Auf dem Nachttisch (1)

Schreiben über gelesene Bücher soll eigentlich integraler Bestandteil dieses Blogs sein. Aber wie das so ist im Leben – nicht immer entwickelt sich alles so wie geplant. Vor allem das Real Life funkt immer wieder gerne dazwischen. Und so gerne ich meine schon seit Jahren zurückliegende wöchentliche Buchempfehlungsrubrik weiterführen würde – es ist nicht realistisch, das wird auf absehbare Zeit nicht passieren.

Nun lese ich also weiterhin Dies und Das, denke mir nach jeder beendeten Lektüre: Dazu schreibst Du was. Dann fange ich einen Beitrag an, lege ihn zur Seite und da bleibt er dann liegen – hilflos mit seinen Beinchen strampelnd, mich immer wieder ermahnend, ihn nun endlich aufzuheben. So vergehen Wochen, Monate, Jahre – und es wird doch kein veröffentlichter Text daraus. Inzwischen sind die Bücher womöglich vergriffen, kurz: Das ist unbefriedigend.

Also versuche ich es nun einmal mit kurzen Sammelrezensionen – die zwar dem einzelnen Werk nicht die Aufmerksamkeit geben, die ich ihm idealerweise geben wollte. Doch dazu sei an dieser Stelle mein früherer Chef zitiert: Better done than perfect.

Also dann, auf geht es mit der ersten Runde Bücher, die ich kürzlich vom Nachttisch geräumt habe:

Sarah Kuttner: Kurt

Drei Erwachsene, ein Kind. Die Zahl von Büchern und Filmen zu den verschiedensten Konstellationen, die sich aus einer solchen Aufzählung ergeben können, ist Legion. Warum also noch eins? Weil das Thema nie zu Ende ist. Jede Zeit, jede Konstellation ist individuell und hat ihre ganz eigene Geschichte, Sarah Kuttners Geschichte beginnt zunächst ganz vertraut: Ein Paar hat ein gemeinsames Kind, trennt sich, ein Partner findet eine neue Partnerin und zieht mit dieser in ein eigenes Haus. Jana und Kurt schaffen es, diese schwierige Situation vernünftig zu lösen und Lena lernt nach dem großen nun auch den kleinen Kurt kennen. Mit ihr erleben wir ein waches, neugieriges Kind voller Liebe für die Welt und die Menschen, die ihn umgeben.
Der tiefe Schmerz, den die Erwachsenen erleben, als das Kind plötzlich stirbt, hat auch mich beim Lesen getroffen. Ich habe den kleinen Kerl sehr ins Herz geschlossen. Sarah Kuttner findet in ihrer schnörkellosen, empathischen Sprache einen Ausdruck für die Trauer und die ganz verschiedenen Wege, die Trauernde gehen. Darin liegt für mich die Stärke und Bedeutung dieses Buchs: Worte und Ausdruck zu finden für eine Trauer, die tiefer kaum sein könnte. Worte dort zu finden, wo keine Worte mehr sind.

Ein herzzerreißendes Buch über einen Schmerz, der nicht zu begreifen ist. Ich habe jedenfalls viele Tränen vergossen und ich weiß nicht, ob ich das Buch ein zweites Mal aushalten würde.

Murakami Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

Gut vierzig Jahre liegt diese Geschichte schon bei Murakami auf dem Nachttisch. Grundlage des Romans ist eine Erzählung aus den 80er Jahren, mit der der Autor nie so recht zufrieden war. Immer wieder wollte er sie weiter ausarbeiten. Nun also ist dieser Roman daraus entstanden. Vor solchen Entstehungsgeschichten warnen Lektor:innen regelmäßig, und das aus guten Gründen. So eine Geschichte bleibt nicht ohne Anlass so lange liegen. Meist stimmt mit ihnen etwas nicht, sei es, dass ihr Thema nicht so recht passt oder ein grundlegender konstruktiver Fehler es immanent nicht zu einem gutem Abschluss kommt. Das ist auch hier spürbar, der Roman sei niemandem ohne Murakami-Erfahrung empfohlen.

Und dennoch zeigt sich Murakami in diesem dichten Roman von seiner Stärke als Romancier. In der metapherngesättigten Geschichte um eine verlorene und unerreichbare Liebe führt er dem Leser vor Augen, dass Realitätsflucht zwar ungemein beruhigend und sicherheitsversprechend ist – aber eben nicht echt. Und vor allem: Das Leben extrem einschränkend, da jede Berührung mit dem Leben außerhalb der selbst geschaffenen Mauern den Kokon und seine schutzspendende Wärme bedroht. Und auch wenn ich den Roman gerne gelesen habe: Wahrscheinlich wäre es besser, er wäre eine Erzählung geblieben.

Laura Wood: Agency for Scandal

Izzy Stanhope, eine junge Frau mit Beziehungen in der britischen Upper Class, hat viele Geheimnisse. Und jedes einzelne davon könnte ihre prekäre Stellung ruinieren. Dementsprechend unauffällig bewegt und kleidet sie sich.
Der Roman ist im Viktorianischen England angesiedelt und kreist um ein Team von Frauen, die selbstorganisiert andere Frauen unterstützen. Das ist entsprechend herausfordernd, denn offen agieren können sie naturgemäß nicht. Scheu hat das Team dabei weder vor hohen Ämtern, großem Reichtum oder Berufsverbrechern. Alle Mittel und Wege sind ihnen recht, wenn sie geeignet sind, die Sache der Klientinnen zu befördern. Dabei nutzen sie geschickt ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung aus, legen sich Tarn-Identitäten, entwickeln Spezialfähigkeiten – eben alles, was man von einem professionellen Team erwarten darf.

Ob und wie hier Anachronismen reinspielen, kann ich nicht beurteilen, dafür kenne ich die Viktorianische Gesellschaft viel zu wenig – ich bin mir aber auch nicht sicher, ob das überhaupt relevant ist. Die turbulente Handlung findet ihre Ankerpunkte in den Figuren, die ein hohes Identifikationspotential bieten. Dass hier die Protagonistinnen sich in einer männerdominierten Welt ihren Handlungsraum nehmen und nutzen ist vielleicht der stärkste Aspekt dieses Jugendbuches.

Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Syd

Mich hat dieser Thriller leider überhaupt nicht überzeugt, gerade vor dem Hintergrund des ersten Teils. Dieser war solides Handwerk, mich hatten ein paar Dinge gestört, aber insgesamt war das okay und ich war durchaus gespannt, wie die Geschichte weitergehen würde.
Schon in Das Nord war die übermächtige Alice und die Hilflosigkeit aller anderen etwas dick aufgetragen. Hier aber rutschen die Figuren endgültig in die Unglaubwürdigkeit ab. Das beginnt schon beim Restaurantnamen, der gekünstelt auf den ersten Roman Bezug nimmt. Alex und Sofi würden nach all den traumatischen Erlebnissen im Nord ihr Restaurant ernsthaft Syd nennen? Insbesondere, wenn sie versuchen, sich vor Alice Duwal zu verstecken? Da war das Verlagsmarketing wohl stärker als die Figurenentwicklung.
Und dass nun wirklich jeder Schritt, den Alex macht, sich mal wieder als beobachtet und gesteuert herausstellt, was ausgerechnet ihm aber nie bewusst wird, obwohl er ständig Angst davor hat, beobachtet und gesteuert zu werden. Und wieder einmal ist es dieselbe übermächtige Alice, die hier schon James-Bond-Bösewicht-Dimensionen erreicht und wieder einmal wird es eine vergleichsweise simple Falle, mit der sie überwältigt wird. Ich weiß nicht, mich hat das wirklich nicht überzeugt. Ich hatte hier auf eine neue Geschichte gehofft, tatsächlich aber ist es weitgehend dieselbe.
Gleichzeitig ist aber ganz klar spürbar, dass die Autorinnen ihr Handwerk eigentlich verstehen – und das hat vielleicht meinen Ärger verstärkt. Wenn das Buch einfach schlecht geschrieben wäre, hätte ich es zur Seite legen und abtun können.

Buchdetails:
Sarah Kuttner: Kurt : Roman. S. Fischer Frankfurt am Main 2019, 239 Seiten, ISBN 978-3-10-397424-9, 20 € ; als Taschenbuch 12 € ; als ebook 9,99 €
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Murakami Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer : Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Dumont Buchverlag Köln 2024, 637 Seiten, ISBN 978-3-8321-6839-1, 35 € ; als ebook 27,99 € ; als Hörbuch 34 €
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Laura Wood: Agency for Scandal : Roman. Aus dem Englischen von Petra Koob-Pawls, Fischer Sauerländer Frankfurt am Main 2024, 432 Seiten, ISBN 978-3-7373-4389-3, 15,90 € ; als ebook 12,99 €
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Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Syd : Thriller. Aus dem Schwedischen von Max Stadler, HarperCollins Hamburg 2024, 270 Seiten, ISBN 978-3-365-00578-1, 14 € ; als ebook 9,99 €
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Anna Winberg Sääf / Katarina Ekstedt: Das Nord

Bei Alex läuft es grad gar nicht – er ist abgebrannt, obdachlos und ohne Job. Da bekommt er die Chance, in Nordschweden bei einem berühmten Sterne-Koch in einem Edelrestaurant anzufangen. Mit den allerletzten Ressourcen gelingt es ihm, die Reise zu bewerkstelligen und rechtzeitig einzutreffen. Die Arbeit ist hart, Freizeit ist rar und die Arbeitsatmosphäre geprägt von Missgunst und Intrigen.

Nicht wirklich besser wird es, als er eine Affäre mit Alice Duvall, der Ehefrau des Besitzers anfängt. Schnell ist Alex ist einem verhängnisvollen Abhängigkeitsverhältnis, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint – insbesondere da Alice sehr eigene Interessen verfolgt, bei deren Durchsetzung er bestenfalls als Werkzeug eine Rolle spielt.

Katarina Ekstedt und Anna Winberg Sääf gelingt ein spannender Thriller, der alle Zutaten bereithält, die es braucht. Allerdings auch nicht mehr. Beworben wird es mit Schwedische Thriller-Spannung vom Feinsten und Intrigen und Psychoterror in der Schwedischen Sterneküche. Davon habe ich wenig gelesen. Die ersten Berfreiungsversuche scheitern zu offensichtlich und für das David-Goliath-Spiel, dass hier aufgebaut wird, ist mir die letztliche Lösung sogar etwas zu platt. Darin besteht meiner Meinung nach ja die besondere Kunst: Übermächtige Bösewichte, die alles beherrschen und von allem wissen, sind leicht erschaffen. Aber eine plausible Handlung, wie diese dennoch überwunden werden können – das ist eine echte Herausforderung. Und die finde ich hier nicht restlos überzeugend gemeistert.

Das ist solides Handwerk, die Handlung spitzt sich gekonnt zu. Aber kaum weg gelegt, hatte ich Figuren, Handlung und kulinarische Finessen eigentlich auch schon wieder vergessen. Also gute Unterhaltung – und das ist gar nicht abwertend gemeint: Ich bin hier gerne dabei geblieben.

Details zum Buch
Anna Winberg Sääf/Katarina Ekstädt: Das Nord. Thriller. aus dem Schwedischen von Max Stadler. Deutsche Erstausgabe bei HarperCollins Taschenbuch, Hamburg 2023, 288 Seiten, 14 € ; als ebook (ePUB) 10,99 €
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Marc-Uwe Kling: Views

Ich muss gestehen, meine HardCore-Marc-Uwe Kling-Fanphase ist schon einige Jahre her (Exhibit A: Gachmurets dritte Kulturwoche: Kabarett vom Februar 2010). Genau so wie ich die Radiokolumne sehr mochte, habe ich auch die ersten Känguru-Bücher mit großer Freude gelesen.

Der Guerilla-Kommunismus des Kängurus erfreut mich auch heute immer wieder. Der überragende kommerzielle Erfolg hat mich verwundert und skeptisch gemacht. Auch heute beschleicht mich durchaus das Gefühl, dass nicht alle bei dem Take Mein – Dein, das sind doch alles bürgerliche Kategorien aus denselben Gründen lachen. Tatsächlich verfolge ich Klings Arbeit eher deshalb noch mit, weil die Traumtochter™ großer Fan ist.1

Will sagen: Seit fast 15 Jahren habe ich kein Buch mehr von ihm gelesen – zwischenzeitlich hat Kling eine beachtliche Bestseller-Karierre hingelegt und das Genre der WG-Berichte aus dem Zusammenleben mit einem kommunistischen Känguru, das früher beim Vietkong war, weitgehend verlassen. Dies nur als Vorrede, um zu verdeutlichen, dass ich durchaus nicht unvoreingommen an Views herangegangen bin.

Das Buch wird als Thriller beworben, und das geht soweit auch in Ordnung. Im Mittelpunkt steht die BKA-Kommissarin Yasira Saad, die in einen Aufsehen erregenden Fall involviert wird. Die 16jährige Lena Palmer verschwindet – zunächst ein lokaler Fall, der außerhalb der Harzregion zunächst keine Bedeutung erlangt. Doch dann taucht ein verstörendes Vergewaltigungsvideo auf und die Welt gerät aus den Fugen. Schnell gibt es massive Demonstrationen, die Täter werden schnell als Geflüchtete bezeichnet und dass die leitende Ermittlerin beim BKA den Namen Yasira Saad trägt, befeuert die sich rasant militarisierende deutsche Gesellschaft zusätzlich. Dementsprechend geraten nicht nur alle, die den Tätern im Video ähnlich sehen, in akute und konkrete Gefahr, sondern auch Yasira persönlich und ihre Tochter. Außerdem erscheinen in kurzer Schlagzahl weitere Videos, etliche davon von einer Gruppierung, die sich „Aktiver Heimatschutz“ nennt und neben Hass auch konkrete Aufstandsforderungen verbreitet. Kurz: Die Gewaltspirale wird ihrem Namen mehr als nur gerecht.

Marc-Uwe Kling hat hier einen straighten Thriller geschrieben, der geübte Thriller-Leser:innen womöglich nicht vor übermäßige Herausforderungen stellt, aber er schont sein Publikum durchaus nicht. Sowohl die Handlung als auch die beschriebenen Videos sind durchaus gewaltvoll, wenn auch nicht überzogen explizit und die Gewalt selbst steht auch nicht im Vordergrund, das macht es erträglicher. Im Vordergrund steht die sich immer schneller drehende Eskalationsspirale, die es kaum noch möglich zu machen scheint, noch seriöse Ermittlungsarbeit zu leisten. Insgesamt habe ich das gerne gelesen, mich hat der Thriller in Bann gezogen und das ist ja letztlich Hauptaufgabe von Spannungsliteratur. Ein paar Anmerkungen habe ich noch, aber zunächst einmal die Detail-Angaben zum Buch:

Marc-Uwe Kling: Views : Roman. Ullstein Verlag, Berlin 2024, 269 Seiten, ISBN 978-3-550-20299-5, 19,99 €. Auch erhältlich als ebook und Hörbuch.

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An dieser Stelle ein Break: Ich kann nicht weiter schreiben, ohne konkret auf Handlungsstränge einzugehen. Daher eine unbedingte SPOILER-WARNUNG.

Weiterlesen „Marc-Uwe Kling: Views“

Chevy Stevens: Tief in den Wäldern

Cover-Abbildung zu Chevy Stevens, Tief in den Wäldern

Teenager Hailey hat schwere Schicksalsschläge hinter sich. Nach dem Unfalltod ihres Vaters ist sie Vollwaise und zieht bei ihrem Onkel ein. Dessen Familie scheint die wahr gewordene Vorstadtidylle zu sein: Häuschen, Hausfrau, Kind, Garten und der Vater ist Polizist – in welchem Umfeld sollte sie wohl besser aufgehoben sein und zur Ruhe kommen können als dort?

Doch schnell tun sich Abgründe auf, der scheinbar so makellose, umgängliche Polizist entpuppt sich als kontrollsüchtiger Manipulator, der offenbar die ganze Kleinstadt im Griff hat. Dass in der Umgebung regelmäßig junge Frauen spurlos verschwinden, macht es für die nach Selbstbestimmung und Freiheit suchende Hailey nicht einfacher, ihrem Vormund etwas entgegenzusetzen. Wohin sie auch geht – er scheint immer da zu sein. Nur mühsam gelingt es ihr, Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen oder zu halten – und als sie schließlich selbst verschwindet, eskalieren die Ereignisse.

Idyllische Kleinstädte als Orte des Grauens – das ist ein gängiger Topos in der Spannungsliteratur. Dementsprechend schwierig ist es, da eigene Akzente zu setzen, wenn nicht wiederholt werden soll, was schon tausendmal geschrieben und gesagt wurde.

[Wobei dagegen nichts zu sagen wäre, seit Jahrtausenden lieben es die Menschen, dieselben Geschichten immer wieder erzählt zu bekommen, es ist überhaupt nicht verwerflich, diesem Konzept treu zu bleiben. Und unter uns: Wer behauptet, als einziges Leseinteresse »das völlige Neuartige« zu haben, dem begegne ich mit großer Skepsis. Als ob niemand einfach mal eine Geschichte hören oder lesen möchte, ohne dabei der Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, auch nur ein Iota näher zu kommen. Irgendwann muss das Gehirn ja auch mal ausruhen und entspannen – und wobei ginge das besser als bei einer Geschichte, bei der wir sofort wissen, wer Gut und Böse sind und wie es ausgehen wird…]

Chevy Stevens erzählt aus verschiedenen Perspektiven, wobei die Erzählfäden sich immer wieder abwechseln, was eine reizvolle Spannung erzeugt, das hat mir sehr gefallen. Geradezu körperlich spürbar wird bei ihr die Athmosphäre von Cold Creek, dieser kleine Ort im Nordwesten Kanadas, in dem die einzigen Fremden die rastenden Trucker sind, wo jede:r jede:n kennt und jede:r von jede:m abhängig ist – mit dem geradezu allmächtigen örtlichen Polizeichef, der immer freundlich, immer jovial, immer verbindlich auftritt und doch jederzeit die Szenerie beherrscht. Diese gedrückte Stimmung, in der niemand frei zu atmen scheint, alle permanent auf der Hut sind, aber schicksalsergeben meint, dass dies so sein müsse und nichts gefährlicher wäre, als daran zu rühren: Das fängt Chevy Stevens hervorragend ein.

Es ist logisch, dass es dann die junge Hailey ist, die aufbegehrt, die ausbricht – sie, die keine Bindung mehr hat, die alles verloren hat und die ihre Ohnmacht erlebt, aber nicht bereit ist, sie hinzunehmen. Es hat mir sehr gefallen, dass hier einem scheinbar übermächtigen Schurken keine übermächtige Heldin gegenüber gestellt wurde. Sondern eine Jugendliche, die verzweifelt ist, aus ihrer Verzweiflung Mut schöpft, die aber auch nicht loslassen kann und die trotz allem Grenzen hat, die sie nicht überschreiten kann.

Es braucht eine Figur von außen, um diese geradezu gordisch verknotete Gemeinschaft auseinanderzutreiben und zu erlösen. Geübte Leser:innen werden von der Auflösung nicht überrascht sein, aber der Krimiplot steht – zumindest in meiner Lesart – hier auch nicht im Mittelpunkt. Sondern die vielfältig verwobenen Machtstrukturen, die Gewalt gegen Frauen ermöglichen und die Täter schützen.

Buchdetails:
Chevy Stevens: Tief in den Wäldern. Aus dem Englischen übersetzt von Maria Poets. Fischer Scherz Frankfurt am Main 2022. 461 Seiten, Paperback, 16 €, als ebook 4,99 €
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Hillary Rodham Clinton/Louise Penny: State of Terror

Umschlagabbildung zu State of Terror von Hillary Rodham Clinton und Louise Penny

Die überraschend von ihrem ärgsten Rivalen, dem frisch vereidigten neuen Präsidenten, ins Amt berufene neue Außenministerin der USA scheitert auf ihrer ersten Auslandsmission grandios. Statt eines Abkommens bringt sie nur dreckige Schuhe mit nach Washington.

Doch statt einer medialen Hinrichtung wird ihr überraschend Sympathie entgegen gebracht, was im Präsidentenbüro zerknirscht zur Kenntnis genommen wird. Doch sehr schnell spielen derlei Ränke keine große Rolle mehr: Eine Serie von Anschlägen in Europa stürzt die westliche Welt in eine nie dagewesene Krise und plötzlich ist die USA als Führungsmacht gefragt – eine Rolle, aus der sie sich in der vorigen Amtsperiode verabschiedet hatte. Und mittendrin: Die neue Außenministerin.

Der Thriller beginnt mit einem hohen Erzähltempo, wir werden schnell mitten ins Zentrum der Macht geworfen, in dem schon mal wichtige Informationen verloren gehen, weil ein Abteilungsleiter die Bedeutung nicht erkennt und persönliche Befindlichkeiten wichtiger sind als die Lage der Nation (oder gar der Welt). Gerade dieser Blick ins Innere der Maschinerie, die eben nicht so reibungslos und sauber dirigiert funktioniert wie es von außen wirken soll, macht einen ganz besonderen Reiz dieses Buches aus.

Leider nutzt sich dieser Effekt aber im Laufe der Zeit ab und es bleibt am Ende doch ein eher konventioneller Thriller mit einer Superheldenaußenministerin, die die Welt rettet, während alle außerhalb ihres Stabes eher blass bleiben (wenn sie nicht sowieso die Bösen sind).

Es fällt schwer, in zahlreichen Figuren nicht reale Amtsträger aktueller oder vergangener Regierungen zu sehen – wahrscheinlich ist das mit einer Autorin Hillary Rodham Clinton auch gar nicht möglich. Aber ich rate trotzdem dazu, sich von der Versuchung zu befreien, diesen Verschwörungsthriller als Schlüsselroman zu lesen.

Denn was die beiden Autorinnen hier sehr eindrücklich zeigen, ist die Vulnerabilität unserer Weltordnung. Wie wenig es eigentlich braucht, damit alles zum Teufel geht. Wenn an ein paar Schaltstellen die falschen Leute sitzen, sind wir nicht zu retten…

Buchdetails:
Hillary Rodham Clinton und Louise Penny: State of Terror [OT State of Terror], übersetzt von Sybille Uplegger, HarperCollins Hamburg 2021, 560 Seiten, gebunden, 24 €, als ebook 16,99 €
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Rebecca Russ: Die erste Frau

Umschlagabbildung zu Rebecca Russ, Die erste Frau

Hannah bricht alle ihre Zelte ab und zieht bei Thomas in seinem großen Haus am Bodensee ein. Sie freut sich auf eine strahlende Zukunft mit Kind und voller Liebe.

Doch schon bald trübt sich alles ein. Sie hat das Gefühl, nicht allein zu sein, sie erhält beunruhigende Nachrichten, Dinge verschwinden oder tauchen auf ohne ihr Zutun. Und die Geschichten über Thomas‘ vorherige Frau sind widersprüchlich, er selbst bei diesem Thema zurückweisend.

Es dauert nicht lange und Thomas‘ beginnt an ihr und ihrem Geisteszustand zu zweifeln – Hannah selbst ist sich auch nicht sicher, was sie glauben und wem sie trauen soll.

Rebecca Russ‘ Psychothriller ist spannend geschrieben und handwerklich ordentlich gearbeitet. Mich überzeugt aber ihre Protagonistin nicht. Ihre Handlungen wirken auf mich eher dem Plot als der inneren Logik der Figur geschuldet und dieser folgt für meinen Geschmack den Genrekonventionen etwas zu sehr.

Als spannende Lektüre zwischendurch, etwa im Urlaub oder am Wochenende ist das freilich absolut passend und empfehlenswert.

Buchdetails:
Rebecca Russ: Die erste Frau. Aufbau Taschenbuch Berlin 2021, 319 Seiten, kartoniert. ISBN 978-3-7466-3781-5, 10 €, als ebook 7,99 €
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