Klaus Leesch hat sich in seiner Werkbiographie des frühen Sozialdemokraten Eduard Bernstein einer Mammutaufgabe gestellt.
Bernstein ist sowohl während seiner Lebzeiten als auch in der späteren Rezeption stets voreingenommen bewertet worden. In seinem Wirken während der Flügelkämpfe in der Sozialdemokratie, insbesondere in der Kaiserzeit, mag das noch in der Natur der Sache liegen.
Als bedeutender Publizist in der sozialdemokratischen Presse, der noch dazu immer wieder klar Stellung bezog, konnte er kaum mit einem ausgewogenen Urteil rechnen. In der Rezeption der Nachkriegszeit wiederum diente er beidseits der Mauer vorrangig als Projektionsfläche nebst der dazugehörigen Rosinenpickerei.
Das führte nicht nur zu einseitigen Urteilen, sondern auch zu erheblichen Forschungsdesideraten, denn wirklich intensiv und sachlich beschäftigten sich kaum Forscher mit ihm. So kommt es denn auch zustande, dass von einem der wichtigsten Vertreter der frühen Sozialdemokratie bis heute keine vollständige Werkausgabe vorliegt.
Vor diesem Hintergrund ist Klaus Leeschs umfassende Arbeit nicht nur zu begrüßen, sie ist willkommen zu heißen.
Leeschs Arbeit umfasst in der gedruckten Ausgabe zwei Bände mit insgesamt über 1700 Seiten und war seine Dissertation an der Fern-Universität Hagen. Leesch hat sich lange und intensiv mit Bernstein beschäftigt. Das ist von der ersten Seite an zu spüren – ebenso wie die Sympathie des Autors der Person Bernsteins gegenüber. Dass ihm trotzdem die sachliche Distanz nicht abhanden kommt, ist ein unbedingter Pluspunkt. Und unbedingt notwendig, voreingenommene Bernstein-Literatur gibt es ja – wie eingangs erwähnt – bereits zur Genüge.
Dennoch wäre hier ein etwas rigoroseres Lektorat gewinnbringend gewesen. Ich hatte beim Lesen sehr bald den Eindruck, Klaus Leesch wolle nun gleich alle bestehenden Lücken mit einem Mal schließen. Insbesondere seine langen und umfangreichen wörtlichen Zitate aus Bernsteins Werk machen die Lektüre schnell mühsam. Natürlich ist die Belegarbeit schwierig, wenn keine in Umfang und Güte zufriedenstellende Werkausgabe zur Verfügung steht. Eine bessere Lösung wäre hier aber wahrscheinlich dennoch die Auslagerung in einen Quellenband bzw. in den Anhang gewesen. So aber entstehen Redundanzen und Längen, die es schwer machen, die Biographiearbeit des Autors wahrzunehmen. Das ist sehr schade, denn so entsteht der Eindruck, dass vor lauter Ansprüchen, denen diese umfangreiche Arbeit gerecht werden will, sie letztlich keinem wirklich gut entspricht.
Dennoch: Dieses Mammutwerk wird seinen unübersehbaren Platz in jeglicher Arbeit zu Bernstein und der frühen deutschen Sozialdemokratie finden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand zu diesem Themenkomplex arbeiten kann, ohne künftig Leeschs Werkbiographie zur Kenntnis zu nehmen. Aus diesem Bergwerk werden noch so manche Schätze geholt werden.
Und dem interessierten Publikum wünsche ich, dass Klaus Leesch noch einmal nachlegt – mit einer schlankeren Biographie unter dem Motto: Mehr Leesch wagen.
Es war einer der kleineren Aufreger bei der Ergebnisverkündung der sächsischen Landtagswahl: Die erreichte und dann doch nicht erreichte Sperrminorität für die blau lackierten Faschisten. Und ganz Deutschland seufzte erleichtert auf, als der Landeswahlleiter verkündete, dass vorher leider das falsche Sitzverteilungsverfahren angewandt wurde und die AfD doch nur 40 Sitze erreichen konnte.1
Dieses kollektive Erleichtern übersieht aber etwas: Die Freien Wähler Sachsen haben einen Sitz im Landtag, der ihnen durch das Direktmandat des vor Ort sehr beliebten Grimmaer Oberbürgermeisters zusteht. Gemäß sächsischem Wahlrecht bleibt dieses Mandat auch dann erhalten, wenn Berger die Wahl nicht annimmt. Er hat sich offiziell noch nicht entschieden, aber es erscheint doch sehr unwahrscheinlich, dass er sein Oberbürgermeisteramt aufgibt, um als einziger Landtagsabgeordneter seiner Partei im Dresdner Parlament zu sitzen. Das passt weder zu seiner Persönlichkeitsstruktur (er ist jemand, der gerne gestaltet) noch wäre es aus parteitaktischer Sicht sinnvoll. Warum einen sicheren OBM-Posten aufgeben, wenn doch einfach jemand, der sonst gar nicht zum Zuge kommt, nach Dresden kann?
Sehr wahrscheinlich wird also folgendes passieren: Matthias Berger wird verkünden, dass leider das Ziel, als Fraktion in den Landtag einzuziehen, nicht erreicht wurde (tatsächlich haben die FW ja sogar deutlich an Zustimmung verloren) und er sich deshalb in der Verantwortung sieht, sein Amt in Grimma zum Wohle der Bürger usw. usf. zu behalten. Für ihn stattdessen in den Landtag nachrücken wird Thomas Weidinger. Der ist bereits bekannt dafür, den Beschluss seiner eigenen Bundespartei zur Nichtzusammenarbeit mit der AfD zu ignorieren.
Weidinger wird sich also entweder direkt der AfD-Fraktion anschließen oder aber fleißig mit ihnen stimmen. Und selbst wenn Berger das Mandat annimmt: Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass er anders handeln würde.3
Und zack, da hat auch die sächsische AfD ihre 41 Stimmen, die sie für die Sperrminorität braucht. Damit erhalten auch in Sachsen erwiesene Faschisten Zugriff auf die höchsten Organe der Rechtsprechung, können Verfassungsänderungen blockieren und überhaupt immer dann in Erscheinung treten, wenn es eine Zwei-Drittel-Mehrheit braucht.
Die eigentlich wehrhafte Demokratie, deren Waffen geschmiedet wurden aus der blutigen Erkenntnis heraus, dass Faschisten am Wahlerfolg nicht zu hindern sind, gibt damit einen weiteren Teil ihres Arsenals nicht nur auf, sondern überreicht ihren Feinden auch noch die Schlüssel dazu.
Michael Kretschmer, dem ich eines zumindest wirklich abkaufe, nämlich, dass er tatsächlich das meiste von dem, was er sagt, auch wirklich glaubt, ließ auf die Gesprächsangebote durch die AfD hin verlauten, dass er mit Leuten, die ihn gerade eben noch als „Volksverräter“ beschimpften, nicht über eine Zusammenarbeit sprechen könne. Diese Klarheit wünsche ich mir öfter von der CDU.
Es ist zu wünschen, dass nicht nur bei ihm, sondern in der ganzen CDU hieraus eine Erkenntnis wächst: Auch wenn die AfD sich bürgerlich gibt – es sind und bleiben Faschos. Für sie seit ihr bestenfalls Steigbügelhalter, spätestens danach werden sie auch euch jagen. Und dagegen hilft nur entschlossenes Handeln.
Noch ist es nicht zu spät, aber viel Zeit bleibt nicht mehr. Die Hand an der Macht haben sie bereits.
Die pazifistische Bewegung steht hierzulande vor einem grandiosen Scherbenhaufen. Wer heute noch medienwirksam das Wort Frieden in den Mund nimmt, mag sich selbst als einsamen Rufer in der Wüste wahrnehmen – tatsächlich aber ist die Chance, dass es sich dabei um Menschen handelt, die eine sehr eigene Wahrnehmung der Welt haben, ziemlich groß.
Denn erstaunlicherweise erleben wir eine Hegemonie des militärischen Standpunktes, den ich vor wenigen Jahren noch für unmöglich gehalten hätte. Dagegen halten – wohlgemerkt wahrnehmbar – scheinbar nur noch Menschen, deren Moralkompass sich an merkwürdigen Polen orientiert. Aber es ist doch keineswegs so, dass es zwischen Wir rüsten auf, bis bei Rheinmetall keiner mehr weiß, wohin mit den Sektkorken und Der arme Wladimir, alle sind so böse zu ihm keine Bandbreite an Alternativen gäbe. Genauso übrigens – aber da kenne ich mich leider so wenig aus, dass ich hierzu keine Stellung nehmen werde – wie es zwischen Bibi Netanjahu Teufelskerl! und Unterstützt die Freiheitskämpfer der Hamas ja durchaus Positionen gibt, die eingenommen werden können. Wie ist es soweit gekommen? Und was nun?
Mit Lammsgeduld und Blöken kommt man gegen den Wolf nicht an.2
Die pazifistische Bewegung moderner Prägung entstammt den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Diese Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts3 hat gerade im Deutschen Reich Bewegungen gefördert, die den Krieg durchaus nicht mehr als notwendigen Bestandteil der internationalen Politik sahen. Es waren nicht zuletzt die massiven Verheerungen, die schweren physischen und psychischen Schäden, die dieser erstmals vollständig in industriellem Ausmaß betriebene Krieg hinterließ, die zu einem Erwachen von pazifistischen Bewegungen führte. Und zwar von Bewegungen, die nicht mehr esoterisch-welterweckend in der Abkehr von der Moderne predigten, sondern die konkret und im Rahmen der Welt, wie sie nun einmal ist, nach Lösungen suchten.
Diese Bewegungen waren von Anfang an international und weltanschaulich durchaus divers. Es gab unzählige Friedenskongresse und Kundgebungen und Artikel und und und…
Ich möchte das hier gar nicht im Detail darstellen, denn eines ist ihnen allen gemeinsam: Sie scheiterten. Wie wir alle wissen, werden die Weltkriege seit 1939 gezählt. Schaut man aber in die Schriften und Beiträge dieser Zeit, so lässt sich erstaunlicherweise feststellen: Da wurde sehr viel erkannt und sehr viel konzeptioniert – da sind eine Menge Ideen, die auch die Friedensforschung nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen hat. Gedanken zu einer gemeinsamen europäischen Zukunft nahmen hier zum Teil sehr konkrete Formen an.4
Was aber geschah tatsächlich? Eines nach dem anderen kippten die Länder Europas in autoritäre Regime, in Diktaturen, in den Faschismus. Und zwar mit Ansage und Anlauf. Wie konnte das geschehen?
Im eingangs zitierten Text von Kurt Tucholsky Über wirkungsvollen Pazifismus im Jahr 1927 geht es wie folg weiter:
Tatsächlich wird der Pazifismus von den Mordstaaten sinnlos überschätzt; wäre er halb so gefährlich und wirkungsvoll, wie seine Bekämpfer glauben, dürften wir stolz sein. Wo stehen wir –?
Die historische und theoretische Erkenntnis der anarchischen Staatsbeziehungen ist ziemlich weit fortgeschritten. Die Friedensgesellschaften der verschiedenen Länder, die inoffiziellen Staatsrechtslehrer, Theoretiker aller Grade arbeiten an der schweren Aufgabe, aufzuzeigen, wo die wahre Anarchie sitzt. […] Immer mehr zeigt sich, was wahre Kriegsursache ist: die Wirtschaft und der dumpfe Geisteszustand unaufgeklärter und aufgehetzter Massen.
Und da scheint mir auch heute, nach Jahrzehnten intensiver und erkenntnisreicher Friedensforschung tatsächlich nicht das Problem zu liegen: Wir wissen sehr gut, was Kriege verursacht, wie sie geführt werden und was sie stützt. Ob Tucholskys Einschätzung so ohne weiteres zu unterschreiben ist, sei dahingestellt – denn damals wie heute gilt: Es mangelt nicht an Erkenntnis, es mangelt nicht an Wissen. Nein: Die Pazifisten dringen nicht durch, sie schaffen es nicht, nennenswert zu handelnder Politik beizutragen, es gelingt ihnen nicht, Menschen zu erreichen – kurz: Die pazifistische Bewegung wirkt nicht.
Theoretische Schriften über den Staatsgedanken des Pazifismus, Diskussionen über dieses Thema müssen sein – sie bleiben völlig wirkungslos, wenn sie nicht in die Terminologie, in die Vorstellungswelt, in das Alltagsleben des einzelnen übersetzt werden.
Es mag ganz nett sein, sich jedes Jahr zu Ostern zu versichern, wie schlimm der Krieg ist – aber Fakt ist doch: Von Pershing bis Tomahawk hat die Friedensbewegung in diesem Land keine Stationierung verhindert. Und selbst die großen, inzwischen aufgekündigten Abrüstungsverträge entstanden auf wirtschaftlichen und nicht auf friedensbewegten Druck hin.
Die Friedensbewegung en gros hat – aus meiner Sicht – die Fehler der Zwischenkriegszeit wiederholt. Nicht, weil sie nicht radikal genug gewesen wäre oder nicht deutlich genug gezeigt hätte, wie furchtbar Krieg ist. Sie hat es nie geschafft, eine Sprache zu entwickeln, die wirkmächtig genug wäre, wirklich bis in die Tiefe der Gesellschaft zu wirken. Ihre Wirkung reicht doch noch nicht einmal bis zu ihren parlamentarischen Verbündeten, wenn wir uns anschauen mit welcher Geschwindigkeit und Selbstverständlichkeit Menschen wie Anton Hofreiter über Modellvarianten der Schwerartillerie reden. Diesem Fakt gilt es sich zu stellen. Egal, wie oft man sich auf Veranstaltungen aller Art tief in die Augen schaut und feststellt, dass ja alle miteinander gegen den Krieg sind. Nach draußen! Dahin muss der Blick und das Wort gehen, dahin, wo es weh tut, wo Menschen im Krieg etwas Heroisches, Notwendiges oder Unvermeidbares sehen. Und darum noch einen Absatz aus dem hier permanent zitierten Text des Hausheiligen dieses Blogs (ja, das ist ein ganz dezenter Lesehinweis auf den Gesamtext):
Was die Generale mit ihren ehrfurchtsvoll gesenkten Degen, mit Fahnen und ewigen Gasflammen; mit Uniformen und Hindenburg-Geburtstagsfeiern; mit Legionsabzeichen und Filmen heute ausrichten und ausrichten lassen, ist das schlimmste Gift. Entgiften wir.
Das kann man aber nicht, wenn man, wie das die meisten Pazifisten leider tun, dauernd in der Defensive stehen bleibt, »Man muß den Leuten Zeit lassen –« und: »Auch wir sind gute Staatsbürger –« Ich glaube, daß man weiterkommt, wenn man die Wahrheit sagt […]
Wir kennen den Geisteszustand, der in allen Ländern im ersten Kriegstaumel geherrscht hat. Ihn hat man heraufzubeschwören, ihn genau auszumalen – und ihn zu bekämpfen. Prophezeit: so und so wird es sein. Ihr werdet zu euern sogenannten Staatspflichten gezwungen werden, die nichtig und verdammenswert sind – befolgt sie nicht. Ihr werdet eingeredet bekommen, daß drüben der Feind steht – er steht hüben. Man wird euch erzählen, daß alle Letten, Schweden, Tschechen oder Franzosen Lumpen seien – die Erzähler sind es. Ihr seid dem Staat nicht euer Leben schuldig; ihr seid dem Staat nicht euer Leben schuldig; ihr seid dem Staat nicht euer Leben schuldig.
Und die Fahne, die da im Wind flattert, weht über einem zerfetzten Kadaver. Und wenn euch ein Auge ausgeschossen wird, bekommt ihr gar nichts oder sechzehn Mark achtzig im Monat. Und jeder Schuß, den ihr abfeuern müßt, ist ein Plus im Gewinnkonto einer Aktiengesellschaft. Und ihr karrt durch den Lehm der Straßen und stülpt die Gasmasken auf, aber ihr erntet nicht einmal die Frucht eures Leidens. Und die wahre Tapferkeit, der echte Mannesmut, der anständige Idealismus des guten Glaubens – sie sind vertan und gehen dahin. Denn man kann auch für einen unsittlichen Zweck höchst sittliche Eigenschaften aufbringen: aufopfern kann man sich, verzichten, hungern, die Zähne zusammenbeißen, dulden, ausharren – für einen unsittlichen Zweck, Getäuschter, der man ist, Belogener, Mobilisierter . . . seiner primitiven Eigenschaften, der barbarischen.
Die Antwort muss damals wie heute lauten: Nein. Wir stoßen nicht vor. Das muss die bittere Erkenntnis sein, wenn wir uns die rasche Militarisierung unserer Gesellschaft in den letzten Jahren anschauen. Mit dem Abtreten der letzten Kriegsgeneration aus der politischen Verantwortung sind rasant Dinge wieder möglich geworden, die vorher undenkbar schienen. Deutsche Soldaten im Auslandseinsatz erscheinen uns inzwischen völlig normal, ja wir diskutieren sogar, ob sie denn auch effektiv genug sind. Selbst Werbung der Bundeswehr an Schulen ist kein No-Go mehr. Wieder einmal wussten die Militaristen sehr viel besser, wie das Spiel gespielt wird. Und als der Krieg mit voller Wucht in das Herz Europas zurückkehrte, konnten sie ernten, was sie gesät haben. Wir auch schon vor 110 Jahren erwachten die Pazifisten viel zu spät:
Am 1. August 1914 war es zu spät, pazifistische Propaganda zu treiben7
Stellt sich jetzt also die Lenin’sche Frage: Was nun?
Kriegspropaganda allerorten
Ich möchte mich jetzt einmal auf den Elefanten im Raum dieses Textes konzentrieren: Den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Aus dem simplen Grund, dass hier die Sachlage – entgegen allen Geraunes – simpel ist. Und gleichzeitig die Schwäche der Friedensbewegung offenbar wird, sich in Freund-Feind-Schemen zu verstricken, die letztlich der militaristischen Logik folgen. Und deren Endkonsequenz ist, dass sie heute Partei nimmt. Anstatt also Wege aus dem Krieg zu zeigen, anstatt Ansätze für eine Friedenspolitik zu liefern (nochmal: Es liegen Erkenntnisse aus Jahrzehnten Forschung vor!), verstrickt sie sich in simplifizierenden, Realitäten ignorierenden Ostermarschträumen und prangert den Imperialismus im Auge des anderen an, um ihn vor dem Kopf des einen zu ignorieren.
Recap: Was bisher geschah
Die Historie des russischen Krieges ist hinlänglich nachzulesen, ich möchte ein paar Schlaglichter herausgreifen. Nach dem Ende der Sowjetunion entstand die Situation einer eigenständigen Ukraine, die sich urplötzlich im Kreise der Atommächte wiederfand und eine stattliche Flotte im Schwarzen Meer ihr eigen nennen konnte, inklusive zweier im Bau befindlicher Flugzeugträger.
Es folgten mehrjährige Verhandlungen, an deren Ende die Ukraine ihren Flottenanteil verkaufte, den Flottenstützpunkt verpachtete und die Atomwaffen übergab.
Dass Verträge mit Russland eher so allgemeine Richtlinien sind und die russische Seite sich durchaus zu nichts verpflichtet fühlt, zeigte sich bereits 2006, als die Ukraine doch tatsächlich Schritte unternahm, um eine NATO- und eine EU-Mitgliedschaft zu erlangen.
Sehr plötzlich verlangte Gazprom eine sofortige Tilgung offener Rechnungen, erhöhte massiv den eigentlich vereinbarten Erdgaspreis und drohte mit Lieferstopp, der dann auch folgte. Das jahrelange Tauziehen endete erst 2010, als inzwischen ein russlandfreundlicher Präsident in Kyjiw amtierte und – vor allem – das EU-Assoziierungsabkommen nicht ratifiziert wurde. Plötzlich war wieder ein niedrigerer Erdgaspreis möglich. Nach dessen Sturz und der russischen Invasion auf der Krim galt das alles wieder nicht mehr. Das russische Gebahren wurde übrigens sogar international juristisch aufgearbeitet, mit dem Ergebnis, dass der Ukraine 2,5 Milliarden Dollar zustehen. Dieses Vorgehen der russischen Gas-Diplomatie ist nicht einmal etwas besonderes im Verhältnis der beiden Nachbarstaaten, auch in Europa hat man sich mit solchen Verträgen, die im Zweifelsfall das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen, knebeln lassen.
Worauf ich hinauswill: Das russische Verhalten ist glasklar imperialistische Politik und daraus hat Wladimir Putin niemals ein Geheimnis gemacht. Es war und ist erklärtes Ziel, den russischen Einflussbereich mindestens auf die Größe der ehemaligen Sowjetunion auszudehnen und dabei wird jedes Mittel gezogen, bis zum Krieg. Auch das wissen wir schon lange und unsere osteuropäischen Nachbarländer wurden nie müde, darauf hinzuweisen.
Russland hat – und das ist unstrittig – jeden Vertrag der letzten 30 Jahre mit der Ukraine gebrochen. Die wichtigsten wahrscheinlich der Freundschaftsvertrag von 1999 und das Budapester Memorandum von 1994, die beide die territoriale Integrität, die Anerkennung von Grenzen und der Souverinät feststellten.
Keine völkerrechtliche Vereinbarung hat Russland davon abgehalten, nicht nur gegen die expliziten, Ukraine-bezogenen Verträge zu verstoßen, sondern auch gegen übergeordnete Verträge wie die KSZE-Schlussakte oder die Charta der Vereinten Nationen.
Explizit verbotene Handlungen wie wirtschaftliche Erpressungsmaßnahmen, Invasion und Annexion des Staatsgebietes, mit deren Zusicherung die Ukraine auf Atomwaffen verzichtet hat, wurden dennoch begangen.
Es ist wirklich selten, dass die Frage, wer hier der Agressor ist, so eindeutig und klar zu beantworten ist. Und zwar, das sei hier explizit noch einmal hervorgehoben, ganz unabhängig davon, dass die Ukraine gewiss kein demokratischer Musterstaat ist. Das spielt bei dieser Frage überhaupt keine Rolle. Wir haben uns aus guten Gründen darauf geeinigt, dass man nicht einfach in Länder einmarschiert, deren Regierung einem nicht passt. Seit 2014 führt Russland einen Krieg gegen die Ukraine, seit 2022 flächendeckend. Punkt.
Wo kann hier die pazifistische Perspektive liegen?
Welche Antworten kann die Friedensbewegung hier geben? Sie kann möglicherweise viele geben, aber wir hören sie nicht.
Bankrotterklärung
Bisher war es für die westliche Friedensbewegung sehr einfach: Der böse US-amerikanische Imperialismus greift per Kommandooperation oder auch ganz offen dort ein, wo er seine Interessen bedroht sieht. Im Zweifelsfall holt er sich sogar noch die Erlaubnis der Weltgemeinschaft mit gefälschten Beweisen dafür ab. Chile, Nicaragua, Vietnam, Irak etc. etc.
Dagegen lässt sich protestieren, es gibt Medien, die das offenkundig machen und auf das Übel zeigen. Das ist richtig und mehr als notwendig. Es hat sich aber in den 70 Jahren des Protestes zweierlei gezeigt:
a) Günter Grass hatte 1967 einen Punkt:
Aber es gibt, so lesen wir, Schlimmeres als Napalm. Schnell protestieren wir gegen Schlimmeres. Unsere berechtigten Proteste, die wir jederzeit Verfassen, falten, frankieren dürfen, schlagen zu Buch. Ohnmacht, an Gummifassaden erprobt. Ohnmacht legt Platten auf: ohnmächtige Songs. Ohne Macht mit Gitarre. – Aber feinmaschig und gelassen wirkt sich draußen die Macht aus.8
Die Proteste dagegen hatten bald etwas routiniertes. Sie schienen kaum noch auf den Einzelfall bezogen zu sein, sondern man konnte bequem die Schilder vom letzten Protest nochmal verwenden. Diese Routine, wenn nicht schon Ritualisierung, machte Friedensproteste in Ost und West erstaunlich ähnlich – und das ist bemerkenswert, denn im Osten waren die nun wirklich echte staatliche Rituale. Auch ich bin als Kind mit der Picasso-Taube demonstrieren gegangen und natürlich was der Imperialismus als Kapitalismus im Endstadium und damit Verteidiger des Faschismus (wenn nicht sogar selbst faschistisch!) der große Feind des friedenswilligen Sozialismus. Und deshalb war es natürlich auch nötig, die Kinder zeitig zu militarisieren, damit sie auch gerne den Panzer zur Verteidigung des Friedens besteigen – sorry, ich schweife ab.
Jedenfalls aus meiner Beobachtung gibt es von dort eine direkte Entwicklungslinie zu
b) einem reflexhaften Anti-Amerikanismus.
Es gibt irrsinnig viele Gründe, die US-amerikanische Außenpolitik und ihr offizielles und inoffizielles Handeln zutiefst zu verbscheuen. Und nein, natürlich ist die US-Politik nicht von irgendwelchen Werten geleitet, sondern im Wesentlichen von Interessen – und auch hier bevorzugt von ihren eigenen. Das führt zu widerlichsten Ergebnissen und die sind hart und offen anzusprechen und zu kritisieren. Gerade aus antiimperialistischer Sicht (und nur eine solche Sicht kann eine pazifistische Weltanschauung annehmen, Imperien sind per se nicht friedensfördernd, auch wenn wir in unserer Erinnerungskultur immer wieder so tun) gibt es mehr als genug Gründe, ganz genau hinzuschauen, wenn die USA politisch tätig werden.
Ein Antiimperialismus, der allerdings völlig übersieht, dass die USA nicht die einzige Weltmacht sind und auch keineswegs die einzige, die sich außenpolitische widerlichster Praktiken bedient, verdient seinen Namen nicht. Wer nicht erkennt, dass die Abhängigkeitspolitik, die Russland über Jahrzehnte betrieben hat und die China seit einigen Jahrzehnten betreibt (Afrika, anyone? Südasien, anyone? Südamerika, anyone?), Imperialismus in Lehrbuchform ist, pflegt keine kritische Weltsicht, sondern Vorurteile. Wer übersieht, wie Russland immer wieder militärisch eingegriffen hat, wenn Nachbarländer nicht gespurt haben, wer nicht sieht, dass Russland und nur Russland den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, pflegt keine kritische Weltsicht, sondern Vorurteile. Die USA sind an vielem Übel Schuld. Daran, dass Putin gerne die Sowjetunion wieder haben will und dafür alles unternimmt, was ihm nötig erscheint, aber nicht.
Es waren nicht die USA, die auf die Krim, in Donezk und Luhansk einmarschiert sind. Es waren nicht die USA, die mit einem Handstreich Kyjiw erobern wollten und in Butscha Dorfbewohner massakriert haben.
Ein Antiimperialismus, eine Friedensbewegung, die Ernst genommen werden will, muss in der Lage sein, die Dinge beim Namen zu nennen. Auch wenn der Lieblingsfeind gerade mal nicht Schuld hat.
Es gibt keinen, keinen einzigen Grund, der es rechtfertigt, einen Krieg zu beginnen. Eine Friedensbewegung, die es nicht schafft, sich auf diesen Nenner zu einigen, ist keine. Wer allen Ernstes meint, der Krieg Russlands gegen die Ukraine sei nur das Ergebnis einer Provokation des Westens, insbesondere der USA, erklärt doch letzten Endes: Es gibt Situationen, da muss ein Land seinen Nachbarn überfallen. Und sorry, aber das mag vieles sein, pazifistisch ist das nicht.9
Was hier geschieht, ist die Rechtfertigung eines Angriffskrieges. Und das ist: Kriegspropaganda.
Scheinargumente
Es gibt immer wieder Argumente, die vorgebracht werden, um zu belegen, es sei eigentlich ganz einfach und in der Hand des Westens, diesen Krieg zu beenden. Sie gleichen sich in Muster und Stoßrichtung, darum nur mal zwei willkürlich herausgegriffen. Ziel ist es immer, Agens und Reagens zu vertauschen und damit die Handlungsoptionen zu verschieben.
Gegen eine Atommacht kann man nicht gewinnen
Dieses Argument kommt sehr realpolitisch daher. Und ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, die ganze zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war davon geprägt, der Atomwaffensperrvertrag beruht darauf. Und ja, Russland hat sich bisher nicht an die Verträge gehalten, warum sollten sie urplötzlich damit anfangen. Das Budapester Memorandum, dass explizit besagt, Atomwaffen nicht gegen Nicht-Atomwaffenmächte einzusetzen, wurde ja bereits in anderen Punkten gebrochen, warum nicht auch in diesem? Also ja, absolut möglich, dass Russland gegen die Ukraine Atomwaffen einsetzen wird. Doch lasst uns hier mal kurz innehalten: Wer hat hierfür die Handlungsoptionen? Es ist einzig und allein Russlands Entscheidung, ob es den Angriffskrieg weiter eskaliert. Es gibt eine ganz einfache Option, den Krieg sofort zu beenden: Sich aus der Ukraine, in der sie nichts zu suchen haben, zurückzuziehen. Als ob irgendeine Handlung der Ukraine oder des Westens Russland hindern würde! Selbst die kuschelzahme deutsche Appeasement-Politik seit den 90ern hat nichts, gar nichts verhindert. Den Krieg in Tschetschenien nicht, in Georgien nicht, in der Ukraine nicht. Und wenn es Putin oder sonstwem in den Kopf kommt, wird die Bombe fallen. Und wenn sie sich ausdenken, dass in der Ukraine Atomwaffen stehen. Dass Russland eine Atommacht ist und man ihm deshalb natürlich erlauben muss, seine Nachbarn mit Krieg zu überziehen, weil die ja eh nicht gewinnen können: Das ist die Rechtfertigung eines Krieges und mithin: Kriegspropaganda.
Frieden also erst, wenn genug Russen tot sind?
Ein Argument, das besonders gerne gegen Waffenlieferungen an die Ukraine gebracht wird. Und das ist nun ein Musterbeispiel für die Umkehrung von Aktion und Reaktion. Es bräuchte kein Russe mehr im Krieg sterben, wenn der Aggressor das tun würde, was nach Völkerrecht geboten wäre: Sich zurückziehen. Niemand hat so viel Macht wie Putin, diesen Krieg zu beenden. Er müsste es nur befehlen. Dass er das aus innenpolitischen Gründen nicht kann, weil er diesen Krieg propagandistisch derart aufgeblasen hat, dass selbst ihm das Schönreden schwer fallen dürfte, ändert nichts am Fakt: Er hat den Einmarsch befohlen, er kann den Abmarsch befehlen. und sofort müsste kein russischer Soldat mehr an der Front sterben. Nicht mal durch deutsche Panzer. Man kann die Waffenlieferungen kritisch sehen und Pazifisten müssen Waffenlieferungen kritisch sehen. Aber bitte auf Grundlage der tatsächlichen Verhältnisse. Und die besagen: Es sterben Russen und Ukrainer zu tausenden und täglich – aus einem einzigen Grund: Weil Russland die Ukraine überfallen hat. Es ist Russland, das derzeit seine alte Kriegstradition aufgreift und so lange Soldaten ins Feuer schickt, bis der Gegner keine Munition mehr hat. Sie könnten sofort damit aufhören. Es ist geradezu zynisch, in diesem Punkt die Verhältnisse umzudrehen. Dass Russen an der Front sterben, liegt ausschließlich in der Verantwortung Russlands. Zu behaupten, daran sei irgendjemand anderes als die russische Führung Schuld, betreibt die Rechtfertigung eines Krieges und mithin: Kriegspropaganda.
Perspektiven
Am 1. August 1914 sei es zu spät für pazifistische Propaganda gewesen, heißt im obigen Tucholsky-Zitat. Das gilt natürlich auch für den 1. September 1939 und für den 24. Februar 2022 und jedes beliebige andere Kriegsbeginnsdatum. Übrigens geht das Zitat weiter:
war es zu spät, militaristische zu treiben – tatsächlich ist auch damals von den Militaristen nur geerntet worden, was sie zweihundert Jahre vorher gesät haben. Wir müssen säen.10
Nun haben die Pazifisten nicht – oder zumindest nicht genug – gesät. Dennoch gilt es aber, weiter nach Alternativen zu suchen. Pazifismus hat derzeit keinen guten Klang, wie auch Heribert Prantl erst jüngst anprangerte. Auch Prantl benennt in seinem Kommentar das Dilemma des Pazifismus im Krieg:
Wenn der Krieg beginnt, sind die entscheidenden Fehler zumeist schon gemacht worden. Der Pazifismus ist daher der große und wichtige Widerspruch gegen den Krieg, er ist die radikale Anklage gegen den alten Spruch, dass der, der den Frieden will, den Krieg vorbereiten müsse. Es ist genau anders: Wer den Frieden will, muss den Frieden suchen – nicht erst im Krieg, sondern lange vorher, bevor er zu köcheln und zu kochen beginnt.11
Nun ist er aber da, der Krieg. Und hämisch werden die Pazifisten gefragt: Na, wohin denn nun mit euren Blümchen und Protestsongs? Helfen die gegen russische Bomben?
Nein, helfen die nicht. Und es sei als Exkurs an dieser Stelle erwähnt: Natürlich müssen wir nach diesem Jahrhundert der Völkermorde, in denen Verbrechen in Dimensionen begangen wurden, die mit militärischer Kriegsführung nichts mehr zu tun haben, anders über Waffeneinsatz reden. Es ist – dies ist eine bittere Erkenntnis – manchmal tatsächlich nur noch mit Waffengewalt zu antworten, weil alles andere noch schlimmer wäre.
Nur: Als Antwort auf Krieg nur Aufrüstung und Kriegsbereitschaft bereitzuhalten, ist Werbung für den nächsten Krieg, mithin: Kriegspropaganda. Hier gilt es entschieden und deutlich gegenzuhalten. Wir brauchen Ideen, wie wir die Zeit nach dem Ukraine-Krieg so gestalten, dass nicht doch noch der nächste Weltenbrand ausbricht. Und die müssen hörbar und wirksam gemacht werden. Die bisherige Strategie: Wir binden Russland ein, wenn wir ihre guten Gas-Kunden sind, werden die schon nichts tun und der Wladimir redet halt nur, der meint das alles gar nicht so – ist gescheitert. Der Wladimir meint das genau so und China hat auch schöne Pipelines. Diese Ideen gibt es, macht sie groß, macht sie laut.
Dann: Dieser Krieg ist zu beenden. Das wird aber nicht funktionieren, indem nach schon gescheiterten Formaten gerufen wird (Minsker Abkommen, erinnert sich noch wer?) Mit Putin wurde selbst nach der Invasion auf die Krim verhandelt und er hat auch dieses Vertragswerk mit Füßen getreten. Ich kann in keinster Weise erkennen, dass mit Putin zu verhandeln ist. Er kann nur gezwungen werden. Militärisch wird er nach Lage der Dinge kaum gezwungen werden können – er mobilisiert einfach so lange Soldaten, bis der Ukraine die eigenen Soldaten oder die Munition ausgeht. Diese menschenverachtende Ausblutungsstrategie ist in der russischen und sowjetischen Militärtradition nicht neu – und wenn wir bedenken, in welch hohen Tönen Putin von den militärischen Glanztaten der Roten Armee im Großen Vaterländischen Krieg spricht, stellt das für ihn auch kein moralisches oder sonstiges Problem dar. Es gibt also nur wenige Möglichkeiten: Entweder es greifen weitere Mächte direkt ein – was höchstwahrscheinlich den letzten Weltkrieg auslösen wird. Oder die Ukraine wird irgendwann zur Aufgabe gezwungen und Teil des allseligen Russischen Reiches. Mit unabsehbaren Folgen für die Weltordnung als Ganzer und mit dem wahrscheinlichen Ende der Selbstständigkeit Taiwans. Krieg ist immer eine Lose-Lose-Situation. Ein nicht-militärisches Ende wäre wohl nur zu erwarten, wenn es für mindestens Indien und China im eigenen Interesse sein wird, dass Russland den Krieg beendet. Derzeit profitieren sie aber zu sehr davon (nebenbei, in Sachen Lose-Lose-Situation: Russland hat sich mit diesem Krieg endgültig in die zweite Reihe verabschiedet – das Land ist ganz nützlich als Rohstoff-Lieferant und Absatzmarkt (Nordkorea z.B. wird gerade seine irrsinnige Überproduktion an Militärgütern los, der Iran auch) – aber eine erste Rolle wird es nicht mehr spielen können, denn es hängt jetzt am chinesischen Tropf).
Eine der prägendsten Filmmomente meiner frühen Jugend war eine Szene im bestenfalls mittelmäßigen Film American Shaolin. Nachdem der Protagonist mühsam gelernt hat, dass Kampf kein Mittel der Auseinandersetzung ist, sieht er seinen alten Mobber wieder, der im Ring einen Mitschüler quält und den Protagonisten auffordert, gegen ihn zu kämpfen, erst dann würde er vom Gepeinigten ablassen. Und hier erhält unser Protagonist eine Lehre: Manchen Menschen muss man eine Lektion erteilen, sonst hören sie nie auf. Worauf er in den Ring steigt.
Mich hat das geprägt, weil es nicht nur auf individueller Ebene, sondern eben auch auf staatlicher Ebene immer wieder vorkommt, dass jemand durch keine Regel einzuhegen ist. Dem alles egal ist und der immer wieder kommen wird. Der immer wieder zuschlägt, bis er selbst zu Boden geht – und nichts anderes kann ihn stoppen.
Was macht man mit so jemandem? Wie geht man mit so einem Staat um? Ich weiß es nicht, aber ich bin sicher: Es gibt Menschen, die das wissen. Und die will ich hören. Die sollen in den Talkshows sitzen und nicht irgendwelche Menschen, die Kriegspopaganda nacherzählen. Denen müssen die Schlagzeilen gehören.
Heute aber, das bringt der Kalender so mit sich, gehören die Schlagzeilen denen, die das Wort Frieden gekapert und zutiefst korrumpiert haben und damit nicht den Frieden, sondern die Grabesstille der Diktatur meinen.
Zum Ausgang noch diese Worte des Hausheiligen dieses Blogs, Dr. iur. Kurt Tucholsky:
Die stupide Anschauung Ernst Jüngers, Kampf sei das Primäre, das Eigentliche, wofür allein zu leben sich verlohne, steht auf ähnlichem Niveau wie die eines falschen Friedensfreundes, der jeden Kampf verabscheut und für Kamillentee optiert. Weder ewiger Kampf ist erstrebenswert noch ewige Friedfertigkeit. Nur Krieg . . . das ist eine der dümmsten Formen des Kampfes, weil er von einer recht unvollkommenen Institution und für sie geführt wird.12
Kurt Tucholsky als Ignaz Wrobel: Über wirkungsvollen Pazifismus. erschienen in: Die Weltbühne, 11.10.1927, Nr. 41, S. 555. online verfügbar bei zeno.org↩︎
Dieser Begriff birgt einige Komplikationen. Zum einen ist der Krieg natürlich nicht wie eine Tsunami-Welle über den Kontinent geschwappt, sondern hat ganz klare und definierbare Ursachen. Zum anderen ist er durchaus eurozentristisch. Bei allen Auswirkungen, die der 1. Weltkrieg ohne Zweifel global hatte – dieses Schlagwort lässt sich so aber doch nur in einem relativ eng definierten Bereich aufrecht erhalten. Ich verwende ihn hier trotzdem, weil er aus einer Perspektive, die mir an dieser Stelle wichtig ist, treffend sein dürfte: Das Ausmaß der Verheerungen politisch, psychologisch, materiell war für die Masse der europäischen Bevölkerung kaum anders als katastrophal zu nennen. Es ist meiner Meinung nach denn auch kein Zufall, dass es gerade in Deutschland starken Zulauf zu pazifistischen Bewegungen gab. ↩︎
Ganz willkürlich und beispielhaft sei hierzu auf den Aufsatz von Thomas F. Schneider Die Vereinigten Staaten von Europa verwiesen. Zu finden in: King, Ian (Hrsg) »Ein bunt gestrichenes Irrenhaus«. Tucholsky, die Weltbühne und Europa. Leipzig, Weissenfels: Ille & Riemer, 2018 Schriftenreihe der Kurt Tucholsky-Gesellschaft 11), 102–128 ↩︎
Kurt Tucholsky als Ignaz Wrobel: Über wirkungsvollen Pazifismus. erschienen in: Die Weltbühne, 11.10.1927, Nr. 41, S. 555. online verfügbar bei zeno.org↩︎↩︎
aus: Kurt Tucholsky als Peter Panter: Schnipsel. in: Die Weltbühne, 30.12.1930, Nr. 53, S. 999. online verfügbar unter http://www.zeno.org/nid/2000581880X↩︎
Über Ost und West, die Einheit und ihre (Nicht-)Vollendung ist bereits viel geschrieben worden. Vieles davon beruht aber eher auf gefühltem Wissen oder tradierten (Vor-)Urteilen.
Steffen Mau nimmt in diesem Buch seine Profession als Soziologe aber Ernst und macht etwas, das überraschend selten getan wird: Er schaut ganz genau hin, nutzt das Instrumentarium der Sozialwissenschaften und kommt dabei zu präzisen Ergebnissen. Dieser nüchterne, genaue Blick darauf, was wirklich ist – also welche Einstellungen, welche Wertvorstellungen, welche Mentalitäten tatsächlich im Osten existieren und woher sie stammen, hebt sich wohltuend von gängigen Polemiken ab.
Dabei zeichnet er die verschiedenen Phasen des Umgangs mit „dem Osten“ nach und macht überzeugend deutlich, dass die Strategie der Anwandlung an „den Westen“ nicht nur nicht zielführend, sondern auch schlicht nicht funktioniert hat – und auch nicht funktionierend wird. Eine demokratische Zukunft ist überhaupt nur erreichbar, wenn wir in der Gesamtgesellschaft anerkennen, dass es erhebliche Unterschiede gibt, die unterschiedliche Herangehensweisen und Instrumente erfordern. Wir müssen endlich weg davon kommen, unsere Entscheidungen auf Voreingenommenheiten und Illusionen zu stützen. Dafür ist eine realistische, saubere Bestandsaufnahme eine unerlässliche Grundlage.
Die sorgfältige Beobachtung und Argumentation von Steffen Mau bietet eine exzellente Grundlage für künftiges politisches Handeln, weg von illusorischen Vorstellungen, hin zu einer die Realitäten anerkennenden, aktiven Gestaltung einer weiterhin möglichen demokratischen Zukunft – nicht nur des Ostens, sondern der ganzen Bundesrepublik.
Besonders spannend fand ich Maus Gedanken, die nie wirklich gelungene Verwurzelung der bundesrepublikanischen Parteien im Osten als Herausforderung und Ideenfeld zu nutzen, wie Demokratie dennoch funktionieren könnte – denn es braucht keine prophetische Gabe, um abzusehen, dass die bereits stark bröckelnden Strukturen im Westen auch dort nicht mehr ewig halten werden. Der Trend ist seit Jahrzehnten ungebrochen und es ist nicht abzusehen, dass er endet. Also: Anstatt immer wieder herumzujammern, dass der Osten nicht wie der Westen ist, lasst uns diesen Fakt doch einfach mal anerkennen und schauen, was wir da tun können. Denn eines ist klar: Die Faschisten haben das längst erkannt und spielen ihr Playbook durch. Wird Zeit, mal ganz zügig eine 20 zu würfeln und loszulegen…
Auch wenn ich Mau’s Optimismus für seine vorgeschlagenen Lösungswege nicht ganz zu teilen vermag, sein Plädoyer dafür, dass es unabdingbar ist, jetzt etwas zu tun, ist absolut überzeugend.
Buchdetails: Ungleich vereint : warum der Osten anders bleibt von Steffen Mau. Suhrkamp Berlin 2024, 168 Seiten, ISBN 978-3-518-02989-3, auch als ebook erhältlich
Es sind gerade schwere Zeiten für Pazifistʔinnen. Wir erleben einerseits eine massive Militarisierung der Gesellschaft. Das offenbart sich in allen Bereichen. So etwas wie der Rheinmetall-Deal von Borussia Dortmund zum Beispiel wäre noch vor 4 Jahren undenkbar gewesen. Das ist möglicherweise nicht der stärkste Beleg, die Flexibilität gerade des Fußballs in Bezug auf die propagierten Werte, die sich eben ganz erheblich von den praktizierten unterscheiden, ist ja weithin bekannt.
Trotzdem finde ich es als Zeichen dafür, wie tief verankert der Militarismus inzwischen wieder ist, gar nicht so abwegig: Gerade die Dortmunder Fans haben eine durchaus lebhafte und große Fanszene, die sich immer wieder gesellschaftspolitisch positioniert. Und selbst diese lässt sich also mit den blumigen Erklärungen abspeisen, die vor allem eines beweisen: In der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind Wertebekenntnisse ausgeleierte Phrasen. Auf die Irritationen, wenn dann künftig mit dem Rheinmetall-Logo gegen Rechtsextremisten Flagge gezeigt werden soll, dürfen wir uns alle freuen.
Natürlich ist es auch absurd zu glauben, wenn zwei Aktiengesellschaften einen Werbevertrag verkünden, ginge es um irgendwelche anderen Werte als Aktienwerte. Dazu hat auch jüngst Jon Stewart ein sehr schönes Stück präsentiert:
Andererseits befindet sich auch der mediale Diskurs zunehmend in einem Kriegszustand, in dem es nur noch darum geht, auf welcher Seite man steht. Das ist natürlich verständlich, die Multikrise verlangt nach entschiedenem Handeln und da ist es durchaus hilfreich, Seiten zu wählen. Was mich aber irritiert: Wir scheinen es inzwischen für sehr wahrscheinlich zu halten, dass Menschen und Gruppierungen, die wir bis gestern noch für vernünftig gehalten haben, urplötzlich den Verstand verloren haben und jetzt Genozide oder Kriegsverbrechen schnafte finden. Ein solches Vorgehen aber übersieht etwas: Es ist vollkommen möglich, auf derselben Seite zu stehen und dennoch ein paar Anmerkungen zu haben und den eingeschlagenen Weg nicht für der Weisheit letzten Schluss zu halten.
Dieser Hang zum Tribalismus, der suggeriert, wir stünden kurz vom Bürgerkrieg, vor dem uns dann nur der uns genehme Stamm retten kann, in dem er alles für alle bestimmt – das mag für Krisenzeiten typisch sein. Hilfreich für eine freie und offene Gesellschaft ist das nicht. Aber alle machen mit.
Und so dürfen wir nun am Sonntag erleben, wie in den zwei ostdeutschen Freistaaten Parteien mit Macht in die Landtage gewählt werden, die das Banner der Demokratie und der Meinungsfreiheit vor sich hertragen, tatsächlich aber mit Genuss und Freude die Mauern der bürgerlichen Demokratie schleifen wollen. Und dies auch werden: Die Konservativen waren in der Geschichte und der Gegenwart immer die Steigbügelhalter autoritärer und faschistischer Mächte, sie werden es auch hier sein. Wer in faktenresistenten Propagandaschleudern wie dem Bündnis Sprechen wie Wladimir oder den lupenreinen Flügel-Faschisten Machtoptionen sieht, hat aus dem 20. Jahrhundert und aus dem Mord an Lübcke nur eines gelernt: Geschmeidige Opportunisten finden immer einen Weg durchzukommen – Franz von Papen als leuchtenden Bannerträger. Bloß nix für die eigenen Werte riskieren, dann wird das schon.
Denn wie riet der Hausheilige dieses Blogs im Jahr 1931?
Wenn sie in ihren Sälen hetzen, sagt: »Ja und Amen – aber gern! Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!« Und prügeln sie, so lobt den Herrn. Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft! Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.1
Was mich erschüttert, was mich wirklich betroffen macht: Wir haben als Gesellschaft die letzten 100 Jahre nicht genutzt, um wirksame Strategien gegen das immer gleiche Playbook (passende Stichworte: Landnahme, National befreite Zone, Diskursverschiebung [kurze Anmerkung: Wisst ihr noch, wie Anfang des Jahres das Wort Remigration Millionen auf die Straße trieb? Heute kann man damit Wahlkampf machen]) zu entwickeln und ins Werk zu setzen. In der Breite stehen wir heute wieder völlig ratlos da, lassen uns vorführen und überrumpeln. Und nicht einmal das mit Absicht und genau für diesen Fall eingeführte scharfe Schwert der Demokratie wagen wir zu ziehen. Die Verfasser:innen des Grundgesetzes wussten, dass gegen solche lupenreinen Demokraten wie sie nun bald mit fetten Prozentsätzen in den Landtagen sitzen im Zweifelsfall nichts anderes hilft. Kein Reden, kein Debattieren, keine seitenlangen Faktenchecks.
Und eines können wir gewiss sein: Die werden die Hebel nutzen, die da sind. Sie werden uns zeigen, was die Werkzeuge der wehrhaften Demokratie können, wenn sie eingesetzt werden. Nur dann halt nicht von echten, sondern von lupenreinen Demokraten.
aus: Kurt Tucholsky, Rosen auf den Weg gestreut. veröffentlicht als Theobald Tiger in Die Weltbühne, 31.03.1931, Nr. 13, S. 452. online verfügbar bei textlog.de↩︎
Es ist ein hochspannender Prozess, der da seit ein paar Jahren beobachtet werden kann: Ein Rückzug ins Digital-Private. Wichtige Inhalte werden nicht mehr öffentlich auf bekannten sozialen Medienplattformen publiziert, sondern im geschützten Raum der Abonennten. Das gilt natürlich nicht erst, seit wir wissen, dass Hirse-Hitler seine Fans über Telegram anschreibt.
Die Renaissance des email-Newsletters ist schon länger zu beobachten und nimmt zunehmend Fahrt auf. Was ihr schon allein daran erkennt, dass so ein Late-Adopter wie ich jetzt damit anfange (wahrscheinlich kurz bevor ich mir ein TikTok-Konto zulege 😉 )
Jedenfalls: Drüben bei Substack (auf diese Plattform hat mich die wunderbare Berit Glanz mit ihrem nicht weniger wunderbaren Projekt »Phoneurie« gebracht) gibt es in Kürze »Neues aus der Wrobelei«.
Und darum soll es gehen:
Nicht erst seit dem Wiedererstarken des verdeckt und offen auftretenden Faschismus in Deutschland und Europa, wendet sich der Blick ein Jahrhundert zurück, in die gescheiterte Republik von Weimar.
Was ich hier versuchen möchte: Die Gegenwart ein wenig durch die Linse des Werks von Kurt Tucholsky und seiner Rezeption zu betrachten. Ich glaube, dass es spannend sein kann, heutige Rückgriffe mit dem Blick des Zeitgenossen zu kontrastieren. Oder heutige Debatten ähnlichen Debatten aus dem »Babylon Berlin« gegenüberzustellen. Und sonst interessante Dinge mit Tucholsky- oder Weltbühnenbezug, die mir so begegnen. 🙂
Der Titel »Neues aus der Wrobelei« ist freilich selbst bereits Referenz. Die Nicht-Tucholsky-Referenz überlasse ich dabei Suchwilligen. Die andere sei kurz erläutert:
Ignaz Wrobel war eines der 5 PS, seiner fünf Finger an einer Hand, in Kurt Tucholskys Schaffen. Seinen Ignaz Wrobel, benannt nach dem ungeliebten Mathematik-Lehrbuch und dem hässlichsten Vornamen, den er sich denken konnte, beschreibt er so:
Wrobel, einen essigsauern, bebrillten, blaurasierten Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare [aus: Start, 1927]
Und so sind denn auch viele der Texte, die er unter diesem Pseudonym veröffentlichte: Grantelnd, mosernd, die Schlechtigkeit der Menschen anklagend. Aber eben auch: Aufklärerisch, moralisch unbeirrt, bitter-ironisch. Mit 16, als ich das erste Mal durch die Raddatz-Ausgabe durch war*, wäre Ignaz Wrobel kein Pseudonym gewesen, mit dem ich mich irgendwie hätte identifizieren wollen oder können.
Ein paar Jahrzehnte und Kompromisse mit der Welt später, fühle ich mich ihm doch deutlich näher. Schlußendlich aber soll Tucholskys Charakterisierung des Satirikers als Leitspruch über diesem Projekt stehen:
Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an. [aus: Was darf die Satire?, 1919]
Ich plane derzeit 1-2 Newsletter je Monat, los geht es Ende November 2020. Bis dahin, tell your friends!
*was hier nur als Zustandsbeschreibung verstanden werden soll, nicht als fishing for compliments, ich war nicht sozial eingebunden und Bücher waren sozusagen meine Freunde, da sind 10 Bände keine allzu ausufernde Beschäftigung – mal ganz davon abgesehen, dass die Jugend aufgrund ihrer kurzen Lesebiographie eine Phase zu sein scheint, in der noch so viel neu und aufregend ist, dass erstaunliche Lesetempi entstehen, ich jedenfalls habe nie wieder so viel »weggelesen« wie zwischen 14 und 18
UPDATE Damit kein falscher Eindruck entsteht: Es blieb bei einer Episode. Partei und ich – das war offenkundig ein Missverständnis. Nach ziemlich genau einem Jahr bin ich wieder ausgetreten. Und suche nun nach einer zu mir passenden Form des Engagements.
In meinem letzten Schuljahr wurde ich in den Landesschülerrat gewählt, kurz darauf war ich Vorsitzender.
Ämter dieser Art bringen neben einem wohlklingenden Titel (dessen Klang jungen Menschen in der Adoleszenz durchaus zu Kopf steigen kann) und der Illusion von Einfluss (in der Regel hat man ein Anhörungsrecht und das Anhörungsrecht nach SchulG ist keine schärfere Waffe als das nach BetrVG und bedeutet hier wie dort im Wesentlichen: »Prima, wir können das ohne die Störenfriede umsetzen«) jede Menge Arbeit. Denn man will ja seine Sache gut machen und glaubt in jugendlichem Überschwang tatsächlich, die eigenen Elaborate würden wahrgenommen und gelesen. So schreibt man denn also umfangreiche Stellungnahmen zu Rahmenrichtlinien und Gesetzentwürfen, redet sich in Diskussionen heiß, spürend, dass man den Schlüssel zur Lösung aller Probleme im Schulwesen in der Hand hält. Organisiert Konferenzen und Tagungen, erarbeitet Grundsatzpositionen und veröffentlicht gewichtigte Manifeste. Dies alles im festen Glauben daran, allen Beteiligten ginge es bei allen Differenzen doch im Wesentlichen um die Sache.
Stellt dann aber fest:
Denn was man allerdings auch hat: Kontakt mit politischen Entscheidungsträger_innen in mannigfacher Form. Ich nahm an Podiumsdiskussionen teil, hatte Gespräche mit dem Kultusminister und war bei symbolischen Generationsvertragsunterzeichnungen dabei.
Das war für mich nachhaltig. Ich habe damals entschieden, dass diese Sache mit der Parteiendemokratie schon eine okaye Sache ist, man aber fürs Mitmischen schon irgendwie geschaffen sein muss. Das glaube ich auch heute noch. Die hierzulande gewählte Variante der repräsentativen Demokratie hat offenkundige Schwächen und es ist sehr wohl so, dass das System bestimmte Typen bevorzugt, die zudem im Laufe der Jahrzehnte ein sich selbst reproduzierendes System geschaffen haben, in dem andere Typen kaum noch zum Zuge kommen. Und dass Politik noch weniger als vorher als bürgerschaftliches Engagement und stattdessen eher als Karriereoption wahrgenommen wird, macht die Sache nicht besser. Ich wollte niemals in diesem Zirkus mitspielen (und ich hatte die Gelegenheit dazu).
Aber: In diesem Land ist schon einmal eine Republik vor die Hunde gegangen. Eine Republik, die massive, schwerwiegende Mängel hatte. Die ihren Feinden zum Fraß vorgeworfen wurde. Und die doch unstrittig besser war als das, was nach ihr kam.
Es gehört nicht viel politischer Scharfsinn dazu, zu erkennen: Es brennt. Es brennt an allen Orten – und dies nicht nur metaphorisch. Es geht erneut um alles. Gerade heute erst wieder liefen in Dresden Menschen herum, um gegen »entartete Kunst« zu portestieren.
2017. LTI ist zurück. Der Hass spricht wieder. Unverhohlen.
Und erneut macht man sich auf, die Republik mit den Mitteln der Republik abzuschaffen. Ich kann es mir nicht mehr leisten, nur danebenzustehen und von den Repräsentanten der Demokratie zu fordern, sie mögen doch bitte für diese einstehen und dieses und jenes endlich mal einsehen und machen. Es geht um alles. Danebenstehen gilt nicht. Ironische Distanz auch nicht.
Ich will mich ja gern beschimpfen und anklagen lassen, ich will ja gern alles auf mich nehmen – wenn ich nur nicht sehen müßte, wie grauenhaft allein wir stehen.
schrieb Tucholsky in »Prozeß Marloh« 1919. Ich möchte die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und ich möchte die Zukunft nicht Faschisten überlassen. Das hier ist verdammt nochmal auch mein Land. Ein Land, in dem ich gern lebe und in dem meine Kinder beruhigt aufwachsen sollen.
Ich kann mir eine sehr viel schönere Welt als eine bürgerliche Demokratie vorstellen. Aber jetzt, hier und heute gilt es diese zu verteidigen, für sie einzutreten. Für Freiheit, Offenheit, Respekt. Für ein Mindestmaß an Anstand.
Das ist kein Spaß mehr. Kein „Och, wird schon werden“. Sich an immer unangenehmere Umstände zu gewöhnen, ist keine Qualität der menschlichen Spezies, sondern ihre größte Schwäche.
schreibt Sibylle Berg in ihrer Kolumne »Demokratie in Gefahr: Bewegt euch!«, die überhaupt mal wieder alles viel besser auf den Punkt bringt als ich das kann (aber dafür ist sie ja auch Frau Berg).
Und darum bin ich seit einigen Tagen Mitglied einer politischen Partei. Denn am Rande stehen gilt nicht mehr.
»Die Zeit schreit nach Satire« – nach diesem Tucholsky-Text benennt die Kurt Tucholsky-Gesellschaft ihre neue Anthologie, die im Jubiläumsjahr 2015 erscheinen soll.
Und es ist wirklich so, anders als satirisch ist das alles gar nicht mehr zu ertragen, was sich in Dresden und anderswo abspielt. Wer da so alles bei Spengler reloaded mitspielt – das treibt einem derart die Tränen der Verzweiflung in die Augen, dass sich doch ernsthaft die Frage stellt: Wenn dies Ausdruck des zu verteidigenden Abendlandes ist, wäre dann ein Untergang desselben nicht möglicherweise doch zu begrüßen?
Und doch, es ist auch mein Land, um das es hier geht. Da ist eben nicht egal, wenn hier wieder Leute unterwegs sind, um »der ganzen Welt und sich selbst zu beweisen, dass die Deutschen wieder die Deutschen sind«. Ich bin nur so müde. Meine politische Sozialisation erfolgte in den Neunziger Jahren, in den Jahren von Lichtenhagen, Solingen, Mölln, Hoyerswerda. Irgendwie hatte ich mich der Illusion hingegeben, diese Gesellschaft habe etwas gelernt und das Thema zumindest hätten wir hinter uns. Haben wir aber nicht. Und wenn selbst CSNY die Klampfen wieder in die Hand nehmen, weil sie merken, dass ihre Themen doch noch nicht durch sind – nun, dann werden wir jungen Hüpfer das doch wohl auch hinbekommen. Dann müssen wir wohl wieder raus.
Denn, wie der Hausheilige dieses Blogs 1929 schrieb:
Sie reißen den Mund auf und rufen: »Im Namen Deutschlands … !« Sie rufen: »Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.« Es ist nicht wahr.
Eben. Wir sind auch noch da. Wird Zeit, dies auch wieder zu zeigen:
Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land.
In diesem Sinne: Nehmen wir die Ratschläge der skeptischen Generationen ernst, hängen wir nicht nur die ganze Zeit vorm Rechner. Gehen wir doch mal wieder draußen spielen.
Inzwischen ist Kriege führen ja wieder ein normales Mittel deutscher Außenpolitik geworden. Die Gründe sind dieselben wie jederzeit, die Etiketten haben sich ein wenig gewandelt.
Und das scheint auch zunehmend gesellschaftlich akzeptiert zu werden, wie die umfassenden Diskussionen um Ukraine, Syrien und andere Krisengebiete zeigen.
Dazu folgendes heutige Fundstück:
Unten, auf dem zugeschütteten Graben, stehen ein paar Kreuze, liegen Kränze und ragen die Bajonette. Drei Mann müssen außerhalb des Grabens postiert gewesen sein; die Läufe ihrer Gewehre ragen ein paar Zentimeter hoch aus dem Boden, man stolpert über sie. Eine Mutter kann ihr Kind hierherführen und sagen: »Siehst du? Da unten steht Papa.«
Wir stehen vor einem Deutschland voll unerhörter Korruption, voll Schiebern und Schleichern, voll dreimalhunderttausend Teufeln, von denen jeder das Recht in Anspruch nimmt, für seine schwarze Person von der Revolution unangetastet zu bleiben. Wir meinen aber ihn und grade ihn und nur ihn.
Und wir haben die Möglichkeit, zu wählen: bekämpfen wir ihn mit der Liebe, bekämpfen wir ihn mit Haß? Wir wollen kämpfen mit Haß aus Liebe. Mit Haß gegen jeden Burschen, der sich erkühnt hat, das Blut seiner Landsleute zu trinken, wie man Wein trinkt, um damit auf seine Gesundheit und die seiner Freunde anzustoßen. Mit Haß gegen einen Klüngel, dem übermäßig erraffter Besitz und das Elend der Heimarbeiter gottgewollt erscheint, der von erkauften Professoren beweisen läßt, dass dem so sein muß, und der auf gebeugten Rücken vegetierender Menschen freundliche Idyllen feiert. Wir kämpfen allerdings mit Haß. Aber wir kämpfen aus Liebe für die Unterdrückten, die nicht immer notwendigerweise Proletarier sein müssen, und wir lieben in den Menschen den Gedanken an die Menschheit.
Aus dem möglicherweise stärksten Text des Hausheiligen, der unbedingt und in Gänze zur Lektüre empfohlen sei: »Wir Negativen« (1919).
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