Asako Yuzuki: Butter

Eine Journalistin interviewt eine angeklagte Mehrfachmörderin, die daraufhin auf unheimliche Weise Leben beeinflusst. Klingt wie das Setting eines Psychothrillers. Ist es aber eher nicht.

Rika, Journalistin in Tokyo, bekommt die Gelegenheit, exklusiv mit Manako Kajii sprechen zu dürfen. Diese sitzt gerade im Gefängnis, angeklagt wegen mehrerer Tötungsdelikte. Ihr Fall hat große Aufmerksamkeit erregt – zum einen, weil die Täterin eine Frau ist. Und zum anderen wegen der besonderen Umstände. Die toten Männer standen alle in enger Beziehung zu ihr. Im Mittelpunkt stand dabei offenbar weniger unmittelbares sexuelles Verlangen, sondern Kajiis Kochkünste und ihre Fähigkeit, eine heimelige Wohlfühlathmosphäre zu schaffen. Ehe die Männer starben, hatten sie sich für Manako Kajii gründlich finanziell verausgabt. Alles an ihr wird damit zum Skandal: Ihr Aussehen, ihr Auftreten, ihre Aussagen.

Was sich daraufhin aus den Dialogen zwischen Rika und Manako entwickelt, ist die Geschichte einer Emanzipation. Manako Kajiis provokante Weltsicht fordert Rika heraus. Im Versuch, zum Kern von Manako durchzudringen, wird sie immer tiefer in deren Netz gezogen. Bis hin zu Erfahrungen brutaler Gewalt.

Und sie stößt schnell an die engen Grenzen der gesellschaftlich akzeptierten Verhaltensweisen von Frauen. Von Fragen des Genusses, der Sexualität bis zum Aussehen. Nahezu jedes Gramm wird misstrauisch beäugt, auch und gerade von ihrem Lebenspartner, der permanent das Gegenteil beteuert – doch ganz genauso intensiv von ihrer besten Freundin.

Im Bestreben, sich aus dem Netz und dem Einfluss von Manako Kajii zu befreien, befreit sich Rika ebenso von den Fesseln einer zutiefst patriarchalen Gesellschaft, deren Macht weniger roh und offensichtlich ist, sondern die unter der Oberfläche wirkt, dafür aber um so intensiver und nachhaltiger.

Asako Yuzuki zeigt hier sehr eindrücklich, wie die zutiefst verinnerlichten Regeln und Einflüsterungen selbst von den sich selbst als emanzipiert beschreibenden Frauen befolgt und durchgesetzt werden. Und das alles vor dem Hintergrund von sinnlichem Genuss scheinbar einfacher Speisen. Yuzukis Beschreibungskraft und Intensität sind ein echte Höhepunkte dieses Buches. Und so wie Rika ein reduziertes Gericht wie guten, intensiv schmeckenden Reis mit guter Butter zur Perfektion treibt, so ist es auch Asako Yuzukis Fähigkeit, Reduktion und Perfektion zu verbinden, die diesen Roman zu einem ganz besonderen, intensiven Erlebnis macht.

Buchdetails:
Asako Yuzuki: Butter. aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Blumenbar Berlin 2022. ISBN 978-3-351-05098-6. Gebunden, 442 Seiten, 23 €, als ebook 16,99 €
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Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt

Umschlagabbildung zu Die Wut, die bleibt von Mareike Fallwickl

Helene, Mutter dreier Kinder, steht eines Tages vom Abendbrottisch auf, geht zum Balkon und stürzt sich in die Tiefe. Ihre Freundin Sarah will den Hinterbliebenen helfen und findet sich unversehens in Helenes Rolle wieder – obwohl sie das nie wollte.

Sarah möchte in dieser Krisensituation helfen – aus der lebenslangen Freundschaft zu Helene heraus, aus Zuneigung zu diesen Kindern, deren ältestes, Lola, sogar einst Teil ihrer Wohngemeinschaft war. Und schließlich, weil man Menschen eben in einer solchen Situation nicht hängen lässt.

Dass damit eine Falle zuschnappt, dass sie ganz selbstverständlich in einer Rolle gelandet ist, die sie weder wollte noch ihr zusteht und die ihr nur aus einem einzigen Grund zugewiesen wird, weil sie eine Frau ist, wird ihr bald klar. Weniger klar allerdings ist ihr der Weg, dort wieder herauszukommen. Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate und es droht die Jahresfrist. Begleitet wird in ihrem Geist von einer Manifestation Helenes, die sie spöttisch beobachtet, ihr Fragen stellt, die befreit wirkt.

Helenes hellsichtige Tochter Lola ist nicht bereit, sich den Erwartungen an ihre Rolle zu beugen. Sie liest feministische Literatur, weiß um die Wirkmechanismen des Patriarchats und mit der Intensität jugendlicher Überzeugungen konfrontiert sie Sarah und alle anderen Menschen in ihrer Umgebung mit ihrer Sicht auf die Welt. Klar, überzeugt und analytisch scharf. Doch erst eine Schlüsselsituation, in der sie sich hilflos männlicher Gewalt ausgesetzt sieht, bringt sie zur Tat. Sie ist nicht länger bereit, das Unrecht tatenlos hinzunehmen und die Gewalt männlichen Tätern zu überlassen, die mit ihren Taten unbehelligt ihre Leben weiterleben.

Ein Schlüsselement dafür wird das Teilen von Erfahrungen, von Erlebnissen wie sie nur Frauen (oder als Frauen gelesene Personen) haben – und die sie alle gemacht haben. Daraus speist sich Lolas Wut und es wird eine unglaubliche Energie frei dabei. Das Ende des Schweigens der Frauen wird auch Lola und Sarah helfen, einander zu verstehen und es ist der Motor ihrer Emanzipationsgeschichte. Je weiter diese voranschreitet, desto seltener tritt Helene in Erscheinung.

Mareike Fallwickls Roman hat bei mir massiven Eindruck hinterlassen. Was für eine Kraft, was für eine Wucht steckt in diesem Befreiungsschrei von einem Roman!

Es ist mit Sicherheit eine der aufwühlendsten, beeindruckendsten Lektüreerfahrungen mindestens der letzten Jahre, wenn nicht überhaupt meiner ganzen Lesebiographie. Da sind so viele Aspekte, die mir auch erst jetzt im Nachgang erst klar werden. Ich werde noch lange damit zu tun haben.

Buchdetails:
Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Rowohlt Hundert Augen Hamburg 2022, 377 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-498-00296-1, 22 €, als ebook 15,99 €
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Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht

Umschlagabbildung zu Alina Bronsky, Barbara stirbt nicht

Herr Schmidt kommt gut zurecht im Leben. Alles geht seinen ordentlichen Gang, seine Welt als Wille und Vorstellung ist in Ordnung. Bis eines Tages seine Frau Barbara nicht mehr aufsteht.

Plötzlich ist Herr Schmidt mit Fragen und Problemen konfrontiert, denen er sich zuvor nicht stellen musste. Essen kochen, Wohnung reinigen, Einkaufen, soziale Kontakte pflegen…

Nach anfänglichem Scheitern an diesen Hürden widmet er sich mit einem unerschütterlichen Glauben an seine Lernfähigkeit und einer beeindruckenden Fähigkeit, unbeirrbar alles zu ignorieren, was ihm unverständlich und unnötig vorkommt, den neuen Herausforderungen seines Alltags.

Alina Bronsky schafft hier einen Helden, dessen Verhalten auf andere brüsk, zurückweisend, unempathisch wirken muss. Er ist völlig unempfänglich für Zwischentöne einer Kommunikation – sei es mit seinen Kindern, Nachbar:innen oder Ärzt:innen, die sich um Barbara sorgen, nach ihr erkundigen, gemeinsame Aktivitäten oder Besuche vorschlagen. Er hat diese Art Gespräche zuvor nie geführt, kennt ihre Regeln nicht. Und genau so, wie er nicht versteht, wird er auch nicht verstanden. Denn Herr Schmidt ist weder lieblos noch unempathisch. Das wurde mir zumindest beispielsweise sehr deutlich, als er mit großer Akribie versucht, Barbaras Lieblingsgericht in Perfektion zuzubereiten. Da ist eine große Menge Liebe in diesem Menschen, er hat es nur nie gelernt, diese auch nur annähernd adäquat zu äußern. Oder sie bei anderen wahrzunehmen.

Es steckt sehr viel Tragik in dieser Figur, in seiner beharrlichen Weigerung, Barbaras Zustand zu akzeptieren, darin, wie er sich immer weiter in die Perfektionierung der Essensversorgung steigert, je schlechter es Barbara geht. Seinen Glaubenssatz, sie müsse nur wieder ordentlich essen, dann ginge es ihr wieder besser und sie stünde wieder auf, hält er immer verzweifelter aufrecht – ohne sich selbst freilich seine Verzweiflung einzugestehen.

Dadurch entstehen naturgemäß hochgradig absurde Szenen, die dadurch sehr komisch wirken können. Beispielsweise, wenn er Facebook-Kommentare nicht nur wortwörtlich nimmt, sondern sich auch noch die Mühe macht, auf jeden einzelnen zu antworten. Da entstehen großartige Gesprächsfäden, die durchaus ein Kapitel in Lehrbüchern über gescheiterte Kommunikation verdienen. Aber mir blieb trotz allem häufig das Lachen im Hals stecken, weil ich gleichzeitig Herrn Schmidts Leiden gesehen habe – und das Leid, das er ungewollt über andere bringt.

Buchdetails:
Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht. Kiepenheuer & Witsch Köln 2021, 256 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-462-00072-6, 20 €, als ebook 14,99 €
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Kira Jarmysch: DAFUQ

Umschlagabbildung zu Kira Jarmysch, Dafuq

Anja wird zu 10 Tagen Arrest verurteilt. Sie hatte einen Aufruf für eine Anti-Korruptionsdemo geteilt. Einen Großteil des Arrests verbringt sie mit fünf anderen Frauen in einer Zelle.

Dass Anja, ehemals Kandidatin für die Arbeit im Außenministerium, noch immer an ein funktionierendes Rechtssystem glaubt, zeigt sich bereits zeitig, als sie tatsächlich meint, mit einer Beschwerde gegen das Urteil etwas erreichen zu können. Stattdessen lernt sie in den zehn Tagen ihrer Arrestzeit, wie sehr sie der Willkür der Machthabenden ausgesetzt ist – und sei es nur die Macht über die Suppenkelle, mit der bestimmt wird, wessen Portion wie groß ist.

Kira Jarmysch zeichnet das Porträt einer Gesellschaft, in der alle versuchen, sich irgendwie zu arrangieren. Nichts stößt auf so viel Unverständnis wie Anjas Engagement gegen Korruption, überhaupt ihr Eintreten für politische Veränderungen. In ihrer Schicksalsergebenheit, ihrem Glauben daran, sowieso nichts ändern zu können, erinnern ihre Protagonist:innen an zahlreiche Vorbilder in der russischen Literatur.

Es ist faszinierend, wie alle ihre eigenen Erfahrungen mit Ungerechtigkeiten, Ausnutzung, Gewalt, Übergriffen, Diskriminierung machen – und die Idee des Aufbegehrens aber nicht aufkommt. Stattdessen finden Anjas Zellengenossinen ihre eigenen Wege, mit der gegebenen Welt umzugehen und ihre Vorteile zu finden.

Die Gespräche der Frauen miteinander sind – bei aller Rauheit im Ton – geprägt von Verständnis und im engen Rahmen, den der Arrest bietet, unterstützen sie sich gegenseitig, decken sich, schlagen den Wächtern Schnippchen oder manipulieren sie oder Mithäftlinge zu ihren Gunsten.

Kira Jarmysch schafft es dabei, ihre Heldinnen mit all ihren Eigenheiten und Schwierigkeiten, manchmal auch Abgründen, sympathisch und lebendig zu zeichnen.

Mir wurde sehr deutlich, warum es keine wirksame, öffentlich sichtbare Widerstandsbewegung gibt: Viele Menschen sind schlicht damit beschäftigt, irgendwie durch ihr Leben durchzukommen – auffallen ist dann gefährlich.

Es dürfte schwer fallen, diesen Roman zu lesen ohne die Biographie der Autorin zur Kenntnis zu nehmen. Aber es lohnt sich.

Buchdetails:
Kira Jarmysch: DAFUQ [OT Невероятные происшествия в женской камере № 3], übersetzt von Olaf Kühl, Rowohlt Berlin 2021, 412 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-7371-0140-0, 22 €, als ebook 14,99 €
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Anne Bandel: Von oben fällt man tiefer

Umschlagabbildung zu Anne Bandel, Von oben fällt man tiefer

Theophil Kornmeier hat ein unverarbeitetes Trauma: Sein Bruder stürzte bei einer Alpenwanderung vor seinen Augen ab und starb. Irgendwo zwischen Überlebensschuld und der nagenden Frage, ob er nicht vielleicht doch selbst – bewusst, unbewusst? – Schuld daran war, irrlichtert sein Geist unruhig hin und her. Und so versucht er nun in einem letzten Therapie-Versuch, dadurch Ruhe zu finden, dass er den Wanderweg E5 durch die Alpen entlangwandert. Einige Stücke alleine, einen großen Teil des Weges aber in Begleitung einer Wandergruppe.

In grandioser Selbstüberschätzung macht er sich also – weitgehend untrainiert und nur unzureichend vorbereitet (was soll an Wandern schon schwierig sein?) auf den Weg zur Erlösung.

Um mit anderen Menschen viel Zeit zu verbringen und gemeinsam Herausforderungen zu bewältigen, könnte es hilfreich sein, die Anwesenheit anderer Menschen nicht als Zumutung zu empfinden. Das wird auch Anne Bandels Protagonisten sehr schnell klar. Dass alle Mitglieder der Wandergruppe ihre ganz eigenen Probleme haben und diese mittels einer Alpenwanderung zu lösen gedenken, sorgt für eine turbulente Wanderung, bei der neben etlichen zwischenmenschlichen Missverständnissen und Irrungen Tag für Tag auch noch die Anzahl der Gruppenmitglieder dezimiert wird.

Anne Bandel nimmt in ihrem Wander-Krimi etliche menschliche Schwächen aufs Korn und ihre satirische Überzeichnung der Figuren hat einen erheblichen Reiz. Eine besonders hübsche Idee finde ich dabei, die Wandergruppe unverdrossen weiterwandern zu lassen, obwohl doch offenkundig ist, dass ein Mörder mitläuft. Der ganze Roman ist tatsächlich recht unterhaltsam, fordert nicht zu sehr heraus – und bei all den Sticheleien und Fiesheiten, die sich die Protagonist:innen gegenseitig antun, bleibt die Frage nach dem Mörder tatsächlich eher nebensächlich. Spannender ist da schon eher, wie sich die einzelnen Figuren von ihren inneren Fesseln und Illusionen befreien und so zumindest für die Überlebenden sich ganz neue Perspektiven eröffnen. Ein unterhaltsamer Roman im besten Sinne.

Buchdetails:
Anne Bandel: Von oben fällt man tiefer. dtv München 2022, 272 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-423-21992-1, 10,95 € als ebook 4,99 €
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Emi Yagi: Frau Shibatas geniale Idee

Umschlagabbildung von Frau Shibatas geniale Idee von Emi Yagi

Frau Shibata, 34, Angestelle in einer Tokyoter Firma, ist stillschweigend und unausgesprochen dafür zuständig, dass der Kaffee frisch, die Blumen ansehnlich und die Geburtstage der Angestellten unvergessen sind. Dafür ist sie zwar gar nicht angestellt worden, aber schließlich ist sie ja die Frau hier.

Die Ignoranz ihren Fähigkeiten und Leistungen gegenüber will sie eines Tages nicht mehr hinnehmen. Sie verfällt eines Tages auf den Gedanken, eine Schwangerschaft zu behaupten. Und plötzlich wird sie sehr zuvorkommend behandelt, all die ungeliebten Tätigkeiten kann sie von sich weisen – und das wird sehr verständnisvoll aufgenommen. Ohne die angebliche Schwangerschaft wohl kaum denkbar.

Sie besorgt sich eine Schwangerschafts-App, besucht eine Schwangerschaftsgruppe und durchlebt so tatsächlich die Schwangerschaftszeit mit allen bekannten Symptomen.

Emi Yagi beschreibt Frau Shibatas Weg so genau und überzeugend, dass mir während der Lektüre Zweifel kamen, ob die Schwangerschaft wirklich nur vorgetäuscht ist – insbesondere zum unweigerlich ja bevorstehenden »Tag der Wahrheit« hin, wurde ich immer unsicherer, so sehr geht Frau Shibata in ihrer Rolle auf, so intensiv erlebt sie die Zeit mit den anderen Schwangeren, beschreibt sie körperliche und psychische Veränderungen, macht sie sich Gedanken über die Zeit mit dem Kind.

Auf herrlich unverkrampfte Art entlarvt Emi Yagi zutiefst verankerte patriarchale und misogyne Denk- und Lebensstrukturen der (japanischen) Gesellschaft, die nicht nur die Männer prägen. Es macht sehr viel Spaß, Frau Shibata bei der Verwirklichung ihrer »genialen Idee« zu begleiten.

Buchdetails:
Emi Yagi: Frau Shibatas geniale Idee [OT Kūshin techō], übersetzt von Luise Steggewentz. Atlantik Verlag Hamburg 2021, 204 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-455-01259-0, 21 €, als ebook 14,99 €
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Katerina Poladjan: Zukunftsmusik

Umschlagabbildung von Zukunftsmusik von Katarina Poladjan

Chopins Trauermarsch tönt aus den Radios an diesem Tag im März 1985. Die Symbolik ist den Protagonist:innen dieses Romans vertraut – in Moskau ist wohl mal wieder jemand gestorben. Wahrscheinlich ein Generalsekretär, aber so ganz sicher ist man sich da nicht. Über allen und allem schwebt denn auch die mehrfach ausgesprochene Frage, was denn nun wohl werden werde.

Die Kommunalka im fernen Sibirien (Moskau ist weit…) und hier insbesondere die Vier-Generationen-WG aus Janka, ihrer Tochter, ihrer Mutter und ihrer Großmutter dienen Katerina Poladjan als Brennglas für ein Gesellschaftsportrait. Für das Portrait einer Gesellschaft, deren Regeln schon lange hohl geworden sind, die zwar scheinbar noch wirken und gelten, deren Sinnhaftigkeit aber selbst von ihren Verfechtern nicht mehr verteidigt wird. Es ist nur ein Tag im Leben dieser Menschen, den wir begleiten, der aber umso dichter wird, je mehr Katerina Poladjan den Blick nach innen öffnet, in die Gedanken- und Gefühlswelt ihrer Protagonist:innen, in ihre Vergangenheit und ihre Sehnsüchte.

Mich hat besonders ihre Sprache eingenommen, die Präzision, mit der sie Erlebnisse und Eindrücke beschreibt, die sie auch in diffusen, scheinbar magischen Momenten nicht verlässt. Es ist ihre Genauigkeit, die nachfühlen lässt, wie sich eine Zeitenwende anfühlt, von der keine:r weiß, dass sie eine Zeitenwende ist. Mich hat es sehr begeistert, wie sie sie für jede Figur eine eigene Sprache findet und sie so lebendig werden lässt. Großartig.

Buchdetails:
Katerina Poladjan: Zukunftsmusik. S. Fischer Frankfurt am Main 2022, 185 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-10-397102-6, 22 €, als ebook 18,99 €
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C Pam Zhang: Wie viel von diesen Hügeln ist Gold

Umschlagabbildung von Wie viel von diesen Hügeln ist Gold von C Pham Zhang

Lucy und Sam sind unterwegs durch die Prärie gen Westen. Mit dabei haben sie eine alte Kiste mit dem Leichnam ihres Vaters, den sie begraben wollen – doch dafür fehlen ihnen zwei Silberdollars.

C Pam Zhang erzählt die Geschichte des Geschwisterpaars als Reise durch ein Land, in dem Vertrauen gefährlich ist und die Liebe sich versteckt. Das wäre noch nicht sehr bemerkenswert, solche Erzählungen aus dem »Wilden Westen« sind Legion.

Doch diese vordergründige Erzählung ist nur die Folie, vor der sie ein ganzes Panorama an Geschichten öffnet, Geschichten um skrupellose Geschäftsleute, die die Träume und Sehnsüchte von Einwanderern ausnutzen. Geschichten von degradierten Menschen, die bestenfalls als Material betrachtet werden und im Zweifelsfall als Sündenböcke für gescheiterte Lebensentwürfe herhalten müssen. Geschichten von zerbrochenen Identitäten, von familiärer Gewalt, von Verzweiflung, Depression und der unstillbaren Sehnsucht danach, einen Platz in dieser Welt zu finden und sei es unter Verleugnung der eigenen Herkunft und Biographie.

Sie erzählt in einer mitreißenden, sprachmächtigen Intensität, die einen Sog erzeugt, dem ich mich gerne hingegeben habe. C Pam Zhang Protagonist:innen bleiben alle nicht frei von Schuld, manche begehen schreckliche Taten und doch gelingt es ihr, sie in ihrer Komplexität und ihrer Geworfenheit in eine Welt, die ihnen überall mit Ablehnung und Hinterlist begegnet, so zu zeichnen, dass es mir unmöglich war, nicht mit ihnen zu fühlen, nicht zu verstehen, was sie antreibt.

Buchdetails:
C Pam Zhang: Wie viel von diesen Hügeln ist Gold [OT: How Much of These Hills is Gold], übersetzt von Eva Regul. S. Fischer Frankfurt am Main 2021, 347 Seiten, gebunden. 22 €, als ebook 14,99 €
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