Chevy Stevens: Tief in den Wäldern

Cover-Abbildung zu Chevy Stevens, Tief in den Wäldern

Teenager Hailey hat schwere Schicksalsschläge hinter sich. Nach dem Unfalltod ihres Vaters ist sie Vollwaise und zieht bei ihrem Onkel ein. Dessen Familie scheint die wahr gewordene Vorstadtidylle zu sein: Häuschen, Hausfrau, Kind, Garten und der Vater ist Polizist – in welchem Umfeld sollte sie wohl besser aufgehoben sein und zur Ruhe kommen können als dort?

Doch schnell tun sich Abgründe auf, der scheinbar so makellose, umgängliche Polizist entpuppt sich als kontrollsüchtiger Manipulator, der offenbar die ganze Kleinstadt im Griff hat. Dass in der Umgebung regelmäßig junge Frauen spurlos verschwinden, macht es für die nach Selbstbestimmung und Freiheit suchende Hailey nicht einfacher, ihrem Vormund etwas entgegenzusetzen. Wohin sie auch geht – er scheint immer da zu sein. Nur mühsam gelingt es ihr, Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen oder zu halten – und als sie schließlich selbst verschwindet, eskalieren die Ereignisse.

Idyllische Kleinstädte als Orte des Grauens – das ist ein gängiger Topos in der Spannungsliteratur. Dementsprechend schwierig ist es, da eigene Akzente zu setzen, wenn nicht wiederholt werden soll, was schon tausendmal geschrieben und gesagt wurde.

[Wobei dagegen nichts zu sagen wäre, seit Jahrtausenden lieben es die Menschen, dieselben Geschichten immer wieder erzählt zu bekommen, es ist überhaupt nicht verwerflich, diesem Konzept treu zu bleiben. Und unter uns: Wer behauptet, als einziges Leseinteresse »das völlige Neuartige« zu haben, dem begegne ich mit großer Skepsis. Als ob niemand einfach mal eine Geschichte hören oder lesen möchte, ohne dabei der Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, auch nur ein Iota näher zu kommen. Irgendwann muss das Gehirn ja auch mal ausruhen und entspannen – und wobei ginge das besser als bei einer Geschichte, bei der wir sofort wissen, wer Gut und Böse sind und wie es ausgehen wird…]

Chevy Stevens erzählt aus verschiedenen Perspektiven, wobei die Erzählfäden sich immer wieder abwechseln, was eine reizvolle Spannung erzeugt, das hat mir sehr gefallen. Geradezu körperlich spürbar wird bei ihr die Athmosphäre von Cold Creek, dieser kleine Ort im Nordwesten Kanadas, in dem die einzigen Fremden die rastenden Trucker sind, wo jede:r jede:n kennt und jede:r von jede:m abhängig ist – mit dem geradezu allmächtigen örtlichen Polizeichef, der immer freundlich, immer jovial, immer verbindlich auftritt und doch jederzeit die Szenerie beherrscht. Diese gedrückte Stimmung, in der niemand frei zu atmen scheint, alle permanent auf der Hut sind, aber schicksalsergeben meint, dass dies so sein müsse und nichts gefährlicher wäre, als daran zu rühren: Das fängt Chevy Stevens hervorragend ein.

Es ist logisch, dass es dann die junge Hailey ist, die aufbegehrt, die ausbricht – sie, die keine Bindung mehr hat, die alles verloren hat und die ihre Ohnmacht erlebt, aber nicht bereit ist, sie hinzunehmen. Es hat mir sehr gefallen, dass hier einem scheinbar übermächtigen Schurken keine übermächtige Heldin gegenüber gestellt wurde. Sondern eine Jugendliche, die verzweifelt ist, aus ihrer Verzweiflung Mut schöpft, die aber auch nicht loslassen kann und die trotz allem Grenzen hat, die sie nicht überschreiten kann.

Es braucht eine Figur von außen, um diese geradezu gordisch verknotete Gemeinschaft auseinanderzutreiben und zu erlösen. Geübte Leser:innen werden von der Auflösung nicht überrascht sein, aber der Krimiplot steht – zumindest in meiner Lesart – hier auch nicht im Mittelpunkt. Sondern die vielfältig verwobenen Machtstrukturen, die Gewalt gegen Frauen ermöglichen und die Täter schützen.

Buchdetails:
Chevy Stevens: Tief in den Wäldern. Aus dem Englischen übersetzt von Maria Poets. Fischer Scherz Frankfurt am Main 2022. 461 Seiten, Paperback, 16 €, als ebook 4,99 €
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Hillary Rodham Clinton/Louise Penny: State of Terror

Umschlagabbildung zu State of Terror von Hillary Rodham Clinton und Louise Penny

Die überraschend von ihrem ärgsten Rivalen, dem frisch vereidigten neuen Präsidenten, ins Amt berufene neue Außenministerin der USA scheitert auf ihrer ersten Auslandsmission grandios. Statt eines Abkommens bringt sie nur dreckige Schuhe mit nach Washington.

Doch statt einer medialen Hinrichtung wird ihr überraschend Sympathie entgegen gebracht, was im Präsidentenbüro zerknirscht zur Kenntnis genommen wird. Doch sehr schnell spielen derlei Ränke keine große Rolle mehr: Eine Serie von Anschlägen in Europa stürzt die westliche Welt in eine nie dagewesene Krise und plötzlich ist die USA als Führungsmacht gefragt – eine Rolle, aus der sie sich in der vorigen Amtsperiode verabschiedet hatte. Und mittendrin: Die neue Außenministerin.

Der Thriller beginnt mit einem hohen Erzähltempo, wir werden schnell mitten ins Zentrum der Macht geworfen, in dem schon mal wichtige Informationen verloren gehen, weil ein Abteilungsleiter die Bedeutung nicht erkennt und persönliche Befindlichkeiten wichtiger sind als die Lage der Nation (oder gar der Welt). Gerade dieser Blick ins Innere der Maschinerie, die eben nicht so reibungslos und sauber dirigiert funktioniert wie es von außen wirken soll, macht einen ganz besonderen Reiz dieses Buches aus.

Leider nutzt sich dieser Effekt aber im Laufe der Zeit ab und es bleibt am Ende doch ein eher konventioneller Thriller mit einer Superheldenaußenministerin, die die Welt rettet, während alle außerhalb ihres Stabes eher blass bleiben (wenn sie nicht sowieso die Bösen sind).

Es fällt schwer, in zahlreichen Figuren nicht reale Amtsträger aktueller oder vergangener Regierungen zu sehen – wahrscheinlich ist das mit einer Autorin Hillary Rodham Clinton auch gar nicht möglich. Aber ich rate trotzdem dazu, sich von der Versuchung zu befreien, diesen Verschwörungsthriller als Schlüsselroman zu lesen.

Denn was die beiden Autorinnen hier sehr eindrücklich zeigen, ist die Vulnerabilität unserer Weltordnung. Wie wenig es eigentlich braucht, damit alles zum Teufel geht. Wenn an ein paar Schaltstellen die falschen Leute sitzen, sind wir nicht zu retten…

Buchdetails:
Hillary Rodham Clinton und Louise Penny: State of Terror [OT State of Terror], übersetzt von Sybille Uplegger, HarperCollins Hamburg 2021, 560 Seiten, gebunden, 24 €, als ebook 16,99 €
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Rebecca Russ: Die erste Frau

Umschlagabbildung zu Rebecca Russ, Die erste Frau

Hannah bricht alle ihre Zelte ab und zieht bei Thomas in seinem großen Haus am Bodensee ein. Sie freut sich auf eine strahlende Zukunft mit Kind und voller Liebe.

Doch schon bald trübt sich alles ein. Sie hat das Gefühl, nicht allein zu sein, sie erhält beunruhigende Nachrichten, Dinge verschwinden oder tauchen auf ohne ihr Zutun. Und die Geschichten über Thomas’ vorherige Frau sind widersprüchlich, er selbst bei diesem Thema zurückweisend.

Es dauert nicht lange und Thomas’ beginnt an ihr und ihrem Geisteszustand zu zweifeln – Hannah selbst ist sich auch nicht sicher, was sie glauben und wem sie trauen soll.

Rebecca Russ’ Psychothriller ist spannend geschrieben und handwerklich ordentlich gearbeitet. Mich überzeugt aber ihre Protagonistin nicht. Ihre Handlungen wirken auf mich eher dem Plot als der inneren Logik der Figur geschuldet und dieser folgt für meinen Geschmack den Genrekonventionen etwas zu sehr.

Als spannende Lektüre zwischendurch, etwa im Urlaub oder am Wochenende ist das freilich absolut passend und empfehlenswert.

Buchdetails:
Rebecca Russ: Die erste Frau. Aufbau Taschenbuch Berlin 2021, 319 Seiten, kartoniert. ISBN 978-3-7466-3781-5, 10 €, als ebook 7,99 €
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