Wahlkampf

Ich liege gerade krank im Bett, daher muss der Hausheilige heute mal den Text übernehmen. Heute waberte durch die Nachrichten der Auftakt zur 100Tage-Aktion der SPD, mit der sie behauptet, die Wahl gewinnen zu wollen.
Ich hätte da mal eine Wortmeldung aus dem Jahr 1924:

Man sollte genug aus den letzten zehn Jahren gelernt haben. Demokratische Regierungen haben sich benommen wie die wilden Tyrannen, und konservative sind mit artiger Milde an ihr Werk gegangen – auch sie getrieben oder geschoben von den Umständen. Den emsigen und ewigen Politikastern aber ist zu sagen, daß die Politik eine viel kleinere Rolle auf der Welt spielt, als die meisten Wichtigmacher unter
ihnen wahrhaben wollen. Es gibt Menschen, die nie aus dieser Welt der Ausschußsitzungen, Mehrheitsbeschlüsse, Wahlkreisgeometrien herauskommen und nicht über die Abgeordneten, ihre Reichskanzler und Kommissionen, ihre Kompromisse und Vertagungen hinauszusehen vermögen. Mag sein, daß da in diesen Réunions viele Gesetze angefertigt werden – regiert wird die Welt meist anderswo. Aber es tut so wohl, das wichtig zu nehmen und sich auch so vorzukommen. Man lese politische Leitartikel dieser Sorte, die etwa ein Jahr alt sind – und man hat ein Bild von dem vertanen Quantum Intelligenz, Arbeit, Kombinationsgabe, Zeit. Die Politik ist auch ein Stigma eines Landes – ihr einziges oder gar hervorragendstes ist sie nicht.
Und solche politischen Leitartikel zu schreiben mag ein Beruf sein und eine ansprechende Beschäftigung. Irgendeine tiefere Bedeutung kommt diesem Treiben nicht zu.

zitiert aus: »Wahlvergleichung« in: Tucholsky, Kurt: Werke und Briefe. 1924. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 10749f. Digitale Bibliothek, Band 15, Berlin 1999
Der ganze Text lohnt sich durchaus auch (»Der Wähler wählt in den meisten Fällen nicht das, was man nachträglich in seine Wahl hineinlegt.« steht da zum Beispiel. 😉

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