Moralische Überlegenheit

Eines meiner prägendsten Erlebnisse in Bezug darauf, wie unsere Gesellschaft so tickt, hatte ich in einer politikwissenschaftlichen Einführungsveranstaltung. Dort war eine Schautafel zu sehen, die dem Auditorium die Unterschiede zwischen freien und unfreien Staatssystemen erklären sollte. Es ging dabei um den Anteil von Bereichen, Themen, Werten, die gesellschaftlich diskutabel, also diskursfähig seien. “Freie” Systeme sehen dabei nur einen kleinen Teil von Grundwerten vor, die eben als Grundlage des Systems nicht zur Disposition stünden und einen sehr großen Bereich, der gesellschaftlich offen diskutiert und ausgehandelt würde – bei den “Unfreie” dann vice versa. So daß eben in “unfreien” Staatssystemen schnell und hart gegen Bürger vorgegangen wird, die sich aus dem kleinen, erlaubten Bereich herausbewegten und ihnen keinerlei Rechte mehr zubilligten. Neben der Tatsache, daß ich mich fragte, was eine solche simplifizierende Schwarz-Weiß-Malerei in einer universitären Lehrveranstaltung zu suchen habe (und nebenbei meine, sicher voreilige, Skepsis gegen die Disziplin “Politikwissenschaft” begründete) erschütterte mich die Selbstverständlichkeit, mit der das hingenommen und als richtig empfunden wurde.* In der nachfolgenden Diskussion äußerte ich die Anmerkung, daß ich zwischen beiden dargestellten Systemen keinen grundsätzlichen, sondern nur einen graduellen Unterschied ausmachen könne. Was im Übrigen auch leicht zu erkennen sei, denn auch die freien, demokratischen, rechtsstaatlichen Systeme reagierten exakt genauso wie die angeblich so ganz anderen Staaten, sobald eben jemand in den nichtdiskutablen Bereich vordringt. Ich wählte damals als verdeutlichendes Exempel, nicht sehr geschickt, den Umgang der BRD mit RAF-Terroristen, bei denen nämlich auf einmal diverse Rechtsstaatsprinzipien nicht mehr galten. Die genauso außerhalb der Gesellschaft gestellt wurden und denen fundamentale Rechte aberkannt wurden, genauso wie das andere Systeme auch tun.
Und heutzutage freut sich die Kanzlerin dieses Landes darüber, daß es gelungen sei, einen Menschen zu töten. Ohne Anklage, Prozess und trotz der vielbeschworenen Verdammung der Todesstrafe.

“Die Botschaft, die von dem heutigen Tag ausgeht, lautet: Terrorakte bleiben nicht ungesühnt”, sagte Merkel am Montag in Berlin. Dies müsse “allen Gefolgsleuten des Terrorismus” klar werden. Der Tod Bin Ladens sei ein “großer Erfolg” im Kampf gegen den Terrorismus. “Auch wenn es lange dauert, so wird es auch in Zukunft weitere Erfolge geben”, sagte Merkel. “Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, Bin Laden zu töten.”

So zitiert die Frankfurter Rundschau die Kanzlerin. Das lasse man sich mal auf der Zunge zergehen. Sie hält also die gezielte Tötung eines Menschen, noch dazu ohne juristische Grundlage, für einen großen Erfolg. Und freut sich schon auf weitere Tote. Halali.
Es gibt keine andere Grundlage dafür, als daß der Regierungschef eines Staates entschieden hat, daß dieser Mensch sein Leben verwirkt habe. Worin genau besteht jetzt der elemetare Unterschied zur Fatwah gegen Salman Rushdie, die wir doch ganz schlimm und böse finden? Wohlgemerkt: Zu Recht. Aber eben nur deshalb zu Recht, weil ein solcher Vorgang gegen grundsätzliche Werte und Vorstellungen verstößt. Darauf wirklich berufen kann man sich aber doch nur, wenn man sich selbst daran hält.

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.

Sagt Kant. Und dieses Diktum ist die Grundlage für jegliches Gefühl moralischer Überlegenheit. Wenn wir der Meinung sind, daß unsere Art zu denken und zu leben die richtige Art ist, sollten dann nicht wenigstens wir uns auch daran halten, ehe wir es von anderen einfordern? Der “Führer der freien Welt”, wie Obama ernsthaft in einem Kommentar genannt wurde, schaut daheim am Bildschirm zu wie ein schwerbewaffneter Spezialtrupp auf seinen Befehl einen unbewaffneten Menschen tötet. Und wir stehen da und gratulieren. In den USA fanden öffentliche Straßenfeiern statt. Ich weiß nicht, was andere so assoziierten, aber ich konnte hier keinen strukturellen Unterschied zu den Jubelfeiern am 11.9.01 in Palästina erkennen. Einen graduellen sicherlich, Bin Laden hatte mehr auf dem Kerbholz als die Angestellten des WTC. Nur: Davon, daß hier grundsätzlich anders gedacht und gelebt wird, kann keine Rede sein. Alles, was hier bejubelt wurde, war die Genugtuung über eine gelungene, blutige Rache. Nichts anderes. Willkommen in der Steinzeit.
Was ist denn das bitteschön anderes als genau dasselbe Spiel, das die Terroristen spielen? In reiner Selbstherrlichkeit entscheiden, daß irgendjemand nicht mehr zu leben habe – täte ich das, wanderte ich als Mörder in den Knast. Insofern darf bei dem des öfteren aufgetretenen Buchstabendreher in Sachen Obama/Osama gerne von einer Freudschen Fehlleistung ausgegangen werden. Strukturell sind die beiden kaum noch auseinanderzuhalten. Graduell vielleicht noch. Die Art und Weise der Tötung Osama bin Ladens und noch viel mehr die Reaktionen der politischen Eliten darauf sind eine Bankrotterklärung des demokratisch-rechtstaatliche-christlich-abendländischen Lebensmodells. Man muß sich ja schämen, für Demokratie und Rechtsstaat einzutreten, wenn man sich anschaut, was in deren Namen getan wird. Wie diese Prinzipien von ihren angeblichen Protagonisten mit Füßen getreten werden.
Wie hier ganz offiziell und unverhohlen Menschenjagd betrieben und bejubelt wird. Aber CounterStrike ist was ganz schlimmes. Klaro.
Ich hoffe, daß das Nobelpreiskommitee den nächsten Preisträger kahlhäuptig präsentiert. Denn mindestens bis dahin sollten sie aus dem
Haareraufen nicht mehr herauskommen.

Aber hey, He’s Barack Obama – He’s come to save the day.

Es gibt Tage, da verzweifle ich derart an dieser unfaßbaren Welt, daß ich mich frage, ob es nicht gut wäre, wenn diese Maya-Typen Recht hätten und hier 2012 der Reset-Knopf gedrückt wird. Bis dahin versuche ich es nochmal mit ihm hier.


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*Wir reden hier immerhin über unsere “geistige Elite”, also die, am ehesten noch checken sollen, wie der Hase läuft – und sich zumindest auch so gerieren, als würden sie das auch.

Nachwuchspreis

Die Entscheidungen des Nobelpreiskommittees in Oslo gaben häufig Anlaß zu kontroversen Debatten. Das ist gut so. Je öfter über Frieden und geeignete Schritte zu dessen Durchsetzung gesprochen wird, um so besser.
Im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Nobelpreisen allerdings wurde hier keineswegs immer erst ausgezeichnet, wenn ein Werk vollbracht und seine Auswirkungen bekannt sind. Nicht selten spielten andere Motivationen eine Rolle.
Bei der Kampagne für Ossietzky, der den Preis denn auch 1936 (für das Jahr 1935) bekam, stand neben der Aufmerksamkeit, die auf Nazideutschland und dem, was dort tatsächlich vor sich ging, gelenkt werden sollte, auch ganz klar die Rettung seines Lebens im Mittelpunkt. Ähnliche Motive dürfen wir bei zahlreichen anderen Dissidenten aus aller Welt, die im Laufe der Jahrzehnte ausgezeichnet wurden, annehmen. Einen Nobelpreisträger bringt man nicht mal eben um – das könnte sich sehr geschäftsschädigend auswirken. Was natürlich nicht heißt, daß es eine Lebensversicherung ist oder gar die Ausgezeichneten plötzlich in Ruhe gelassen würden. Aber: Weltweite Öffentlichkeit ist ihnen gewiß. Und das kanne eine ganze Menge Wert sein.
Nicht selten sollten auch Entwicklungen bewußt unterstützt, Prozesse, die in Gang gekommen waren, gefördert werden.
Davon gibt es, gerade in den letzten Jahrzehnten, eine reichliche Anzahl. Ob Brandt, dessen nicht unumstrittene Ostpolitik 1971 keineswegs am Ende ihrer Entwicklung und weit davon entfernt war, sich als Grundsatz der deutschen Politik durchzusetzen. Oder auch Gorbatschow, der zwar 1990 aus deutscher Perspektive wesentliches erreicht haben mochte, aber keineswegs am Ende seiner Wünsche war (und da ja auch nie ankam). Natürlich gibt es bei solcherlei motivierten Auszeichnungen immer die Gefahr, daß die Sache schief läuft. Sei es, weil man sich in der Person geirrt hat oder weil die Unterstützung nicht ausreichte, um die gewünschte Entwicklung durchzusetzen (siehe Israel/Palästina, bzw. die damals ausgezeichnete Troika Peres, Rabin und Arafat).
Nobels Anliegen war es, die Völkerverständigung zu fördern und so wurden eben auch Menschen mit dem Preis bedacht, bei denen keineswegs vermutet werden muß, daß altruistische oder ideelle Motive Hauptantriebsfeder waren, sondern die einfach nur zu einer bestimmten Zeit ein bestimmtes Amt inne hatten und bestenfalls der Vernunft folgten (wobei traurigerweise das ja tatsächlich derart selten ist, daß man geneigt ist, dies als preiswürdig anzusehen). So darf getrost bezweifelt werden, ob jemand wie Henry Kissinger, bei dem berechtigte Annahmen bestehen, daß er an der Planung und Unterstützung des Pinochet-Putsches gegen Allende beteiligt war, nur, weil er in Einsicht in die Notwendigkeit einen Friedensvertrag mit Vietnam unterzeichnete (ich meine, ist das wirklich eine Leistung, nach einem verlorenen Krieg einen Friedensvertrag abzuschließen???), ein berechtigter Anwärter auf den Friedensnobelpreis ist.
Gerne ausgezeichnet wurden aber natürlich auch Menschen, die tatsächlich ganz konkrete Arbeit geleistet haben. Das Rote Kreuz hat mehrmals (leider gab es ja auch mehrfach Anlaß) den Nobelpreis bekommen, amnesty international wurde ausgezeichnet ebenso wie Ärzte ohne Grenzen.
Zumindest aber gab es immer ein konkretes Ereignis oder ein konkretes Projekt, das zur Auszeichnung herangezogen wurde.

Keines der oben genannten Kriterien aber trifft auf den diesjährigen Preisträger Barack Obama zu. Er ist kein Publizist, der sein Leben riskiert und trotzdem die Stimme erhebt (Fried), er ist kein Arzt, der in entlegensten Winkeln der Welt für notwendige medizinische Versorgung sorgt (Schweitzer), er hat keine Verträge abgeschlossen, die unversöhnlichen Gegnern ein Leben nebeneinander ermöglichen (Ahtisaari), er hat keine inspirierende Literatur verfaßt, die Menschen zum Umdenken bewegte (von Suttner, der sogar die Inspiration zum Friedensnobelpreis nachgesagt wird), er hat keine Organisation gegründet, die Menschen in Not unterstützt ohne Ansicht von Ethnie, Religion oder Geschlecht (Dunant). Nichts dergleichen.
Er hat, das sei zugegeben, eine Wende in der amerikanischen Außenpolitik in Aussicht gestellt. Er hat Menschen auf der ganzen Welt euphorisiert, ja für einige dürfte er sogar die USA wieder zu einem Hoffnungsträger gemacht haben. Und: Er hat großartige Reden gehalten (mal als Beispiel die wirklich sensationelle Kairoer Rede).
Aber mehr auch nicht. Ich möchte hier mal den Twitterer mspro zitieren: “hätten die nicht wenigstens warten können, bis er, naja, etwas tut?” (Beleg hier). Mag sein, daß Obama im Laufe seiner Amtszeit große Dinge bewegen wird. Mag sein, daß er die USA an die Spitze einer globalen Entspannungspolitik setzt, die in einem ganzheitlichen Ansatz die gemeinsamen Probleme dieser Welt in Angriff nimmt. Mag sein, daß sein Dialogangebot an die muslimische Welt angenommen wird und fruchtbar ist.
Das mag alles sein.
Aber derzeit ist Guantanamo in Betrieb, werden die Truppen in Afghanistan erhöht, gibt es keine Lösungsstrategie für den Irak, es werden neue Superbomben entwickelt und die Administration droht dem Iran. Er ist der Präsident der USA und vertritt deren Interessen. Was nicht falsch ist, ganz im Gegenteil, er wollte ja nie etwas anderes (ich hoffe doch, dem aufmerksamen Zuhörer ist das auch in seinem Wahlkampf nicht entgangen).
Das sind die Fakten. Schöne Reden halten sollte nicht genügen, den Friedensnobelpreis zu erhalten. Wie Bettina Gaus in ihrem Kommentar zum Friedensnobelpreis schreibt: “Als Prämie der Begabtenförderung ist er ungeeignet.” Die Verleihung ist ein Schlag ins Gesicht all jener, die tatsächlich Friedensarbeit leisten, das ist die Mißachtung früherer Preisträger.
Obama selbst wirkte in seiner Reaktion alles andere als glücklich. Ich hätte mir gewünscht, er hätte die Größe gehabt, den Preis, für den er spätestens wenige Tage nach Amtsantritt nominiert worden sein mußte, abzulehnen. Aber das wäre vielleicht zu viel verlangt.

Zum Abschluß noch ein großartiges Video, das die Erwartungen an Obama in all ihrer Absurdität auf den Punkt bringt.