Die Verfassung ist keine Loseblattsammlung

“Verfassung (Konstitution, Grundgesetz), die Grundordnung einer juristischen Person, bes. die eines Staates.” (Der Brockhaus in fünfzehn Bänden. Leipzig, Mannheim. 1999)
Soso, die Grundordnung.
Mithin ist davon auszugehen, daß in einer solchen Verfassung, so sie denn schriftlich fixiert ist, nur die wesentlichen, grundlegenden Prinzipien eines Staates stehen.
Ich beobachte aber in letzter Zeit einen gewissen Hang zur Beliebigkeit. Aus verschiedensten Beweggründen, deren Lauterkeit ich nicht zwangsläufig in Abrede stellen will, werden Initaiven gestartet, dieses und jenes im Grundgesetz zu verankern.
Dabei geht es sowohl um reine Symbolpolitik (z.B. Kinderrechte – keines der dort aufgeführten Rechte wäre eine Ergänzung, es sei denn natürlich, man definierte Kinder nicht als Menschen) als auch um verbrämte Symbolpolitik, wie die jüngst beschlossene “Schuldenbremse”. Denn diese verhindert weder neue Schulden (es gelten ja dieselben Ausnahmeregelungen wie schon bei der bereits bekannten “Investitionen dürfen nicht niedriger sein als die Schulden”-Regel – und deren Dehnbarkeit ist bekannt), erfüllt also nicht den angeblichen Zweck und ist mithin nur Symbol, noch hat sie irgendeinen Sinn – Schulden sind ja nicht per se schlecht, wie jeder Unternehmer bestätigen wird. Entscheidend ist vielmehr, warum und zu welchem Zweck Schulden aufgenommen werden.
Nun ist aber eine Verfassung kein Gesetz, das man mal eben nach Gusto oder Wetterlage verändern sollte. Jede Änderung, jeder Eingriff in die Verfassung muß wohlüberlegt sein, seine grundsätzliche Bedeutung diskutiert und seine Auswirkungen genauestens bedacht werden.
Widrigenfalls, und diese Sorge habe ich, droht ein Abrutschen in die Beliebigkeit. Und das wäre nun fatal. Denn wie will eine Gesellschaft auf einem sicheren Fundament stehen, wenn dieses selbst eher auf Sand gebaut zu sein scheint, weil es sich ständig bewegt?
Mir scheint, hier hat ein seltsamer Geist in die Politik Einzug gehalten, der die Verfassung für ein Instrument der Tagespoltik hält.
Ergänzend dazu ein Kommentar Tarik Ahmias zur Unsinnigkeit der Regelung an sich: taz-Kommentar

Und zum Schluß noch eine Anmerkung des Hausheiligen zum Thema Geist der Politik:

Wir glauben, daß
das Wesentliche auf der Welt hinter den Dingen sitzt,
und daß eine anständige Gesinnung mit jeder, auch
mit der schlechtesten, Vorschrift fertig wird und sie
gut handhabt. Ohne sie aber ist nichts getan.
Was wir brauchen, ist diese anständige Gesinnung.
[in: Wir Negativen. Werke und Briefe: 1919, S. 112. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 1222 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 55-56) (c) Rowohlt Verlag]