Zirkus Sarrazini

Es ist ja alles nicht so einfach. Die Kollegen und Kolleginnen in der geneigten Leserschaft werden mir stoßseufzend zustimmen (übrigens gibt es für Stoßseufzer auch kaum einen besseren Tag als den heutigen): Kunden, die sich einen Buchtitel, einen Autor oder die Farbe des Umschlags korrekt gemerkt haben, sind selten.* Und natürlich sind immer die doofen Buchhändler schuld (was übrigens sehr unfair ist, denn ein wenig Sachkenntnis und flexibles Denken gehört schon dazu, aus der Kundenanfrage “Guten Tag, ich suche das Buch ‘Der Kampf'” auf diesen Titel zu kommen). Jedenfalls hieß das Buch “Deutschland schafft sich ab” bereits nach wenigen Tagen intern nur noch das “Zirkusbuch”, seit der erste Kunde nach dem “Buch von dem Sarrasini” fragte. Ich habe mich persönlich ja sehr zeitig aus der entstehenden Debatte verabschiedet. Zum einen, weil ich nicht bereit bin, mit jemandem zu diskutieren, der sich seine “Fakten” einfach ausdenkt. Zum anderen, weil die Debatte kaum diese Bezeichnung verdiente. Mir fiel es schwer, in diesem Themenkomplex die Contenance zu wahren, weil es gar zu viel war, worüber ich mich aufregen müsste – was meiner Hausärztin wohl nicht gefallen hätte.
Glücklicherweise gibt es aber Menschen mit stärkeren Nerven. Und so sei auch heute wieder auf ein anderes Blog verwiesen. Der zum Bookmarken empfohlene Gregor Keuschnig analysiert sehr genau, sehr tiefgründig und sehr unaufgeregt Sarrazins Machwerk, die anschließende Debatte, warum er eigentlich gelesen wird und überhaupt alles drumherum.

Oder anders: Ein Beitrag, der in meinen Augen unbedingt der maßgebliche Text zum Thema werden sollte.

Zur Lektüre bitte hier entlang.

Und zur Belohnung fürs Lesen gibt es auch noch ein Video:


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*Bei der Gelegenheit noch ein Hinweis in eigener Sache: Neben der durchaus merkwürdigen Funktion, die Suchanfrage nach Umfang einzuschränken, kann bei Lehmanns inzwischen auch nach Coverfarbe gesucht werden – dies als freundlicher Hinweis für die KollegInnen, mir hat das bereits einige Male geholfen, denn glücklicherweise muß die Farbe nur beinhaltet sein und nicht dominieren, was ja meist das Hauptproblem bei der beliebten Anfrage: “Ich weiß nicht mehr, wie das Buch oder der Autor hieß. Aber es war grün.” ist. Zum Ausprobieren bitte hier entlang. Funktioniert recht gut und wird sicher immer besser, je weiter die Datenbank verbessert wird (Wir haben ja gerade erst gerelauncht. 😉 )

Das wird man ja mal noch sagen dürfen.

Die Geschichte der Meinungsfreiheit ist eine Geschichte voller Mißverständnisse. Eines der aktuell bevorzugten Mißverständnisse beruht darauf, daß offenbar viele annehmen, Meinungsfreiheit bedeute, die eigene Meinung unwidersprochen äußern zu dürfen.
Das bedeutet sie eben nicht. Meinungsfreiheit bedeutet eben auch die des Andersdenkenden und als Bestandteil einer mehr oder weniger offenen Gesellschaft gehört der Austausch von Argumenten, der Meinungswettstreit zu dieser Freiheit dazu. Welchen Zweck sollte sie auch sonst haben? Wer Selbstbestätigung will, kann sich ja vor einen Spiegel stellen. Natürlich kann niemand dazu gezwungen werden, tatsächlich über Einwände nachzudenken oder gar sich von Tatsachen verwirren zu lassen, mithin also schlicht auf der eigenen Sicht der Dinge zu beharren, ganz egal, ob das Sinn macht – es entspricht aber nicht unbedingt dem Konzept, auf dem die Idee der Meinungsfreiheit beruht.
Ich habe hier im Blog ja gelegentlich meiner Sorge Ausdruck gegeben, daß die sogenannte “Neue Rechte” mit ihren zum Teil subtilen Methoden massiv unterschätzt werden. Wie weit diese mit ihren Argumentationsstrukturen bereits im gesamtgesellschaftlichen Diskurs angekommen sind, ist der eigentlich erschreckende Befund der unsäglichen Sarrazin-Debatte. Einer der Kernpunkte ist nämlich die Behauptung, böse, von Althippies kontrollierte Systemmedien würden die Meinungsfreiheit untergraben, indem sie ein Meinungskartell bildeten, in dem nur eine bestimmte Denkrichtung erlaubt sei.
Der Applaus für Thilo S. von Rechtsaußen kam also keineswegs einfach nur deshalb, weil seine Thesen so schön ins Weltbild passen, sondern durchaus auch deshalb, weil er sich ganz hervorragend eignet, eben jene These vom Meinungskartell zu stützen. Daß jemand, der seit Jahren in nahezu allen Medien präsent ist, in den letzten Wochen eine Anwesenheitsliste in Fernsehtalkshows hatte, um die ihn so mancher beneiden dürfte, kurz: Der eine Bühne bereitet bekam, um seine Meinung ausgiebig kundzutun, daß dieser also in seiner Meinungsfreiheit beschnitten sein soll, scheint mir absurd. Noch viel absurder finde ich allerdings, daß das auch noch funktioniert.
Daher bin ich äußerst dankbar für diesen Kommentar Robert Misiks, der in die Kategorie: “Artikel, die ich geschrieben hätte, könnte ich so schreiben.” fällt.

Bitte weiterlesen.


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P.S. Mein Lieblingskommentar zu Sarrazin stammt immer noch von Ben Wettervogel, der nach einem Beitrag zum Thilo im Morgenmagazin das Wetter anmoderierte mit: “Morgen werden 17 Grad, das wird man ja wohl noch sagen dürfen.”