfreien” Staatssystemen schnell und hart gegen Bürger vorgegangen wird, die sich aus dem kleinen, erlaubten Bereich herausbewegten und ihnen keinerlei Rechte mehr zubilligten. Neben der Tatsache, daß ich mich fragte, was eine solche simplifizierende Schwarz-Weiß-Malerei in einer universitären Lehrveranstaltung zu suchen habe (und nebenbei meine, sicher voreilige, Skepsis gegen die Disziplin “Politikwissenschaft” begründete) erschütterte mich die Selbstverständlichkeit, mit der das hingenommen und als richtig empfunden wurde.* In der nachfolgenden Diskussion äußerte ich die Anmerkung, daß ich zwischen beiden dargestellten Systemen keinen grundsätzlichen, sondern nur einen graduellen Unterschied ausmachen könne. Was im Übrigen auch leicht zu erkennen sei, denn auch die freien, demokratischen, rechtsstaatlichen Systeme reagierten exakt genauso wie die angeblich so ganz anderen Staaten, sobald eben jemand in den nichtdiskutablen Bereich vordringt. Ich wählte damals als verdeutlichendes Exempel, nicht sehr geschickt, den Umgang der BRD mit RAF-Terroristen, bei denen nämlich auf einmal diverse Rechtsstaatsprinzipien nicht mehr galten. Die genauso außerhalb der Gesellschaft gestellt wurden und denen fundamentale Rechte aberkannt wurden, genauso wie das andere Systeme auch tun.
Und heutzutage freut sich die Kanzlerin dieses Landes darüber, daß es gelungen sei, einen Menschen zu töten. Ohne Anklage, Prozess und trotz der vielbeschworenen Verdammung der Todesstrafe.

“Die Botschaft, die von dem heutigen Tag ausgeht, lautet: Terrorakte bleiben nicht ungesühnt”, sagte Merkel am Montag in Berlin. Dies müsse “allen Gefolgsleuten des Terrorismus” klar werden. Der Tod Bin Ladens sei ein “großer Erfolg” im Kampf gegen den Terrorismus. “Auch wenn es lange dauert, so wird es auch in Zukunft weitere Erfolge geben”, sagte Merkel. “Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, Bin Laden zu töten.”

So zitiert die Frankfurter Rundschau die Kanzlerin. Das lasse man sich mal auf der Zunge zergehen. Sie hält also die gezielte Tötung eines Menschen, noch dazu ohne juristische Grundlage, für einen großen Erfolg. Und freut sich schon auf weitere Tote. Halali.
Es gibt keine andere Grundlage dafür, als daß der Regierungschef eines Staates entschieden hat, daß dieser Mensch sein Leben verwirkt habe. Worin genau besteht jetzt der elemetare Unterschied zur Fatwah gegen Salman Rushdie, die wir doch ganz schlimm und böse finden? Wohlgemerkt: Zu Recht. Aber eben nur deshalb zu Recht, weil ein solcher Vorgang gegen grundsätzliche Werte und Vorstellungen verstößt. Darauf wirklich berufen kann man sich aber doch nur, wenn man sich selbst daran hält.

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Sagt Kant. Und dieses Diktum ist die Grundlage für jegliches Gefühl moralischer Überlegenheit. Wenn wir der Meinung sind, daß unsere Art zu denken und zu leben die richtige Art ist, sollten dann nicht wenigstens wir uns auch daran halten, ehe wir es von anderen einfordern? Der “Führer der freien Welt”, wie Obama ernsthaft in einem Kommentar genannt wurde, schaut daheim am Bildschirm zu wie ein schwerbewaffneter Spezialtrupp auf seinen Befehl einen unbewaffneten Menschen tötet. Und wir stehen da und gratulieren. In den USA fanden öffentliche Straßenfeiern statt. Ich weiß nicht, was andere so assoziierten, aber ich konnte hier keinen strukturellen Unterschied zu den Jubelfeiern am 11.9.01 in Palästina erkennen. Einen graduellen sicherlich, Bin Laden hatte mehr auf dem Kerbholz als die Angestellten des WTC. Nur: Davon, daß hier grundsätzlich anders gedacht und gelebt wird, kann keine Rede sein. Alles, was hier bejubelt wurde, war die Genugtuung über eine gelungene, blutige Rache. Nichts anderes. Willkommen in der Steinzeit.
Was ist denn das bitteschön anderes als genau dasselbe Spiel, das die Terroristen spielen? In reiner Selbstherrlichkeit entscheiden, daß irgendjemand nicht mehr zu leben habe – täte ich das, wanderte ich als Mörder in den Knast. Insofern darf bei dem des öfteren aufgetretenen Buchstabendreher in Sachen Obama/Osama gerne von einer Freudschen Fehlleistung ausgegangen werden. Strukturell sind die beiden kaum noch auseinanderzuhalten. Graduell vielleicht noch. Die Art und Weise der Tötung Osama bin Ladens und noch viel mehr die Reaktionen der politischen Eliten darauf sind eine Bankrotterklärung des demokratisch-rechtstaatliche-christlich-abendländischen Lebensmodells. Man muß sich ja schämen, für Demokratie und Rechtsstaat einzutreten, wenn man sich anschaut, was in deren Namen getan wird. Wie diese Prinzipien von ihren angeblichen Protagonisten mit Füßen getreten werden.
Wie hier ganz offiziell und unverhohlen Menschenjagd betrieben und bejubelt wird. Aber CounterStrike ist was ganz schlimmes. Klaro.
Ich hoffe, daß das Nobelpreiskommitee den nächsten Preisträger kahlhäuptig präsentiert. Denn mindestens bis dahin sollten sie aus dem
Haareraufen nicht mehr herauskommen.

Aber hey, He’s Barack Obama – He’s come to save the day.

Es gibt Tage, da verzweifle ich derart an dieser unfaßbaren Welt, daß ich mich frage, ob es nicht gut wäre, wenn diese Maya-Typen Recht hätten und hier 2012 der Reset-Knopf gedrückt wird. Bis dahin versuche ich es nochmal mit ihm hier.


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*Wir reden hier immerhin über unsere “geistige Elite”, also die, am ehesten noch checken sollen, wie der Hase läuft – und sich zumindest auch so gerieren, als würden sie das auch.

Dolchstoßlegende

Ich bin sehr gespannt, wie lange der Februar noch Februar heißt. Es bestehen zunehmend gute Aussichten, daß er in wenigen Jahren in Plagiatuar oder schlicht Axolotl umbenannt wird. Letztes Jahr die Helene, dieses Jahr also der Karl.
Im Gegensatz zur Frau Hegemann war in Sachen Guttenberg die Frage, ob es sich um ein Plagiat handelt, von Anfang klar und eindeutig beantwortet. Auch wenn ich durchaus nicht jede aufgefundene Stelle, singulär betrachtet, als bewußtes Plagiat bezeichnen würde, die schiere Masse ist derart erdrückend, daß Guttenbergs Beteuerungen, er habe nicht bewußt getäuscht, schlicht unglaubwürdig, vulgo: lächerlich, sind.
Was sich hier in den letzten 2 Wochen abgespielt hat, ist ein bemerkenswertes Lehrstück. Die “Causa Guttenberg” gibt Stoff für einige Qualifikationsschriften im breiten Spektrum der Geisteswissenschaften* her.
Ich möchte daher mal nur einige Punkte herausgreifen, die mir auffielen. Da wäre zum einen der Aspekt des Urheberrechts, der vielleicht auch juristisch spannendste Teil der Angelegenheit.
Noch aus der ersten Aufregung stammt dieser Tweet von @mspro:

mspro

Das ist in der Tat bemerkenswert. Falls jemand sich die Mühe machen möchte, wäre es sehr spannend, herauszufinden, ob es da wirklich Überschneidungen gibt. Trotzdem wäre dies nicht zwangsläufig ein Beweis für kognitve Dissonanz (ein Phänomen übrigens, das in den letzten 14 Tagen bemerkenswert oft auftrat), denn es muß unbedingt unterschieden werden zwischen künstlerischem und wissenschaftlichen Arbeiten. Kunst nämlich kann, darf und soll einfach behaupten. Das macht ja gerade den Reiz aus. Ein Gedicht, ein Roman, ein Bild – sie können das Wahre, Falsche, Schöne, Häßliche, Gute, Böse, Richtige oder was auch immer repräsentieren. Und zwar völlig begründungsfrei. Selbstverständlich aber sind Künstler referentiell. Ganze Institute leben davon, die Kunstgeschichte nach Traditionslinien, nach Beeinflussungen, nach Gemeinsamkeiten zu durchsuchen. Streng genommen ist die Kunstgeschichte eine Geschichte des Plagiats. Wir nennen das nur anders. Da geht es um Motive, die wandern und Traditionen, in denen die Leute so stehen. Kopieren war sogar Jahrhundertelang überhaupt gar kein Problem. Erst in dem Moment, in dem die originäre Schöpfungsleistung zum Wert, nicht zuletzt eben zum monetären, erhoben wurde, wurde dies zum (juristischen) Problem. Und so bahnbrechend die Idee des Urheberrechts war, um Künstlern eine Möglichkeit zu geben, nur von ihrer Arbeit zu leben und sich so aus der Abhängigkeit von Auftraggebern zu befreien, es muß in Frage gestellt werden, ob die pedantische Suche nach schon einmal verwendeten Phrasen dem künstlerischen Schöpfungsprozeß überhaupt angemessen ist. Sehr schön dazu übrigens die Geschichte des “Amen Break” – ist das nun eine Erfolgsgeschichte oder eher nicht?
Weiterlesen “Dolchstoßlegende”

Man kann ja nicht alles wissen…

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Bestätigt aber nur mein Vorurteil, daß die Idee, Beamte, denen die Interessen ihrer Clique mehr am Herzen liegen als die des Gemeinwesens, sei ein Thema für Gegenden mit höherer Jahresdurchschnittstemperatur oder Kampfschlumpfregenten, reine Selbsttäuschung ist.

Wovon ich rede?
Hiervon:
Abitur ohne Merkel

Und was meint der Hausheilige dazu?

Und entscheidend ist nicht nur der Minister – gerade der
oft nicht – sondern der mittlere, ja selbst der untere
Exekutivbeamte, der sabotieren und warnen, abdrehen
und aufplustern kann – wie es ihm paßt.
[in: Verfassungstag. Werke und Briefe: 1922, S. 346. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 2748 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 3, S. 259-260) (c) Rowohlt Verlag]