Das Buch zum Sonntag (103)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Yasmina Reza: »Kunst«

Die Frage, was denn nun Kunst sei, wurde bereits im Buch der letzten Woche durchaus debattiert. In Yasmina Rezas Stück »Kunst« steht diese Frage im Zentrum. Neben der Frage, was eine Freundschaft kann, muss und überhaupt eigentlich ausmacht.
Idealerweise sollte man Theaterstücke ja so wahrnehmen, wie sie gedacht sind: Auf der Bühne. Das geht, im Gegensatz zum zweiten hier empfohlenen Stück, bei »Kunst« recht gut, wird es doch immer wieder gespielt. Ich habe es auch tatsächlich durch eine Aufführung kennengelernt, in die mich mein sehr viel kunstsinniger Bruder mitnahm. Wenn ich mich recht entsinne, war ein Wanderensemble, das seinerzeit in der Moritzbastei Leipzig mit diesem Stück auftrat (ich war übrigens sehr viel mehr von der Leistung der Darsteller eingenommen als mein Bruder – aber wie gesagt, er ist der kunstsinnigere)

Allzu viele Worte möchte ich heute gar nicht verlieren, nur kurz skizzieren, worum es geht.
Wir lernen ein Freundetrio kennen: Serge, Marc und Yvan. Serge hat sich ein Kunstwerk gekauft. Für 200.000 Franc (ja, so alt ist das Stück schon 😉 ). Eine angesagte Galerie, ein angesagter Künstler, ein angemessener Preis.
Das Problem dabei ist – Marc und Yvan erkennen in dem Gemälde rein gar nichts (aus gutem Grund, ich sage nur so viel:

Für mich ist es nicht weiß. Wenn ich sage, für mich, dann meine ich objektiv. Objektiv gesehen ist es nicht weiß.

)

(S. 35)*

und reagieren nun, wie Freunde, Bekannte, der Umkreis gelegentlich reagieren, wenn sie finden, dass wir eine Dummheit begangen haben. Es entfacht sich eine Debatte, die schon sehr bald von der Frage, ob, das was die drei dort betrachten, ein Kunstwerk im Werte eines sechsstelligen Franc-Betrages sei, entfernt.
Reza lässt hier Stück für Stück die Frustrationen, die aus den jeweiligen Lebensentwürfen nebst ihren Abweichungen von den jeweiligen Lebensläufen resultieren, hervortreten.
Können Menschen befreundet sein, die so unterschiedliche Sichtweisen auf das Leben und was in diesem wichtig ist, haben?
Kann eine Freundschaft aushalten, dass der eine große Summen aus reinem Vergnügen ausgibt, während den anderen viel elementarere Geldsorgen plagen?
Kann ich akzeptieren, dass meinem Freund Dinge wichtig sind, die mir völlig egal sind?
Und überhaupt, sind eigentlich mein Leben, mein Lebensentwurf, meine Wertvorstellungen eigentlich nur im Vergleich zu anderen etwas wert?

Die drei haben also einen hübschen Berg abzuarbeiten.
Möglicherweise ist dieses eher frühe Stück nicht ihr elbaoriertestes, nicht ihr schärfstes, nicht ihr bestes Werk – aber ich finde es wirklich großartig, wie sie hier ihre Fähigkeit zeigt, Masken fallen zu lassen, Fassaden niederzureißen, die es uns sonst immer ermöglichen, an der Oberfläche unserer sozialen Interaktion zu bleiben, im Unverbindlichen des täglichen Miteinanders.
Und die Fadenscheinigkeit des Freundschaftsbegriffes auch ganz ohne Herrn Zuckerberg kann man sich nicht oft genug vor Augen führen. Was ist das, ein Freund?
Denkt mal bei der nächsten Aufführung von »Kunst«, die ganz sicher in naher Zukunft auf einer Bühne in eurer Nähe stattfinden wird, mit Frau Reza darüber nach.

Bis dahin kann man sich allerdings auch mit der

lieferbaren Ausgabe

behelfen.

P.S. Bemerke gerade, dass Frau Reza so alt war wie ich jetzt, als sie dieses Stück schrieb. Mhm.


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aus: Reza, Yasmina: »Kunst«. Libelle Verlag. Lengwil am Bodensee. 8. Aufl. 2012