Ratschlag zum nächsten SPD-Parteitag

Wahlplakat der SPD zur Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919 Entwurf: Arnold Schütz Druck: Kunstanstalt Franz Xaver Schroff vorm. Wilh. Fiek Augsburg, 1919 Lithographie 109,7 x 79,6 cm © Deutsches Historisches Museum, Berlin Inv.-Nr.: P 61/1634

Es stehen ab dem Herbst 2018 wieder Landtagswahlen an, wahrscheinlich der Auftakt zu einer weiteren Serie von enttäuschenden und unerklärlichen Niederlagen für die deutsche Sozialdemokratie. In Sachsen ist nicht einmal mehr sicher, dass sie es überhaupt noch in den Landtag schaffen.

Und das alles trotz eines tollen Hashtags und einer tapfer gegen Scheinprobleme ankämpfenden Vorsitzenden. Aber wie so oft, stößt die Partei, die doch nur das Gute will, dabei auf Unverständnis:

Patrick Bahners auf Twitter

Die SPD, die ewig Unverstandene. Nun ist es leicht, auf jemanden einzuschlagen, der bereits am Boden liegt und bei allen Schwächen, die diese Partei hat, so kann es doch nicht im Interesse der Demokratie sein, sie wieder einmal untergehen zu lassen. Denn – so schmerzlich diese Erkenntnis sein mag – sie ist seit 150 Jahren das Herz der deutschen Demokratie. Dass sie dies zunehmend mit stolzgeschwellter Brust als Argument dafür nimmt, so weiterzumachen wie gehabt anstatt als Ansporn, sich wieder aktiv einzubringen, ist freilich eine nicht weniger schmerzliche Erkenntnis.

Daher ein wohlmeinender Ratschlag für den nächsten Parteitag:

Aber nach einem Jahre von Fehlschlägen und politischem Trabantentum in der Sphäre Merkels, und nachdem sich gezeigt hat, daß auch die Wählermassen nicht mehr geneigt sind, der Partei Blankowechsel auszustellen, muß die Führerschaft darauf verzichten, diesen Kongreß als ein Spektakel mit verteilten Rollen aufzuziehn. Das historische »Schweineglück« der Sozialdemokratie hat inzwischen gründlich die Partei gewechselt.

In frühern Zeiten waren diese Parteitage Stechbahnen des Geistes. Jetzt sind sie schon Iange nur noch Kontrollversammlungen, Schaustücke von Funktionären für Funktionäre, mit einer sorgsam rationierten Opposition.

Dies ist kein Zitat aus einem aktuellen Leitartikel, dieser wohlmeinende Ratschlag an die SPD stammt von Carl von Ossietzky, der dies am 2. Juni 1931 in der »Weltbühne« anlässlich des Leipziger Parteitags mit auf den Weg gab – und natürlich nicht von Merkel, sondern von Brüning sprach (der das Regieren per Notverordnung erfand und a Doch genau wie seinerzeit fühlt sich ja auch die heutige SPD eher einer abstrakten staatstragenden Rolle verpflichtet und stützt willfährig eine Regierung, die sie dem Untergang entgegentreibt.

Ossietzky schreibt dort weiter:

Die Partei sehnt sich nach ‘dem Staat’, ‘der Nation’, und fühlt nicht, daß sie dabei ihre einzige wirkliche Lebensquelle verliert: die Klasse.

Ich weiß, »Klasse« darf man heute nicht mehr sagen, weil Stalin und vom klassischen Industriearbeiter werden es auch täglich immer weniger – umso dringender aber wird eine Partei gebraucht, die wieder in den Mittelpunkt rückt, dass es ein existentielles Machtungleichgewicht gibt zwischen denen, die Arbeit verteilen und die Bedingungen dafür stellen und jenen, die auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen sind, Arbeit zu finden und anzunehmen. Gerade weil die Gewerkschaftsbindung immer weiter abnimmt, gerade weil alle Hebel gezogen werden, um entweder gar nicht erst in den Geltungsbereich von Sozialgesetzgebung und BetrVG zu gelangen oder wenn schon, dann alles daran zu setzen, dass die Angestellten aber auch ja nicht auf die Idee kommen, ihre Rechte wahrzunehmen (und das bis zur Schließung des Betriebs). Es gäbe für eine SPD so viel zu tun. Stattdessen holt man sich GoldmanSachs an die Seite.

Und: Es wird bitte endlich Zeit, die seit der Parteigründung mit sich getragene Furcht davor, als Vaterlandsverräter zu gelten, nur weil man nicht nach der konservativ-militaristischen Pfeife tanzt, sollte sie endlich ablegen. Es gibt keine Pflicht, sich für das Vaterland zu opfern.

1930 ließ Tucholsky einen Berliner Ortsfunktionär über seine Partei sagen:

»Wat brauchst du Jrundsätze«, sacht er, »wenn dun Apparat hast!«

Mir scheint das auch heute wieder nicht völlig unzutreffend sein. Ich wünsche der Partei aus tiefstem Herzen, dass sie es schafft, sich von den Zwängen ihres Apparates zu befreien und ihre Grundsätze wiederzuentdecken. Und sie sollte das schnell tun. Das Schicksal anderer europäischer Sozialdemokratien dieser Tage zeigt überdeutlich, wie schnell und gründlich sich Wähler_innen dauerhaft abwenden können. Denn die brauchen keine sich anbiedernde SPD, sondern eine die kämpft – für die Benachteiligten, nicht für ihren eigenen Apparat.

Nach den Wahlen

Den Kommentar zur heutigen Wahl hält der Hausheilige dieses Blogs, Dr. jur. Kurt Tucholsky:

Nach den Wahlen

Jetzt ist die wile Zeit vorüber,
nun hat die liebe Seele Ruh – –
des Bürgers Blick wird wieder trüber,
ihm fallen beide Augen zu.

Im Wahlkampf blusen die Trompeten
mit Pflichtgefühl und viel Getös –
Attacken selten, meist Retraiten –
er meint es nämlich nicht so bös.

Den Braven schüttelt ein Gehust,
er kann nicht mehr, er ist so matt;
schon fehlt es an der nötigen Puste,
weil er sich überanstrengt hat.

Wir wollen ihn ins Bettchen stecken.
Er schläft und die Regierung wacht…
So laßt ihn ruhen. Nur nicht wecken! –
Wir wünschen ihm ´ne
Gute Nacht!

in: Kurt Tucholsky. Gesamtausgabe Texte und Briefe, Bd. 1 (Texte 1907-1913), Reinbek 1997, S. 32. zuerst veröffentlicht im “Vorwärts” am 26.1.1912

Erlebte Demokratie

Die Welt ist bunt.
Dies konnte ich am Sonntag wieder in schönster Weise erleben. Als Stütze unserer Demokratie hatte ich mich bereit erklärt, als Wahlhelfer zu fungieren und wurde der Briefwahlauszählung zugeteilt.
Und das ist schon per se eine bunte Angelegenheit, da die notwendigen Bestandteile einer korrekten Briefwahl, zumal bei zwei gleichzeitig stattfindenden Wahlen, einen Blumenstrauß an Farben bieten.
Ich darf mal memorieren:
Der graue Stimmzettel für die Europawahl steckt in einem blauen Umschlag, zusammen mit dem weißen Wahlschein dann wiederum in einem rosafarbenen (oder war er rot? – man wird nicht jünger…). Der orangene Stimmzettel der Kommunalwahl allerdings gehört in einen gelben Umschlag und nebst gleichfarbigem Wahlschein in einen wiederum organge gefärbten Umschlag.
Es bleibt aber auch bunt, wenn man sich die illustre Gemeinschaft anschaut, die sich in den Wahlkommissionen findet.
Ich hatte reichlich Gelegenheit, mich in der wichtigsten Disziplin des Einzelhändlers zu üben:

Lächeln und winken

Diese überlebenswichtige Fähigkeit hilft nicht nur bei penetranten, arroganten, besserwisserischen, redseligen oder anderweitig enervierenden Kunden, die schamlos ausnutzen, daß der geneigte Lohnarbeiter ja vertraglich auf die Option des schreiend Weglaufens verzichtet hat, sondern auch in anderen Lebenslagen, in denen man Menschen einfach mal aushalten muß.
Besonders zwei Mitglieder der Wahlkommission stellten mich dabei auf eine harte Probe. Zum einen die Renterin, die einen Menschenschlag verkörpert, bei dem die Contenance zu bewahren mir regelmäßig schwer fällt: Von nichts eine Ahnung, aber sobald man etwas erklärt, haben sie es schon immer gewußt (und sind dann doch immer noch überfordert, wenn zum fünften Male der Stimmzettel nicht im gelben Umschlag steckte, sondern lose im organgenen lag…).

Lächeln und winken,

irgendwann sind die Stimmen ja alle mal gezählt.
Mein Schicksal bedauert habe ich jedoch in Anbetracht des Unglücks, neben jemandem zu sitzen, der -ungelogen- die kompletten sechs Stunden hindurch redundant erwähnte, daß er nicht religiös sei, aber Menschen, die sich als Christen bezeichneten, dies jedoch nicht wirklich lebten, nicht ausstehen könne (dies bei jeder CDU-Stimme, und auch gerne mal zwischendurch) und er Schwule überhaupt für Abschaum hielte (dies, gerne auch mehrfach, bei jeder FDP-Stimme). Im Übrigen sei es notwendig, daß es endlich mal wieder krache und überhaupt, die Leute. Achja, und der Klassiker: In der DDR, da ginge es ihm ja nicht schlecht etc. pp.
Leider war das Repertoire nicht größer und auch die Variationen ließen zu wünschen übrig.
So viel aufgestauter Frust. Aber, auch hier hilft nur:

Lächeln und winken.

Denn: Verbohrtheiten wie diese lassen sich sehr schwer ausdiskutieren – erst Recht, da man ja einen Job zu erledigen hat. Und beginnt die Debatte einmal, bricht sich der aufgestaute Zorn einmal Bahn – das nimmt kein Ende…
Einzig auf seinen Kommentar, daß es wohl bald einen dritten Weltkrieg geben würde (dies samt sanften Leuchten in den Augen), ließ ich mich zu einer Antwort hinreißen. Dann wäre wenigstens Ruhe und die Skorpione dürften ran, gab ich zurück. Was aber auch unklug war, denn damit fiel ja dieses Thema weg und die Redundanz der anderen Themen erhöhte sich zwangsläufig.
Doch was dem Buchhändler der Feierabend, ist dem Wahlhelfer die letzte gezählte Stimme und halb zehn ist es ja noch hell.
Im Übrigen: Gerade Kommunalwahlen erfordern ein Höchstmaß an Konzentration von den AuszählerInnen. Man sollte das nicht unterschätzen – insbesondere, da grelles Orange nicht wirklich hilft, einen klaren Kopf zu behalten… 😉

Zum Schluß noch ein Kommentar meines Hausheiligen zum Thema Wahlen:

Denn winsch ick Sie ooch ne vajniechte Wahl! Halten
Sie die Fahne hoch! Hie alleweje! Un ick wer Sie mal
wat sahrn: Uffjelöst wern wa doch . . . rejiert wern
wa doch . . .
Die Wahl is der Rummelplatz des kleinen Mannes!
Det sacht Ihn ein Mann, der det Lehm kennt! Jute
Nacht -!
[in: Ein älterer, aber leicht besoffener Herr. Werke und Briefe: 1930, S. 478. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 7677 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 8, S. 215) (c) Rowohlt Verlag]