Diva in Grau – Zum Tod von Helga Paris

Umschlagabbildung des Bandes »Diva in Grau« mit Fotografien von Helga Paris

Für Bildende Kunst in jeglicher Form bin ich kein Experte, mir fehlt da das viel gerühmte »Verständnis«. Vielleicht bin ich da nur untrainiert, vielleicht fehlen mir ein paar Wissenstatbestände, vielleicht ist es genetisch – keine Ahnung. Aber es gibt einige Bereiche, da finde ich zumindest einen Zugang. Und dies insbesondere in der Photographie.

Zwei Bildbände haben mich sehr tief berührt und schaffen es bis heute, dass ich mich in sie so tief versenken kann wie es mir sonst nur bei Textlektüren gelingt. Das ist zum einen Isolde Ohlbaums »Denn alle Lust will Ewigkeit« und zum anderen »Diva in Grau« eben von Helga Paris.

Gestern wurde bekannt, dass Helga Paris am 5. Februar verstorben ist. Ich kann Ihr Leben und Ihr Werk nicht würdigen, das möchte ich Berufeneren überlassen. Aber ich kann sagen, was mir die Bilder ihrer letztlich verbotenen Ausstellung Häuser und Gesichter in Halle bedeuten.

Die Bilder stammen aus den 80er Jahren, kurz vor dem Ende der DDR. Sie zeigen Menschen und Gebäude in einem Zustand, der nur wenige Jahre später nicht mehr existent war. Die rasante Geschwindigkeit des materiellen und immateriellen Wandels der frühen Neunziger Jahre fällt in meiner Biographie zusammen mit den Jahren der Pubertät, einer Phase der Identitätsbildung also. Und mir ging das alles viel zu schnell, ich hörte noch 1994 Stern Meißen (aber auch Nirvana) – durchaus als unbewusster Protest dagegen, dass alles, was meine Kindheit und frühe Jugend ausgemacht hatte nun nichts mehr galt und noch dazu einfach verschwand.

Natürlich ist es toll, dass die grandiose Bausubstanz Halles gerettet wurde, dass die Stadt aufblühte und dass sich auch mir völlig ungeahnte Möglichkeiten eröffneten. Aber so funktionieren Gefühle nun mal nicht. Die Orte meiner Kindheit existieren heute nicht mehr – das überrascht wohl kaum. Sie existierten aber auch schon während meiner Schulzeit nicht mehr. Das ist ein plötzlicher Verlust, der in all diesem Gefühlskonglomerat schwer wiegt. Ich trauere der DDR nicht nach. Es ist gut, dass es sie nicht mehr gibt. Doch ich hatte nie die Gelegenheit, mich selbst von ihr zu emanzipieren. Denn in der entscheidenden entwicklungspsychologischen Phase war sie einfach weg. Ich war zu jung, um die massive Veränderung freudig begrüßen zu können und zu alt, um sie einfach hinzunehmen. Zu sehr DDR-Kind, um einfach in die BRD hineinwachsen zu können und zu wenig DDR-Erwachsener, um die Freiheiten als Gewinn spüren zu können. Um das all das verstehen zu können, brauchte ich aber die Möglichkeit, mich konfrontieren zu können. Es ist kein Wunder, dass in der Literatur junge Erwachsene, die ihre Adoleszenz beenden wollen, ständig kathartische Erlebnisse bei der Rückkehr an die Orte ihrer Kindheit haben, an denen sich zwar das eine oder andere geändert haben mag – aber im Wesentlichen da sind eben doch noch.

Und dann stieß ich auf den Band »Diva in Grau«, dessen Titel nicht von Helga Paris, sondern von einem Begleittext stammt und der sich zu diesem Zeitpunkt schon lange als Bezeichnung für Halle etabliert hatte – und doch nicht mehr galt. Dass er so einschlug, ist indes kein Wunder, auch für mich ist er die perfekte Bezeichnung für die Stadt meiner Erinnerung. Die ich auf einmal wieder sah. Helga Paris` unverstellter, genauer Blick ist ein Teil der Faszination, die für mich auch heute von ihren Bildern ausgeht. Ihre Bilder dokumentieren ohne dokumentarisch zu sein. Denn sie fängt die Essenz, um nicht zu sagen: die Seele ihrer Motive ein – von Gebäuden nicht weniger als von den Menschen, die sie porträtiert. Und die Würde, die allem Menschlichen innewohnt.

Ich bin da, ich bin in diesen Straßen, ich stehe vor diesen Menschen, ich kenne die Häuserfassaden, die Straßenzüge, die Gesichter – und zwar durchaus ohne in jedem Fall die Adresse eines Hauses oder auch nur einmal den Namen eines Menschen benennen zu können. Und doch: Genau so war es. Es ist alles da und es sind alle da.

Dass es nicht nur meine eigenen Assoziationen oder die abgebildete Zeitspanne ist, die mich so stark rühren, zeigte sich mir daran, dass so viele andere Bilder aus dieser Zeit mich weitgehend kalt lassen, ja bestenfalls ein paar nostalgische Regungen hervorrufen. Bei Helga Paris‘ Photos aber öffnet sich mein Herz, spüre ich Emotionen, die irgendwo tief unten ganz unsortiert herumliegen.

»Helga Paris‘ fotografische Porträts zeigen nicht nur die abgebildete Person, in deren Blicken spiegelt sich auch die Person, die das Bild gemacht hat. Man sieht in den Augen der Fotografierten Vertrautheit, nie Hochmütigkeit oder Herablassung, Helga Paris hat die Kraft, die sie hatte, nie als Macht missbraucht. Niemand wurde aufgefordert, doch mal zu lachen.« schreibt Annett Gröschner in ihrer Würdigung. Und vielleicht ist es genau das, was ihre Bilder dazu bringt, Saiten beim Betrachtenden zum Schwingen zu bringen.

„Ich hab nicht das Gefühl gehabt, daß ich im lebenden Ding bin, im Gegenteil, ich weiß noch ganz genau, wie furchtbar mir die Kneipen vorkamen, und erst auf den Fotos von Helga Paris hab ich gesehen, da ist Leben.“ zitiert Gröschner zwischendrin Elke Erb.

Ja.