Auf dem Nachttisch (2)

Keine lange Vorrede heute, es geht ohne Umschweife einfach los mit der zweiten Ausgabe der Kurzrezensionen.

Petra Johann: Der Steg

Es gibt das Bonmot, ein Mord sei überhaupt nicht schwer – schwierig sei, die Leiche loszuwerden. Auch für Priska beginnen die Schwierigkeiten mit einem Toten, der zur Unzeit in der Nähe ihres Grundstücks ins Wasser fällt. Was genau geschah und welche Ereignisse zu dieser Situation geführt haben, wird erst im Laufe der Handlung klar. Eine Handlung, im Laufe derer Priska nicht nur darum kämpft, dass ihr der Tod nicht zugerechnet wird, sondern vor allem um das Leben, das sie sich aufgebaut hat.

Wie lange wird es Priska gelingen, ihr zerstörerisches Geheimnis zu wahren? Und welchen Preis wird sie dafür zahlen müssen, welche Schritte muss sie noch gehen, um die Fassade zu wahren? Das sind die Leitfragen dieses Thrillers, im Laufe dessen wir die taffe, strukturierte und erfolgsverwöhnte Priska mental entgleisen und letztlich im Wahnsinn landen sehen.

Petra Johann macht das gekonnt, aber es bleibt doch nicht ohne Längen und gerade zu Ende hin wirken die Versuche, das dem Leser doch längst offenbare Geheimnis weiter zu behüten, etwas verkrampft. Denn gerade die Konstruktion mit verschiedenen, aber aufeinander aufbauenden Erzählperspektiven, die den Thriller reizvoll machen, leidet letztlich darunter.

Buchdetails:
Petra Johann: Der Steg : Thriller. Rütten & Loening Berlin 2024, 399 Seiten, ISBN 978-3-352-01010-1, 18 € ; als ebook 13,99 € ; als Hörbuch 18 €
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Fran Lebowitz, New York und der Rest der Welt

Diese Texte von Fran Lebowitz haben viel zu lange gebraucht, um hierzulande entdeckt zu werden. Wie lange hätten wir uns schon an ihrer Scharfzüngigkeit, ihrem klaren Stil und ihrem geistreichen Witz erfreuen können! Aber besser spät als nie.

Und immerhin lässt sich nun gleich die Probe aufs Exempel machen, ob ihre Texte den Zahn der Zeit unbeschadet überstehen. Zumindest für die in dieser Auswahl versammelten lässt sich sagen: Unzweifelhaft überstehen sie das.

Mit ihrer entschiedenen Ablehnung alles Unentschiedenem, das ja doch immer das Merkmal des Mittelmaßes ist, mag nicht jedes ihrer Urteile die Zustimmung des Lesers finden (meine zum Beispiel auch nicht). Aber jeder ihrer Sätze ist pointiert, silsicher und zeigt eine überragende sprachliche Eleganz. Der Hausheilige dieses Blogs hätte seine helle Freude an ihr gehabt.

Buchdetails:
Fran Lebowitz: New York und der Rest der Welt [OT: The Fran Lebowitz Reader] ; aus dem Englischen von von Sabine Hedinger und Willi Winkler, Rowohlt Berlin Berlin 2022, 349 Seiten, ISBN 978-3-7371-0143-1 ; 22 € ; als Taschenbuch 14 € ; als ebook 9,99 €
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Simon Stephenson: Kurioses über euch Menschen

Simon Stephenson ist Drehbuchautor bei Simon Stephenson ist Drehbuchautor bei Pixar – und dieser Roman könnte problemlos ein Pixar-Film sein. Ein Roboter, der Gefühle entdeckt (indem er alte Filme schaut – Hollywood, was willst Du mehr???) und sich auf den Weg macht, die Menschheit davon zu überzeugen, dass Roboter fühlende Wesen sind und nicht nur Maschinen für niedere Arbeiten.

Das ist nicht leicht in einer Welt, in der Gefühle bei Robotern als Fehlfunktion betrachtet und diese daher entsprechend aussortiert werden. Mit seinem wunderbar naiven und dennoch gewitztem Protagonisten hat Stephenson einen Sympathieträger geschaffen, dem man gerne durch diese bittersüße Handlung folgt, die uns nach nicht weniger als dem Menschsein als solchem fragt.

Doch so tiefschürfend möchte ich den Roman gar nicht gelesen haben, das würde seinem feinen Humor nicht gerecht werden. Ich habe Jared jedenfalls sehr ins Herz geschlossen und habe ihn gerne auf seinen Abenteuern begleitet. Ich muss jedes Mal an ihn und diesen Pixar-Film von einem Roman denken, wenn ich auf Instagram Gretchen Withmer über „Michiganders“ reden höre. 😉

Thomas Radetzki, Matthias Eckoldt: Inspiration Biene

Ich bin Großstadtkind und zwar genau so wie das Klischee es will: Im Wesentlich beschränken sich meine Naturkenntnisse auf: Baum, Blume, Vogel, Tier. Genaueres wird schon schwieriger. Insofern bin ich durchaus mit großen Erwartungen an dieses Buch herangegangen, denn auch die großstädtische Vorstellung vom Bienenleben ist ja durchaus – nun ja, sagen wir romantisiert.

Und tatsächlich lässt sich hier etliches darüber erfahren, wie die Honigbiene lebt. Allerdings beschlich mich zunehmend Unbehagen und gerade im letzten Teil geradezu Widerwillen. Denn eigentlich ist dies kein Buch über die Honigbiene und wie sie von Menschen kultiviert wird, sondern darüber wie toll die Aurelia-Stiftung ist und wie sehr wir gesellschaftlich von ihr und ihren Aktivitäten profitieren können.

Das steht natürlich nicht so platt im Buch, aber es gibt hier nur eine einzige Perspektive, die die Autoren einnehmen. Und das vergällt die Lektüre dann doch sehr und das ist schade drum. Letztlich ist das ein Beispiel dafür, wie ein Sachbuch nicht sein sollte.

Buchdetails:
Thomas Radetzki, Matthias Eckoldt: Inspiration Biene. Klett MINT Stuttgart 2020. 163 Seiten, ISBN 978-3-942406-39-0 ; 32 € ; als Hörbuch 20 €
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Andreas Suchanek: Interspace One

Für interstellare und erst recht für intergalaktische Reisen steht man vor verschiedenen erheblichen Problemen. Ein schwerwiegendes davon ist: Irgendwie müssen die irrsinnigen Distanzen überwunden werden. Die Science-Fiction-Literatur hat dafür schon verschiedene Lösungen vorgeschlagen, die entweder darauf zielen, durch phänomenale Reisegeschwindigkeiten die Reisezeit zu verkürzen (Warp-Antrieb, unendlicher Unwahrscheinlichkeitsdrive etc.) oder die Reisenden selbst für die lange Reisezeit zu präparieren (Generationenschiff, Kryonik etc.)

Eine Möglichkeit, die sogar interdimensional funktioniert, wenn wir Rick Sanchez glauben wollen, ist die Umwandlung der Identität in ein Datenpaket und die anschließende Implementierung in einen anderen (geklonten) Körper. Auf diese setzt Andreas Suchanek in seinem Sci-Fi-Thriller.

Commander Liam Mikaelsson erwacht in seinem Klonkörper, um mit seinem Team die geplante Erkundungsmission eines weit entfernten Planeten aufzunehmen. Bis dahin ist alles in Ordnung. Ab dann läuft überhaupt nichts mehr nach Plan. Von seinem Team erwacht nur noch seine Sicherheitsexpertin und die Technik verhält sich generell merkwürdig. Von einem ruhigen Planeten, der sich geordnet erforschen lässt, kann auch keine Rede sein. Und allmählich wird klar, dass es sich bei der ganzen Situtation nicht einfach um unglückliche Umstände handelt…

Ich habe dieses hochspannende Buch sehr gerne gelesen. Suchanek versteht es, einen Plot zu erzählen, der in den Bann zieht und die Spirale der Ereignisse immer weiter zu drehen. Ich mag den Marketing-Begriff vom Page-Turner nicht besonders – aber hier trifft er ohne Zweifel zu. Wer einen Thriller sucht, der sich schnell weglesen lässt, ist hier genau richtig.

Buchdetails:
Andreas Suchanek: Interspace One : Roman. Piper München 2022, 377 Seiten, ISBN 978-3-492-70634-6 ; 15 € ; als ebook 12,99 €
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Auf dem Nachttisch (1)

Schreiben über gelesene Bücher soll eigentlich integraler Bestandteil dieses Blogs sein. Aber wie das so ist im Leben – nicht immer entwickelt sich alles so wie geplant. Vor allem das Real Life funkt immer wieder gerne dazwischen. Und so gerne ich meine schon seit Jahren zurückliegende wöchentliche Buchempfehlungsrubrik weiterführen würde – es ist nicht realistisch, das wird auf absehbare Zeit nicht passieren.

Nun lese ich also weiterhin Dies und Das, denke mir nach jeder beendeten Lektüre: Dazu schreibst Du was. Dann fange ich einen Beitrag an, lege ihn zur Seite und da bleibt er dann liegen – hilflos mit seinen Beinchen strampelnd, mich immer wieder ermahnend, ihn nun endlich aufzuheben. So vergehen Wochen, Monate, Jahre – und es wird doch kein veröffentlichter Text daraus. Inzwischen sind die Bücher womöglich vergriffen, kurz: Das ist unbefriedigend.

Also versuche ich es nun einmal mit kurzen Sammelrezensionen – die zwar dem einzelnen Werk nicht die Aufmerksamkeit geben, die ich ihm idealerweise geben wollte. Doch dazu sei an dieser Stelle mein früherer Chef zitiert: Better done than perfect.

Also dann, auf geht es mit der ersten Runde Bücher, die ich kürzlich vom Nachttisch geräumt habe:

Sarah Kuttner: Kurt

Drei Erwachsene, ein Kind. Die Zahl von Büchern und Filmen zu den verschiedensten Konstellationen, die sich aus einer solchen Aufzählung ergeben können, ist Legion. Warum also noch eins? Weil das Thema nie zu Ende ist. Jede Zeit, jede Konstellation ist individuell und hat ihre ganz eigene Geschichte, Sarah Kuttners Geschichte beginnt zunächst ganz vertraut: Ein Paar hat ein gemeinsames Kind, trennt sich, ein Partner findet eine neue Partnerin und zieht mit dieser in ein eigenes Haus. Jana und Kurt schaffen es, diese schwierige Situation vernünftig zu lösen und Lena lernt nach dem großen nun auch den kleinen Kurt kennen. Mit ihr erleben wir ein waches, neugieriges Kind voller Liebe für die Welt und die Menschen, die ihn umgeben.
Der tiefe Schmerz, den die Erwachsenen erleben, als das Kind plötzlich stirbt, hat auch mich beim Lesen getroffen. Ich habe den kleinen Kerl sehr ins Herz geschlossen. Sarah Kuttner findet in ihrer schnörkellosen, empathischen Sprache einen Ausdruck für die Trauer und die ganz verschiedenen Wege, die Trauernde gehen. Darin liegt für mich die Stärke und Bedeutung dieses Buchs: Worte und Ausdruck zu finden für eine Trauer, die tiefer kaum sein könnte. Worte dort zu finden, wo keine Worte mehr sind.

Ein herzzerreißendes Buch über einen Schmerz, der nicht zu begreifen ist. Ich habe jedenfalls viele Tränen vergossen und ich weiß nicht, ob ich das Buch ein zweites Mal aushalten würde.

Murakami Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

Gut vierzig Jahre liegt diese Geschichte schon bei Murakami auf dem Nachttisch. Grundlage des Romans ist eine Erzählung aus den 80er Jahren, mit der der Autor nie so recht zufrieden war. Immer wieder wollte er sie weiter ausarbeiten. Nun also ist dieser Roman daraus entstanden. Vor solchen Entstehungsgeschichten warnen Lektor:innen regelmäßig, und das aus guten Gründen. So eine Geschichte bleibt nicht ohne Anlass so lange liegen. Meist stimmt mit ihnen etwas nicht, sei es, dass ihr Thema nicht so recht passt oder ein grundlegender konstruktiver Fehler es immanent nicht zu einem gutem Abschluss kommt. Das ist auch hier spürbar, der Roman sei niemandem ohne Murakami-Erfahrung empfohlen.

Und dennoch zeigt sich Murakami in diesem dichten Roman von seiner Stärke als Romancier. In der metapherngesättigten Geschichte um eine verlorene und unerreichbare Liebe führt er dem Leser vor Augen, dass Realitätsflucht zwar ungemein beruhigend und sicherheitsversprechend ist – aber eben nicht echt. Und vor allem: Das Leben extrem einschränkend, da jede Berührung mit dem Leben außerhalb der selbst geschaffenen Mauern den Kokon und seine schutzspendende Wärme bedroht. Und auch wenn ich den Roman gerne gelesen habe: Wahrscheinlich wäre es besser, er wäre eine Erzählung geblieben.

Laura Wood: Agency for Scandal

Izzy Stanhope, eine junge Frau mit Beziehungen in der britischen Upper Class, hat viele Geheimnisse. Und jedes einzelne davon könnte ihre prekäre Stellung ruinieren. Dementsprechend unauffällig bewegt und kleidet sie sich.
Der Roman ist im Viktorianischen England angesiedelt und kreist um ein Team von Frauen, die selbstorganisiert andere Frauen unterstützen. Das ist entsprechend herausfordernd, denn offen agieren können sie naturgemäß nicht. Scheu hat das Team dabei weder vor hohen Ämtern, großem Reichtum oder Berufsverbrechern. Alle Mittel und Wege sind ihnen recht, wenn sie geeignet sind, die Sache der Klientinnen zu befördern. Dabei nutzen sie geschickt ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung aus, legen sich Tarn-Identitäten, entwickeln Spezialfähigkeiten – eben alles, was man von einem professionellen Team erwarten darf.

Ob und wie hier Anachronismen reinspielen, kann ich nicht beurteilen, dafür kenne ich die Viktorianische Gesellschaft viel zu wenig – ich bin mir aber auch nicht sicher, ob das überhaupt relevant ist. Die turbulente Handlung findet ihre Ankerpunkte in den Figuren, die ein hohes Identifikationspotential bieten. Dass hier die Protagonistinnen sich in einer männerdominierten Welt ihren Handlungsraum nehmen und nutzen ist vielleicht der stärkste Aspekt dieses Jugendbuches.

Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Syd

Mich hat dieser Thriller leider überhaupt nicht überzeugt, gerade vor dem Hintergrund des ersten Teils. Dieser war solides Handwerk, mich hatten ein paar Dinge gestört, aber insgesamt war das okay und ich war durchaus gespannt, wie die Geschichte weitergehen würde.
Schon in Das Nord war die übermächtige Alice und die Hilflosigkeit aller anderen etwas dick aufgetragen. Hier aber rutschen die Figuren endgültig in die Unglaubwürdigkeit ab. Das beginnt schon beim Restaurantnamen, der gekünstelt auf den ersten Roman Bezug nimmt. Alex und Sofi würden nach all den traumatischen Erlebnissen im Nord ihr Restaurant ernsthaft Syd nennen? Insbesondere, wenn sie versuchen, sich vor Alice Duwal zu verstecken? Da war das Verlagsmarketing wohl stärker als die Figurenentwicklung.
Und dass nun wirklich jeder Schritt, den Alex macht, sich mal wieder als beobachtet und gesteuert herausstellt, was ausgerechnet ihm aber nie bewusst wird, obwohl er ständig Angst davor hat, beobachtet und gesteuert zu werden. Und wieder einmal ist es dieselbe übermächtige Alice, die hier schon James-Bond-Bösewicht-Dimensionen erreicht und wieder einmal wird es eine vergleichsweise simple Falle, mit der sie überwältigt wird. Ich weiß nicht, mich hat das wirklich nicht überzeugt. Ich hatte hier auf eine neue Geschichte gehofft, tatsächlich aber ist es weitgehend dieselbe.
Gleichzeitig ist aber ganz klar spürbar, dass die Autorinnen ihr Handwerk eigentlich verstehen – und das hat vielleicht meinen Ärger verstärkt. Wenn das Buch einfach schlecht geschrieben wäre, hätte ich es zur Seite legen und abtun können.

Buchdetails:
Sarah Kuttner: Kurt : Roman. S. Fischer Frankfurt am Main 2019, 239 Seiten, ISBN 978-3-10-397424-9, 20 € ; als Taschenbuch 12 € ; als ebook 9,99 €
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Murakami Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer : Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Dumont Buchverlag Köln 2024, 637 Seiten, ISBN 978-3-8321-6839-1, 35 € ; als ebook 27,99 € ; als Hörbuch 34 €
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Laura Wood: Agency for Scandal : Roman. Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawls, Fischer Sauerländer Frankfurt am Main 2024, 432 Seiten, ISBN 978-3-7373-4389-3, 15,90 € ; als ebook 12,99 €
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Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Syd : Thriller. Aus dem Schwedischen von Max Stadler, HarperCollins Hamburg 2024, 270 Seiten, ISBN 978-3-365-00578-1, 14 € ; als ebook 9,99 €
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Klaus Leesch: Eduard Bernstein (1850-1932)

Klaus Leesch hat sich in seiner Werkbiographie des frühen Sozialdemokraten Eduard Bernstein einer Mammutaufgabe gestellt.

Bernstein ist sowohl während seiner Lebzeiten als auch in der späteren Rezeption stets voreingenommen bewertet worden. In seinem Wirken während der Flügelkämpfe in der Sozialdemokratie, insbesondere in der Kaiserzeit, mag das noch in der Natur der Sache liegen.

Als bedeutender Publizist in der sozialdemokratischen Presse, der noch dazu immer wieder klar Stellung bezog, konnte er kaum mit einem ausgewogenen Urteil rechnen. In der Rezeption der Nachkriegszeit wiederum diente er beidseits der Mauer vorrangig als Projektionsfläche nebst der dazugehörigen Rosinenpickerei.

Das führte nicht nur zu einseitigen Urteilen, sondern auch zu erheblichen Forschungsdesideraten, denn wirklich intensiv und sachlich beschäftigten sich kaum Forscher mit ihm. So kommt es denn auch zustande, dass von einem der wichtigsten Vertreter der frühen Sozialdemokratie bis heute keine vollständige Werkausgabe vorliegt.

Vor diesem Hintergrund ist Klaus Leeschs umfassende Arbeit nicht nur zu begrüßen, sie ist willkommen zu heißen.

Leeschs Arbeit umfasst in der gedruckten Ausgabe zwei Bände mit insgesamt über 1700 Seiten und war seine Dissertation an der Fern-Universität Hagen. Leesch hat sich lange und intensiv mit Bernstein beschäftigt. Das ist von der ersten Seite an zu spüren – ebenso wie die Sympathie des Autors der Person Bernsteins gegenüber. Dass ihm trotzdem die sachliche Distanz nicht abhanden kommt, ist ein unbedingter Pluspunkt. Und unbedingt notwendig, voreingenommene Bernstein-Literatur gibt es ja – wie eingangs erwähnt – bereits zur Genüge.

Dennoch wäre hier ein etwas rigoroseres Lektorat gewinnbringend gewesen. Ich hatte beim Lesen sehr bald den Eindruck, Klaus Leesch wolle nun gleich alle bestehenden Lücken mit einem Mal schließen. Insbesondere seine langen und umfangreichen wörtlichen Zitate aus Bernsteins Werk machen die Lektüre schnell mühsam. Natürlich ist die Belegarbeit schwierig, wenn keine in Umfang und Güte zufriedenstellende Werkausgabe zur Verfügung steht. Eine bessere Lösung wäre hier aber wahrscheinlich dennoch die Auslagerung in einen Quellenband bzw. in den Anhang gewesen. So aber entstehen Redundanzen und Längen, die es schwer machen, die Biographiearbeit des Autors wahrzunehmen. Das ist sehr schade, denn so entsteht der Eindruck, dass vor lauter Ansprüchen, denen diese umfangreiche Arbeit gerecht werden will, sie letztlich keinem wirklich gut entspricht.

Dennoch: Dieses Mammutwerk wird seinen unübersehbaren Platz in jeglicher Arbeit zu Bernstein und der frühen deutschen Sozialdemokratie finden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand zu diesem Themenkomplex arbeiten kann, ohne künftig Leeschs Werkbiographie zur Kenntnis zu nehmen. Aus diesem Bergwerk werden noch so manche Schätze geholt werden.

Und dem interessierten Publikum wünsche ich, dass Klaus Leesch noch einmal nachlegt – mit einer schlankeren Biographie unter dem Motto: Mehr Leesch wagen.

Details zum Buch:
Klaus Leesch: Eduard Bernstein (1850-1932). Campus Verlag Frankfurt/Main 2024, 2 Bde., 1788 Seiten, 189 € ; als ebook (epub oder PDF) 179,99 €
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Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Nord

Bei Alex läuft es grad gar nicht – er ist abgebrannt, obdachlos und ohne Job. Da bekommt er die Chance, in Nordschweden bei einem berühmten Sterne-Koch in einem Edelrestaurant anzufangen. Mit den allerletzten Ressourcen gelingt es ihm, die Reise zu bewerkstelligen und rechtzeitig einzutreffen. Die Arbeit ist hart, Freizeit ist rar und die Arbeitsatmosphäre geprägt von Missgunst und Intrigen.

Nicht wirklich besser wird es, als er eine Affäre mit Alice Duvall, der Ehefrau des Besitzers anfängt. Schnell ist Alex ist einem verhängnisvollen Abhängigkeitsverhältnis, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint – insbesondere da Alice sehr eigene Interessen verfolgt, bei deren Durchsetzung er bestenfalls als Werkzeug eine Rolle spielt.

Katarina Ekstedt und Anna Winberg Sääf gelingt ein spannender Thriller, der alle Zutaten bereithält, die es braucht. Allerdings auch nicht mehr. Beworben wird es mit Schwedische Thriller-Spannung vom Feinsten und Intrigen und Psychoterror in der Schwedischen Sterneküche. Davon habe ich wenig gelesen. Die ersten Berfreiungsversuche scheitern zu offensichtlich und für das David-Goliath-Spiel, dass hier aufgebaut wird, ist mir die letztliche Lösung sogar etwas zu platt. Darin besteht meiner Meinung nach ja die besondere Kunst: Übermächtige Bösewichte, die alles beherrschen und von allem wissen, sind leicht erschaffen. Aber eine plausible Handlung, wie diese dennoch überwunden werden können – das ist eine echte Herausforderung. Und die finde ich hier nicht restlos überzeugend gemeistert.

Das ist solides Handwerk, die Handlung spitzt sich gekonnt zu. Aber kaum weg gelegt, hatte ich Figuren, Handlung und kulinarische Finessen eigentlich auch schon wieder vergessen. Also gute Unterhaltung – und das ist gar nicht abwertend gemeint: Ich bin hier gerne dabei geblieben.

Details zum Buch
Anna Winberg Sääf/Katarina Ekstädt: Das Nord. Thriller. aus dem Schwedischen von Max Stadler. Deutsche Erstausgabe bei HarperCollins Taschenbuch, Hamburg 2023, 288 Seiten, 14 € ; als ebook (ePUB) 10,99 €
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Marc-Uwe Kling: Views

Ich muss gestehen, meine HardCore-Marc-Uwe Kling-Fanphase ist schon einige Jahre her (Exhibit A: Gachmurets dritte Kulturwoche: Kabarett vom Februar 2010). Genau so wie ich die Radiokolumne sehr mochte, habe ich auch die ersten Känguru-Bücher mit großer Freude gelesen.

Der Guerilla-Kommunismus des Kängurus erfreut mich auch heute immer wieder. Der überragende kommerzielle Erfolg hat mich verwundert und skeptisch gemacht. Auch heute beschleicht mich durchaus das Gefühl, dass nicht alle bei dem Take Mein – Dein, das sind doch alles bürgerliche Kategorien aus denselben Gründen lachen. Tatsächlich verfolge ich Klings Arbeit eher deshalb noch mit, weil die Traumtochter™ großer Fan ist.1

Will sagen: Seit fast 15 Jahren habe ich kein Buch mehr von ihm gelesen – zwischenzeitlich hat Kling eine beachtliche Bestseller-Karierre hingelegt und das Genre der WG-Berichte aus dem Zusammenleben mit einem kommunistischen Känguru, das früher beim Vietkong war, weitgehend verlassen. Dies nur als Vorrede, um zu verdeutlichen, dass ich durchaus nicht unvoreingommen an Views herangegangen bin.

Das Buch wird als Thriller beworben, und das geht soweit auch in Ordnung. Im Mittelpunkt steht die BKA-Kommissarin Yasira Saad, die in einen Aufsehen erregenden Fall involviert wird. Die 16jährige Lena Palmer verschwindet – zunächst ein lokaler Fall, der außerhalb der Harzregion zunächst keine Bedeutung erlangt. Doch dann taucht ein verstörendes Vergewaltigungsvideo auf und die Welt gerät aus den Fugen. Schnell gibt es massive Demonstrationen, die Täter werden schnell als Geflüchtete bezeichnet und dass die leitende Ermittlerin beim BKA den Namen Yasira Saad trägt, befeuert die sich rasant militarisierende deutsche Gesellschaft zusätzlich. Dementsprechend geraten nicht nur alle, die den Tätern im Video ähnlich sehen, in akute und konkrete Gefahr, sondern auch Yasira persönlich und ihre Tochter. Außerdem erscheinen in kurzer Schlagzahl weitere Videos, etliche davon von einer Gruppierung, die sich „Aktiver Heimatschutz“ nennt und neben Hass auch konkrete Aufstandsforderungen verbreitet. Kurz: Die Gewaltspirale wird ihrem Namen mehr als nur gerecht.

Marc-Uwe Kling hat hier einen straighten Thriller geschrieben, der geübte Thriller-Leser:innen womöglich nicht vor übermäßige Herausforderungen stellt, aber er schont sein Publikum durchaus nicht. Sowohl die Handlung als auch die beschriebenen Videos sind durchaus gewaltvoll, wenn auch nicht überzogen explizit und die Gewalt selbst steht auch nicht im Vordergrund, das macht es erträglicher. Im Vordergrund steht die sich immer schneller drehende Eskalationsspirale, die es kaum noch möglich zu machen scheint, noch seriöse Ermittlungsarbeit zu leisten. Insgesamt habe ich das gerne gelesen, mich hat der Thriller in Bann gezogen und das ist ja letztlich Hauptaufgabe von Spannungsliteratur. Ein paar Anmerkungen habe ich noch, aber zunächst einmal die Detail-Angaben zum Buch:

Marc-Uwe Kling: Views : Roman. Ullstein Verlag, Berlin 2024, 269 Seiten, ISBN 978-3-550-20299-5, 19,99 €. Auch erhältlich als ebook und Hörbuch.

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An dieser Stelle ein Break: Ich kann nicht weiter schreiben, ohne konkret auf Handlungsstränge einzugehen. Daher eine unbedingte SPOILER-WARNUNG.

Weiterlesen „Marc-Uwe Kling: Views“

Steffen Mau: Ungleich vereint

Über Ost und West, die Einheit und ihre (Nicht-)Vollendung ist bereits viel geschrieben worden. Vieles davon beruht aber eher auf gefühltem Wissen oder tradierten (Vor-)Urteilen.

 Steffen Mau nimmt in diesem Buch seine Profession als Soziologe aber Ernst und macht etwas, das überraschend selten getan wird: Er schaut ganz genau hin, nutzt das Instrumentarium der Sozialwissenschaften und kommt dabei zu präzisen Ergebnissen. Dieser nüchterne, genaue Blick darauf, was wirklich ist – also welche Einstellungen, welche Wertvorstellungen, welche Mentalitäten tatsächlich im Osten existieren und woher sie stammen, hebt sich wohltuend von gängigen Polemiken ab.

Dabei zeichnet er die verschiedenen Phasen des Umgangs mit „dem Osten“ nach und macht überzeugend deutlich, dass die Strategie der Anwandlung an „den Westen“ nicht nur nicht zielführend, sondern auch schlicht nicht funktioniert hat – und auch nicht funktionierend wird. Eine demokratische Zukunft ist überhaupt nur erreichbar, wenn wir in der Gesamtgesellschaft anerkennen, dass es erhebliche Unterschiede gibt, die unterschiedliche Herangehensweisen und Instrumente erfordern. Wir müssen endlich weg davon kommen, unsere Entscheidungen auf Voreingenommenheiten und Illusionen zu stützen. Dafür ist eine realistische, saubere Bestandsaufnahme eine unerlässliche Grundlage.

Die sorgfältige Beobachtung und Argumentation von Steffen Mau bietet eine exzellente Grundlage für künftiges politisches Handeln, weg von illusorischen Vorstellungen, hin zu einer die Realitäten anerkennenden, aktiven Gestaltung einer weiterhin möglichen demokratischen Zukunft – nicht nur des Ostens, sondern der ganzen Bundesrepublik. 

Besonders spannend fand ich Maus Gedanken, die nie wirklich gelungene Verwurzelung der bundesrepublikanischen Parteien im Osten als Herausforderung und Ideenfeld zu nutzen, wie Demokratie dennoch funktionieren könnte – denn es braucht keine prophetische Gabe, um abzusehen, dass die bereits stark bröckelnden Strukturen im Westen auch dort nicht mehr ewig halten werden. Der Trend ist seit Jahrzehnten ungebrochen und es ist nicht abzusehen, dass er endet. Also: Anstatt immer wieder herumzujammern, dass der Osten nicht wie der Westen ist, lasst uns diesen Fakt doch einfach mal anerkennen und schauen, was wir da tun können. Denn eines ist klar: Die Faschisten haben das längst erkannt und spielen ihr Playbook durch. Wird Zeit, mal ganz zügig eine 20 zu würfeln und loszulegen…

Auch wenn ich Mau’s Optimismus für seine vorgeschlagenen Lösungswege nicht ganz zu teilen vermag, sein Plädoyer dafür, dass es unabdingbar ist, jetzt etwas zu tun, ist absolut überzeugend.

Buchdetails:
Ungleich vereint : warum der Osten anders bleibt von Steffen Mau. Suhrkamp Berlin 2024, 168 Seiten, ISBN 978-3-518-02989-3, auch als ebook erhältlich

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Janina Ramirez: Femina

Oxford-Historikerin Dr. Janina Ramirez, die ich in einigen Geschichtsdokus gesehen habe und die mir dort sehr positiv aufgefallen ist, hat mit Femina: Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen ein spannendes Buch geschrieben.

Ihr Werk ist keine chronologische Darstellung der Epochenereignisse wie es zum Beispiel die politische Geschichte kennt. Vielmehr zeichnet sie ein Epochenportrait – ausgehend von den Lebenszeugnissen mehrerer Individuen wirft sie Schlaglichter auf die vielfältige und bunte Welt des Mittelalters.

Dabei wird immer wieder deutlich, dass die Antworten, die die Beschäftigung mit Geschichte uns bringt, stets von den Fragen abhängen, die wir stellen. Das führt sie auch deutlich aus: Schon in ihrer Vorrede macht Dr. Ramirez klar, dass ihr Blickwinkel selbstverständlich einen Fokus bewirkt, dass ihre Fragen an die Geschichte des Mittelalters verschiedene Aspekte nicht betrachtet. Dieser kurze historiographische Exkurs macht aber eben auch deutlich, dass jede Darstellung von Geschichte einen solchen Bias hat. Was eben bedeutet: Die Historiker:innen des 19. Jahrhunderts haben ganz andere Fragen interessiert als die Historiker:innen des 20. Jahrhunderts und als Historiker:innen heute – und es ist wichtig, sich dessen stets bewusst zu sein. Janina Ramirez kommt darauf auch immer wieder zurück, insbesondere dann, wenn sie die Frage stellt, warum so viele Aspekte des durchaus bunten mittelalterlichen Lebens heute nicht präsent sind.

Janina Ramirez stellt Frauen in den Mittelpunkt und schafft damit erhellende Ergänzungen zu den bisherigen Bildern vom Mittelalter. Dabei verfolgt sie keinen bilderstürmenden Furor, sondern sie zeigt auf, wie das Leben im Mittelalter eben auch war, welche vielfältigen Rollen Frauen einnehmen konnten und dass starre Geschlechterrollen auch im Mittelalter durchaus aufgebrochen worden, dass es auch im Mittelalter Menschen gab, die wir heute wohl als queer bezeichnen würden. Dabei vermeidet sie ahistorische Zuschreibungen, sie arbeitet immer quellennah und macht Lücken deutlich, wo sie vorhanden sind. Das ist Geschichtsschreibung at its best.

Besonders reizvoll finde ich Ihre Verknüpfung der Lebensgeschichten dieser Frauen mit ihrer Rezeption und vor allem immer auch mit der Entdeckungsgeschichte – seien es archäologische Funde, zufällig entdeckte Schriften oder auf abenteuerlichen Wegen gerettete Handschriften.

Dabei hat sie eine Fähigkeit, die ich an Geschichtswerken besonders schätze: Sie kann erzählen. Gerade die deutsche Historiktradition stellt diese Fähigkeit nicht in den Vordergrund, es ist wohltuend, dass die angelsächsische Tradition hier anders vorgeht. Janina Ramirez hat ein großes Erzähltalent und setzt es gut ein, um ein wirklich und im wahrsten des Wortes lebendiges Bild des Mittelalters zu zeichnen.

Ich kann das Buch uneingeschränkt empfehlen – und zwar sowohl jenen, die sich bisher nicht intensiv mit dem Mittelalter beschäftigt haben, als auch jenen, die den Eindruck gewonnen haben, bereits alles zu wissen. 🙂

Zum Instagram-Account von Dr. Janina Ramirez

Buch-Details:
Femina : eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen [OT Femina: A New History of the Middle Ages, Through the Women Written Out of It] von Janina Ramirez ; aus dem Englischen von Karin Schuler. Aufbau-Verlag Berlin, 2023, 516 Seiten. ISBN 978-3-351-04181-6. auch als eBook erhältlich.

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Juneau Black: Mord in Shady Hollow

Cover des Buches

Juneau Black zeichnet eine kleine, recht abgeschlossene Gemeinschaft im Wald, die autark funktioniert und in der jedes Tier seine Aufgabe hat, die häufig mit den jeweiligen tierischen Eigenschaften assoziiert sind. Es gibt missmutige Kröten, neugierige Füchse und tapsige Bären.

 Alle leben mehr oder weniger harmonisch zusammen. In diese naive Gemeinschaft bricht nun die Nachricht eines Mordes ein und damit brechen so einige unter der Oberfläche gehaltene Konflikte aus. 

Menschliche Verhältnisse in Tiere zu projizieren ist eine sehr alte Erzähltechnik (die Fabel lässt grüßen). Dementsprechend hoch hängt die Latte, wenn hier neue Aspekte hinzugefügt werden sollen. Ich weiß nicht, ob Juneau Black diesen Anspruch erfüllen möchte – falls ja, wäre er aus meiner Sicht nicht gelungen. Denn es gibt hier keinen überzeugenden erzählerischen Grund, warum es sich bei den handelnden Personen um Tiere handelt – sie verhalten sich derart offensichtlich und vordergründig menschlich, der Ort ist so offenkundig und vordergründig menschlich (Sägewerk, Café, Zeitung…???), dass ich nur genervt war.

Hinzu kommt, dass es auch nicht gelingt, die Spezifika, die Tiere haben, in die Geschichte einzuweben – ganz im Gegenteil: Die Mühe, die entworfene Erzählidee in ein tierisches Setting zu platzieren, ist so sehr spürbar – bei mir schafft das ein ungutes Leseerlebnis.

Ursula Scheer verweist in ihrer Rezension in der FAZ auf Glennkill [btw: Unbedingt in der Lesung von Andrea Sawatzki anhören, ich kann das Wort Gerechtigkeit seither nicht mehr anders als geblökt hören] – allerdings nur mit dem Hinweis, dass es auch dort um Tiere ging. Dabei wäre gerade dieser Vergleich sehr ergiebig: Bei Leonie Swann sind die Schafe unzweifelhaft Schafe, sie leben in einem Schafsetting, reden über Schafthemen und haben Schafprobleme – der entscheidende Kniff bei Swann ist, dass sie unterstellt, sie wären zu ähnlichen Erkenntnisprozessen fähig wie Menschen. In Shadow Hollow hingegen ist der ungeschickte Dorfpolizist ein sehr typischer ungeschickter Dorfpolizist – und nur zufällig ein Bär. Der stinkreiche Fabrikbesitzer ist ein sehr typischer stinkreicher Fabrikbesitzer nebst sehr typischem Familienanhang – und nur zufällig handelt es sich um Biber – usw. Die Lebenswelt dieser Tierchen ist ja nicht einmal maskiert, es wirkt völlig überflüssig, diese Geschichte in einem solchen Setting zu erzählen. Außer halt, weil man nicht den drölfzigsten Das kleine Café in [beliebiger touristisch relevanter Ort] – Krimi schreiben möchte. Tatsächlich aber unterscheidet lediglich die Dichte der auf den Protagonist:innen aufzufindenden Haare diesen Krimi von allen anderen.

Mich hat das leider überhaupt nicht überzeugt.

Buchdetails:
Black, Juneau: Mord in Shadow Hollow : ein Waldtier-Krimi [OT: Shady hollow: a murder mystery]. aus dem Englischen von Barbara Ostrop. Deutsche Erstausgabe, Rowohlt Taschenbuch Verlag Hamburg 2024. 282 Seiten, ISBN 978-3-499-01356-0

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Monika Peetz: Sommerschwestern

Vier erwachsene Schwestern werden von ihrer Mutter in den idyllischen niederländischen Ort geladen, in dem die Familie einst ihre Sommerurlaube verbrachte. Nicht nur der Ort war idyllisch, auch die verbrachte Zeit schien eine reinste Idylle zu sein – die Abwesenheit des Allltags überdeckte die Schwierigkeiten des Zusammenlebens der Geschwister und so enstand dann das Wort von den Sommerschwestern. Die Idylle endete abrupt, als der Vater bei einem Unfall am Urlaubsort stirbt.

Seither ist viel Zeit vergangen, die Geschwister sind jede ihre eigenen Wege gegangen. Die Einladung der Mutter an den Kindheitsort, die einen Hinweis auf den Anlass vermissen ließ, irritiert die Schwestern naturgemäß und jede hat so ihre eigene Idee, was dahinter stecken könnte. Mehr sei nicht verraten, der Roman ist nicht wirklich plot-getrieben und es wäre unfair, hier weiter vorzugreifen.

Als ich diese Rezension vor vielen Monaten begann (sie blieb dann liegen – mir war irgendwie nicht nach Bloggen), war der Roman bereits ein veritabler Bestseller und inzwischen sind bereits mehrere weitere Titel mit den Protagonistinnen erschienen. Diese Tatsache ist für mich denn auch das wirklich spannende an dem Roman. Denn: Die Figuren entwickeln sich praktisch gar nicht, sie sind reißbrettartig typisiert – und das große Geheimnis ist weder überraschend noch treibt es die Geschichte entscheidend voran. Doch Bestseller entstehen nicht willkürlich – sie müssen irgendetwas treffen. Fast planbare Faktoren sind da beispielsweise die Prominenz der Autor:innen oder die Skandalträchtigkeit des Inhalts (letzteres ist freilich wenig nachhaltig – sowas nutzt sich extrem schnell ab und die geradezu notwendige Spirale ist kaum geeignet, eine lange Autor:innenkarriere zu begründen).

Bei Monika Preetz muss es aber etwas anderes, etwas werkimmanentes sein. Und es treibt mich aus beruflichem Ehrgeiz um, dass es mir schwer fällt, dieses „etwas“ zu erkennen. Der Roman ist gefällig geschrieben, ich habe ihn auch gerne bis zum Ende gelesen. Das liest sich gut weg, ich hatte nie das Gefühl, der Geschichte nicht folgen zu können oder wegen emotionaler Erschütterung inne halten zu müssen. Ein ganz klassischer Sommerroman, das ruft geradezu nach Strandkorb, Sonne und Seele baumeln lassen. Aber warum schlägt gerade dieser Roman so ein? Warum sind die Sommerschwestern so erfolgreich, dass daraus eine Bestseller-Reihe wurde?

Ich weiß es nicht. Und so bleibt mir nur zu konstatieren, dass es Monika Preetz offenkundig gelingt, an Lebenserfahrungen anzuschließen, mit denen sich viele Leser:innen identifizieren können und die mir verschlossen bleiben.

Buchdetails:
Monika Preetz: Sommerschwestern. Roman. Kiepenheuer & Witsch Köln 2022, 304 Seiten, ISBN 978-3-462-00212-6, 16 €, als ebook 9,99 €, als Audio-CD 10 €
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David Mitchell: Utopia Avenue

Die Generation des Summer of Love, die in den späten Sechzigern jung waren, gilt heute nicht mehr als eine Generation, die aus dieser Welt einen besseren Ort machen möchte (Stichwort Boomer). Sie ist die Generation, gegen die die heutige Jugend aufbegehrt.

Das tut sie zu Recht, wie jede andere Jugendgeneration vor ihr – und möglicherweise sogar mit noch größerer Berechtigung. In Utopia Avenue erzählt David Mitchell die Geschichte einer Band, die sich aus dem Londoner Untergrund der späten Sechziger an die Spitze der weltweiten Charts arbeitet. Es ist die Zeit nach dem Hippie-Sommer, musikalisch wird viel experimentiert, die Labels sind auf der Suche nach der nächsten Erfolg versprechenden Musikströmung.

Die vier kongenialen Bandmitglieder werden von einem findigen Manager entdeckt, zusammengebracht und mit dem notwendigen Glück tatsächlich zum Erfolg geführt. Es ist ein kurzer Höhenflug, nicht einmal zwei Jahre sind der Band vergönnt, nur zwei Alben erscheinen. Das ist keine sehr unwahrscheinliche Geschichte in dieser kometenreichen Zeit des Popmusikgeschäfts.

David Mitchell hatte im von Bryan Adams besungenen Sommer wahrscheinlich noch keine six-string, denn er wurde im fraglichen Jahr ja erst geboren. Es handelt sich also – und das erscheint mir wichtig – um kein Erinnerungsbuch. Hier versucht nicht ein alter Mann seine Jugend wiederaufleben zu lassen, als er noch viril war und überhaupt – naja, ihr kennt diese Art Literatur…

Nein, Mitchell gelingt in diesem Roman eine mitreißende Erzählung von Träumen und Alpträumen, von Aufstieg und Absturz – vor allem aber von Musik. Seine vier Bandmitglieder, jedeʔr mit eigenen Dämonen kämpfend, sind überzeugend gestaltete Persönlichkeiten. Es lässt sich bei ihrem Aufstieg nicht vermeiden, dass sie (Pop-)Größen ihrer Zeit begegnen. Das ist dann amüsant und gelungen, wenn sie eher beiläufig geschehen – wie die Szenen mit dem jungen David Bowie, der ihnen in Kabelträgerjobs begegnet und von seinen Lebensträumen erzählt. Enervierend wird es allerdings, wenn sie auf der Höhe ihres Ruhmes immer noch jedes Mal aus dem Häuschen geraten, weil sie Zappa, Joplin oder Lennon begegnen. Vor allem aber wirken die so Porträtierten sehr gekünstelt – Mitchells Stärke, seine Protagonistʔinnen glaubwürdig zu zeichnen, verlässt ihn hier angesichts der Notwendigkeit, die Promis mit ihren überlieferten Bildern in Einklang zu bringen. Gerade diese Begegnungen verdeutlichen sehr stark, warum es eine kluge Entscheidung war, die Geschichte einer fiktiven Band zu erzählen.

Die ganz große Stärke liegt aber in der Beschreibung der Musik von Utopia Avenue. Jaspers Gitarrenriffs, Deans Bassläufe, Elfs Pianostücke und Gesangsparts, Griffs Schlagzeugspiel, der ganze Sound dieser Band – es wird so lebendig in Mitchells Worten. Wenn er Konzerte schildert, habe ich das Gefühl, dabei zu sein, in die Stimmung einzutauchen, ja, die Musik und das Publikum geradezu zu spüren.

Es sind diese athmosphärischen Bilder, die den Roman besonders machen und über die Schwächen des Plots und der erwähnten Begegnungen mit Zeitgrößen hinweghelfen. Und ja, ich habe mir am Ende gewünscht, es hätte diese Band wirklich gegeben. Diese Band großartiger Musikerʔinnen, die zusammen etwas schaffen, das die Zeit überdauert, die einem sexistischen Fernsehmoderator das Studio zerlegen, die mit ihrer Musik reifen und wachsen. Ja, ich hätte furchtbar gerne ihre Musik gehört und so ließ mich die Lektüre am Ende etwas wehmütig zurück.

Jedenfalls werde ich jetzt erstmal meine Cream-CDs raussuchen und mich in eine andere Zeit und Welt tragen lassen.

Buchdetails:
David Mitchell: Utopia Avenue. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt Hamburg 2022, 747 Seiten, ISBN 978-3-498-00227-5, 26 €, als ebook 19,99 €
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