»Fragen werden ja von der Menschheit nicht gelöst, sondern liegen gelassen.« schreibt Kurt Tucholsky in »Gruß nach vorn« 1926.
Das ist meiner Meinung nach auch der Grund, warum uns so viele Texte aus früheren Zeiten so aktuell erscheinen. Sie sind es. Freilich nicht unbedingt, weil die Autor:innen so hellsichtig und prophetisch waren, sondern weil die Menschheit in entscheidenden Fragen einfach nicht vom Fleck kommt.
Und so mag es sinnvoll erscheinen, einmal nachzusehen, ob wir vom Antimilitaristen und Pazifisten Kurt Tucholsky für die heutige Zeit Impulse erhalten können.
Unter dem Motto »Der Krieg ist aber unter allen Umständen tief unsittlich.« stellt die Lesung aus dem Sammelband »Die Zeit schreit nach Satire« den Antimilitaristen Tucholsky in den Mittelpunkt – und weil das ein riesiger Bereich seines Schaffens darstellt, steht dabei seine Suche nach wirkungsvollem Pazifismus besonders im Fokus.
Nach der Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, als noch niemand wusste, dass wir Weltkriege dereinst zählen würden – etliche es aber ahnten – etablierte sich auch in Deutschland eine wachsende Pazifismusbewegung.
Diese gesellschaftliche Bewegung stellte sich mit der zentralen Forderung »Nie wieder Krieg!« dem tief verankerten Militarismus entgegen. Trotz teils beeindruckender Großveranstaltungen gelang es aber nie, nachhaltig in die ganze Gesellschaft hineinzuwirken.
Die Suche nach einem wirkungsvollen Pazifismus prägte Tucholskys umfangreiches antimilitaristisches Werk. Die Lesung stellt einige seiner Texte dazu vor.
Die Pazifismusbewegung der Weimarer Republik scheiterte. Ahistorische Vergleich verbieten sich – wir müssen nach dem 2. Weltkrieg anders über militärische Interventionen reden.
Aber vielleicht können Tucholskys Texte dennoch dazu anregen, über wirkungsvollen Pazifismus heute nachzudenken. Damit wir die Weltkriege nicht weiter hochzählen müssen.
Vor wenigen Tagen verstarb Dr. Ian King. Er war im Laufe seines beruflichen Lebens unter anderem Dozent, Germanist, Übersetzer und Journalist – um nur einige Stationen zu nennen. Seine reichhaltige Arbeit mögen dafür Berufene würdigen, mir steht das weder zu noch wäre ich dazu auch nur annähernd in der Lage. Ich möchte an den Menschen erinnern, den ich kennen und schätzen gelernt habe.
Vor allem nämlich war Ian Tucholsky-Liebhaber. Mir fehlt ein besseres Wort, aber so richtig trifft es das nicht, denn Tucholsky widmete er sein Leben. Man konnte Ian zu jeder Tag- und Nachtzeit mit einer Tucholsky-Frage kontaktieren, es kam stets innerhalb kürzester Frist eine aussagekräftige Antwort. Liebhaber scheint mir für diese Leidenschaft ein zu geringes Wort.
Das erste Mal getroffen habe ich Ian bei der Tagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft 2012, von deren Existenz ich erst kurz vorher erfahren hatte, in Rheinsberg. Eine Tagung, die zeitgleich mit einem Neonazi-Aufmarsch stattfand – damals war man noch genötigt, steigende Benzin-Preise als Aufhänger zu nehmen – und an der Gegenwehr beteiligte sich natürlich auch die KTG. Draußen auf der Straße Flagge zeigen gegen Nazis, drinnen über das komplexe Verhältnis von Tucholsky zu den Frauen in seinem Leben nachdenken. Es war meine erste Tagungsteilnahme und ich dachte mir: Also, da kommste wieder hin.
Erheblichen Anteil daran hatte auch dieser nicht sehr hochgewachsene, vollkommen unprätentiöse, an Selbstironie nie sparende, unentwegt spöttelnde Schotte, der durch die Tagung führte. In den folgenden Jahren habe ich intensiv mit Ian im Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft zusammengearbeit – und wir waren während dieser Zeit so gut wie nie einer Meinung. Wir stritten miteinander wie wohl nur Menschen streiten können, die ein gemeinsames Ziel verbindet: Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft. Für diese brannte Ian, das war in jedem Moment zu spüren. Sich selbst schonte er dabei nie – um der KTG Ausgaben zu erparen, übernachtete er auf Flughäfen, reiste mit einer Plastetüte als einzigem Gepäck und musste von der Notwendigkeit eines Jacketts bei offiziellen Veranstaltungen mühsam überzeugt werden. Dementsprechend engagiert setzte er sich für das ein, was er als richtig und notwendig erachtete. Nicht laut, nie die Contenance verlierend (und in dieser Hinsicht mir meilenweit voraus), klar in der Sache, entschieden in seiner Meinung – und immer mit dieser leisen Ironie, die ihn selbst nie ausschloss.
Es mag in dieser Zeit der zunehmenden Tribalisierung erstaunen, aber tatsächlich ist es möglich, trotz fundamental unterschiedlicher Ansichten, zusammenzuarbeiten. Unsere Namen stehen zum Beispiel gemeinsam in Tagungsbänden, Rundbriefen, einem KTG-Lesebuch, dem Deniz-Yücel-Solidaritätsband – so sehr ich mich auch geärgert haben mag, es war eine fruchtbare Zeit, die die KTG vorangebracht hat.
Leichter zueinander fanden wir an den langen Abenden, die so mancher Vorstandssitzung folgten. Ian war ein aufmerksamer Beobachter der Zeitenläufte, ob nun die Verirrungen der britischen Politik oder das wechselhafte Schicksal seines Lieblingsfußballvereins – sein Themenspektrum war durchaus breit. An einem dieser Abende mit langen Gesprächen über, naja, das Leben, das Universum und den ganzen Rest, stellten wir so unsere gemeinsame Verehrung des großartigen Douglas Adams fest. Das Zitieren unserer Lieblingsstellen (er auf Englisch, ich auf Deutsch) bleibt mir als eine meiner liebsten Erinnerungen. Ich war nicht dabei, als er während des London-Besuches meiner Frau und meiner Tochter Zeit für die beiden hatte. Aber ich bin ihm dankbar dafür – dass beide zu seiner Beerdigung anreisen werden, hat mit dem tiefen Eindruck zu tun, den er auf die beiden gemacht hat.
Wir haben uns in den letzten Jahren voneinander entfernt. Für mich endete das Projekt Kurt Tucholsky-Gesellschaft – für Ian ging es in neuer Rolle weiter. Dass die KTG, die er einst mitgegründet hatte, ihn zum Ehrenvorsitzenden ernannte, war mehr als nur folgerichtig. Wir gingen auch persönlich nicht im Guten auseinander: Bei unserem letzten Zusammentreffen verweigerte Ian mir den Handschlag. Ich bedaure zutiefst, dass es mir nicht gelungen ist, ihm meine Wertschätzung für ihn zu vermitteln.
So bleibt mir nun nur, ihm als letzten Gruß über den Kanal zuzurufen: So long, and thanks for all the fish.
Er wird mir fehlen, dieser schottische Sturkopf.
Nachtrag, 03.10.2023: Ians Freunde haben eine Gedenkseite mit umfangreichen Würdigungen seines Lebens für ihn eingerichtet. Dort besteht zum einen die Möglichkeit, der Trauerfeier live zu folgen (oder sie innerhalb von 28 Tagen nachzusehen). Zum anderen kann dort für Cancer Research UK gespendet werden, die Ian während seiner Krebserkrankung unterstützt haben.
Zitate: Woher sie kommen und wohin sie führen können.
Der erste Newsletter stand unter dem Motto »Kontext ist wichtig« und beinhaltet eine kleine Zitatekunde, die mir möglicherweise etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Nachlesen könnt ihr den Beitrag bei substack, wo auch die Möglichkeit besteht, den Newsletter direkt zu abonnieren.
Es ist ein hochspannender Prozess, der da seit ein paar Jahren beobachtet werden kann: Ein Rückzug ins Digital-Private. Wichtige Inhalte werden nicht mehr öffentlich auf bekannten sozialen Medienplattformen publiziert, sondern im geschützten Raum der Abonennten. Das gilt natürlich nicht erst, seit wir wissen, dass Hirse-Hitler seine Fans über Telegram anschreibt.
Die Renaissance des email-Newsletters ist schon länger zu beobachten und nimmt zunehmend Fahrt auf. Was ihr schon allein daran erkennt, dass so ein Late-Adopter wie ich jetzt damit anfange (wahrscheinlich kurz bevor ich mir ein TikTok-Konto zulege 😉 )
Jedenfalls: Drüben bei Substack (auf diese Plattform hat mich die wunderbare Berit Glanz mit ihrem nicht weniger wunderbaren Projekt »Phoneurie« gebracht) gibt es in Kürze »Neues aus der Wrobelei«.
Und darum soll es gehen:
Nicht erst seit dem Wiedererstarken des verdeckt und offen auftretenden Faschismus in Deutschland und Europa, wendet sich der Blick ein Jahrhundert zurück, in die gescheiterte Republik von Weimar.
Was ich hier versuchen möchte: Die Gegenwart ein wenig durch die Linse des Werks von Kurt Tucholsky und seiner Rezeption zu betrachten. Ich glaube, dass es spannend sein kann, heutige Rückgriffe mit dem Blick des Zeitgenossen zu kontrastieren. Oder heutige Debatten ähnlichen Debatten aus dem »Babylon Berlin« gegenüberzustellen. Und sonst interessante Dinge mit Tucholsky- oder Weltbühnenbezug, die mir so begegnen. 🙂
Der Titel »Neues aus der Wrobelei« ist freilich selbst bereits Referenz. Die Nicht-Tucholsky-Referenz überlasse ich dabei Suchwilligen. Die andere sei kurz erläutert:
Ignaz Wrobel war eines der 5 PS, seiner fünf Finger an einer Hand, in Kurt Tucholskys Schaffen. Seinen Ignaz Wrobel, benannt nach dem ungeliebten Mathematik-Lehrbuch und dem hässlichsten Vornamen, den er sich denken konnte, beschreibt er so:
Wrobel, einen essigsauern, bebrillten, blaurasierten Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare [aus: Start, 1927]
Und so sind denn auch viele der Texte, die er unter diesem Pseudonym veröffentlichte: Grantelnd, mosernd, die Schlechtigkeit der Menschen anklagend. Aber eben auch: Aufklärerisch, moralisch unbeirrt, bitter-ironisch. Mit 16, als ich das erste Mal durch die Raddatz-Ausgabe durch war*, wäre Ignaz Wrobel kein Pseudonym gewesen, mit dem ich mich irgendwie hätte identifizieren wollen oder können.
Ein paar Jahrzehnte und Kompromisse mit der Welt später, fühle ich mich ihm doch deutlich näher. Schlußendlich aber soll Tucholskys Charakterisierung des Satirikers als Leitspruch über diesem Projekt stehen:
Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an. [aus: Was darf die Satire?, 1919]
Ich plane derzeit 1-2 Newsletter je Monat, los geht es Ende November 2020. Bis dahin, tell your friends!
*was hier nur als Zustandsbeschreibung verstanden werden soll, nicht als fishing for compliments, ich war nicht sozial eingebunden und Bücher waren sozusagen meine Freunde, da sind 10 Bände keine allzu ausufernde Beschäftigung – mal ganz davon abgesehen, dass die Jugend aufgrund ihrer kurzen Lesebiographie eine Phase zu sein scheint, in der noch so viel neu und aufregend ist, dass erstaunliche Lesetempi entstehen, ich jedenfalls habe nie wieder so viel »weggelesen« wie zwischen 14 und 18
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