Alex Reeve: Der Mord in der Rose Street

London im ausgehenden 19. Jahrhundert: Das ist ein literarisch reizvoller Ort und dementsprechend reich bevölkert mit Literatur aller Genre ist er denn auch. Alex Reeve siedelt dort seine historische Kriminalreihe um Leo Stanhope an. »Der Mord in der Rose Street« ist Teil 2, allerdings der erste, der mir in die Hände fiel. Es gibt zwar verschiedene Verweise auf den ersten Fall, aber die Unkenntnis desselben hindert Verständnis und Lesefluss überhaupt nicht.

Leo Stanhope hat es nicht leicht: Da seine Familie – für das viktorianische England nun keineswegs untypisch – Schwierigkeiten damit hat, dass die geliebte Tochter sich als Mann identifiziert, muss er weit unter den materiellen Verhältnissen seines Standes leben und verdient sich seinen Lebensunterhalt sehr mühsam. Dass er unversehens ins Visier einer Mordermittlung gerät, ist dabei nicht hilfreich.

In seinem wendungsreichen Krimi, der unter Mittellosen und Revolutionären ebenso wie unter Reichen und Mächtigen spielt, gelingen Reeve ein paar interessante Charakterstudien – ohne das hier jetzt zu hoch hängen zu wollen. Aber seine Figuren sind plastisch und bei aller notwendiger Typisierung keineswegs eindimensional. Gerade das besondere Beziehungsgeflecht, in dem Stanhope sich bewegt, einem Netzwerk, das er zum Überleben braucht, bei dem zu große Nähe aber sofort auch Gefahr bedeutet, das ist gut herausgearbeitet. Überhaupt: Wie die besondere Gefahr, in der sich Stanhope (hier ganz klassisch Detektiv wider Willen) permanent befindet, immer spürbar bleibt, ohne vordergründig zu werden, das ist geschickt gemacht. Mir brachte es die kontraintuitive Erkenntnis, dass gerade die prüden Beschränkungen der viktorianischen Sexualmoral, die zu einer gezwungenen Zurückhaltung in der Öffentlichkeit führten, Freiheiten ermöglicht haben könnten.

Alles in allem eine angenehme Krimilektüre, kurzweilig und gerne gelesen.

Buchdetails:
Alex Reeve: Der Mord in der Rose Street (=Ein Fall für Leo Stanhope 2). Knaur München 2022. ISBN 978-3-426-52825-9, 416 Seiten, Paperback, 12,99 €, als ebook 9,99 €
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Franz Orghandl: Der Katze ist es ganz egal

Umschlagabbildung zu Franz Orghandl, Der Katze ist es ganz egal

Leo ist eigentlich Jennifer. Das war schon immer so, aber erst jetzt ist sie dieser Verwechslung auf die Spur gekommen. Die Katze nimmt das ungerührt zur Kenntnis. Bei den Menschen sieht das etwas anders aus.

Während ihre Freund:innen und Klassenkamerad:innen das sehr schnell verstehen, scheinen die Erwachsenen eine etwas längere Leitung zu haben.

Franz Orghandls Kinderbuch ist eine herrlich leichte, humorvolle Geschichte, die es schafft, völlig ohne große Dramen und Problematisierungen auszukommen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass sie Kinder abholt, weil sie konsequent aus Jennifers Perspektive schreibt – und aus Jennifers Perspektive ist ja jetzt endlich alles normal und so wie es sein soll.

Was mich besonders mitgenommen hat, sind ihre glaubwürdigen Charaktere. Gerade die Erwachsenen, für die das alles nicht so einfach ist, sind keineswegs böse oder dumm – sondern kämpfen mit ihren widerstrebenden Gefühlen, deren Grundlage ja aber doch die Zuneigung zu Jennifer ist. Es ist ihre Sorge vor Zurückweisung, ihre Angst, dem geliebten Menschen könnten negative Erfahrungen drohen, die sie zögern lässt, die für sie neue Realität zu akzeptieren.

Diese tiefgehende Warmherzigkeit als Grundton macht dieses Kinderbuch zu etwas ganz Besonderem – denn so kommt es ganz ohne Belehrungen, Moralisierungen und Bedeutungsschwere aus. Es ist einfach alles ganz normal.

Buchdetails:
Franz Orghandl: Der Katze ist es ganz egal. Mit Bildern von Theresa Strozyk. Klett Kinderbuch Leipzig 2020. 104 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-95470-231-2, 13 €
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