Diva in Grau – Zum Tod von Helga Paris

Umschlagabbildung des Bandes »Diva in Grau« mit Fotografien von Helga Paris

Für Bildende Kunst in jeglicher Form bin ich kein Experte, mir fehlt da das viel gerühmte »Verständnis«. Vielleicht bin ich da nur untrainiert, vielleicht fehlen mir ein paar Wissenstatbestände, vielleicht ist es genetisch – keine Ahnung. Aber es gibt einige Bereiche, da finde ich zumindest einen Zugang. Und dies insbesondere in der Photographie.

Zwei Bildbände haben mich sehr tief berührt und schaffen es bis heute, dass ich mich in sie so tief versenken kann wie es mir sonst nur bei Textlektüren gelingt. Das ist zum einen Isolde Ohlbaums »Denn alle Lust will Ewigkeit« und zum anderen »Diva in Grau« eben von Helga Paris.

Gestern wurde bekannt, dass Helga Paris am 5. Februar verstorben ist. Ich kann Ihr Leben und Ihr Werk nicht würdigen, das möchte ich Berufeneren überlassen. Aber ich kann sagen, was mir die Bilder ihrer letztlich verbotenen Ausstellung Häuser und Gesichter in Halle bedeuten.

Die Bilder stammen aus den 80er Jahren, kurz vor dem Ende der DDR. Sie zeigen Menschen und Gebäude in einem Zustand, der nur wenige Jahre später nicht mehr existent war. Die rasante Geschwindigkeit des materiellen und immateriellen Wandels der frühen Neunziger Jahre fällt in meiner Biographie zusammen mit den Jahren der Pubertät, einer Phase der Identitätsbildung also. Und mir ging das alles viel zu schnell, ich hörte noch 1994 Stern Meißen (aber auch Nirvana) – durchaus als unbewusster Protest dagegen, dass alles, was meine Kindheit und frühe Jugend ausgemacht hatte nun nichts mehr galt und noch dazu einfach verschwand.

Natürlich ist es toll, dass die grandiose Bausubstanz Halles gerettet wurde, dass die Stadt aufblühte und dass sich auch mir völlig ungeahnte Möglichkeiten eröffneten. Aber so funktionieren Gefühle nun mal nicht. Die Orte meiner Kindheit existieren heute nicht mehr – das überrascht wohl kaum. Sie existierten aber auch schon während meiner Schulzeit nicht mehr. Das ist ein plötzlicher Verlust, der in all diesem Gefühlskonglomerat schwer wiegt. Ich trauere der DDR nicht nach. Es ist gut, dass es sie nicht mehr gibt. Doch ich hatte nie die Gelegenheit, mich selbst von ihr zu emanzipieren. Denn in der entscheidenden entwicklungspsychologischen Phase war sie einfach weg. Ich war zu jung, um die massive Veränderung freudig begrüßen zu können und zu alt, um sie einfach hinzunehmen. Zu sehr DDR-Kind, um einfach in die BRD hineinwachsen zu können und zu wenig DDR-Erwachsener, um die Freiheiten als Gewinn spüren zu können. Um das all das verstehen zu können, brauchte ich aber die Möglichkeit, mich konfrontieren zu können. Es ist kein Wunder, dass in der Literatur junge Erwachsene, die ihre Adoleszenz beenden wollen, ständig kathartische Erlebnisse bei der Rückkehr an die Orte ihrer Kindheit haben, an denen sich zwar das eine oder andere geändert haben mag – aber im Wesentlichen da sind eben doch noch.

Und dann stieß ich auf den Band »Diva in Grau«, dessen Titel nicht von Helga Paris, sondern von einem Begleittext stammt und der sich zu diesem Zeitpunkt schon lange als Bezeichnung für Halle etabliert hatte – und doch nicht mehr galt. Dass er so einschlug, ist indes kein Wunder, auch für mich ist er die perfekte Bezeichnung für die Stadt meiner Erinnerung. Die ich auf einmal wieder sah. Helga Paris` unverstellter, genauer Blick ist ein Teil der Faszination, die für mich auch heute von ihren Bildern ausgeht. Ihre Bilder dokumentieren ohne dokumentarisch zu sein. Denn sie fängt die Essenz, um nicht zu sagen: die Seele ihrer Motive ein – von Gebäuden nicht weniger als von den Menschen, die sie porträtiert. Und die Würde, die allem Menschlichen innewohnt.

Ich bin da, ich bin in diesen Straßen, ich stehe vor diesen Menschen, ich kenne die Häuserfassaden, die Straßenzüge, die Gesichter – und zwar durchaus ohne in jedem Fall die Adresse eines Hauses oder auch nur einmal den Namen eines Menschen benennen zu können. Und doch: Genau so war es. Es ist alles da und es sind alle da.

Dass es nicht nur meine eigenen Assoziationen oder die abgebildete Zeitspanne ist, die mich so stark rühren, zeigte sich mir daran, dass so viele andere Bilder aus dieser Zeit mich weitgehend kalt lassen, ja bestenfalls ein paar nostalgische Regungen hervorrufen. Bei Helga Paris‘ Photos aber öffnet sich mein Herz, spüre ich Emotionen, die irgendwo tief unten ganz unsortiert herumliegen.

»Helga Paris’ fotografische Porträts zeigen nicht nur die abgebildete Person, in deren Blicken spiegelt sich auch die Person, die das Bild gemacht hat. Man sieht in den Augen der Fotografierten Vertrautheit, nie Hochmütigkeit oder Herablassung, Helga Paris hat die Kraft, die sie hatte, nie als Macht missbraucht. Niemand wurde aufgefordert, doch mal zu lachen.« schreibt Annett Gröschner in ihrer Würdigung. Und vielleicht ist es genau das, was ihre Bilder dazu bringt, Saiten beim Betrachtenden zum Schwingen zu bringen.

„Ich hab nicht das Gefühl gehabt, daß ich im lebenden Ding bin, im Gegenteil, ich weiß noch ganz genau, wie furchtbar mir die Kneipen vorkamen, und erst auf den Fotos von Helga Paris hab ich gesehen, da ist Leben.“ zitiert Gröschner zwischendrin Elke Erb.

Ja.

In memoriam Dr. Ian King

Dr. Ian King bei der Tagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft 2014 in Dresden (c) Klaus Leesch
Dr. Ian King bei der Tagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft 2014 in Dresden (c) Klaus Leesch
Dr. Ian King bei der Tagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft 2014 in Dresden (c) Klaus Leesch

Vor wenigen Tagen verstarb Dr. Ian King. Er war im Laufe seines beruflichen Lebens unter anderem Dozent, Germanist, Übersetzer und Journalist – um nur einige Stationen zu nennen. Seine reichhaltige Arbeit mögen dafür Berufene würdigen, mir steht das weder zu noch wäre ich dazu auch nur annähernd in der Lage. Ich möchte an den Menschen erinnern, den ich kennen und schätzen gelernt habe.

Vor allem nämlich war Ian Tucholsky-Liebhaber. Mir fehlt ein besseres Wort, aber so richtig trifft es das nicht, denn Tucholsky widmete er sein Leben. Man konnte Ian zu jeder Tag- und Nachtzeit mit einer Tucholsky-Frage kontaktieren, es kam stets innerhalb kürzester Frist eine aussagekräftige Antwort. Liebhaber scheint mir für diese Leidenschaft ein zu geringes Wort.

Das erste Mal getroffen habe ich Ian bei der Tagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft 2012, von deren Existenz ich erst kurz vorher erfahren hatte, in Rheinsberg. Eine Tagung, die zeitgleich mit einem Neonazi-Aufmarsch stattfand – damals war man noch genötigt, steigende Benzin-Preise als Aufhänger zu nehmen – und an der Gegenwehr beteiligte sich natürlich auch die KTG. Draußen auf der Straße Flagge zeigen gegen Nazis, drinnen über das komplexe Verhältnis von Tucholsky zu den Frauen in seinem Leben nachdenken. Es war meine erste Tagungsteilnahme und ich dachte mir: Also, da kommste wieder hin.

Erheblichen Anteil daran hatte auch dieser nicht sehr hochgewachsene, vollkommen unprätentiöse, an Selbstironie nie sparende, unentwegt spöttelnde Schotte, der durch die Tagung führte. In den folgenden Jahren habe ich intensiv mit Ian im Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft zusammengearbeit – und wir waren während dieser Zeit so gut wie nie einer Meinung. Wir stritten miteinander wie wohl nur Menschen streiten können, die ein gemeinsames Ziel verbindet: Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft. Für diese brannte Ian, das war in jedem Moment zu spüren. Sich selbst schonte er dabei nie – um der KTG Ausgaben zu erparen, übernachtete er auf Flughäfen, reiste mit einer Plastetüte als einzigem Gepäck und musste von der Notwendigkeit eines Jacketts bei offiziellen Veranstaltungen mühsam überzeugt werden. Dementsprechend engagiert setzte er sich für das ein, was er als richtig und notwendig erachtete. Nicht laut, nie die Contenance verlierend (und in dieser Hinsicht mir meilenweit voraus), klar in der Sache, entschieden in seiner Meinung – und immer mit dieser leisen Ironie, die ihn selbst nie ausschloss.

Es mag in dieser Zeit der zunehmenden Tribalisierung erstaunen, aber tatsächlich ist es möglich, trotz fundamental unterschiedlicher Ansichten, zusammenzuarbeiten. Unsere Namen stehen zum Beispiel gemeinsam in Tagungsbänden, Rundbriefen, einem KTG-Lesebuch, dem Deniz-Yücel-Solidaritätsband – so sehr ich mich auch geärgert haben mag, es war eine fruchtbare Zeit, die die KTG vorangebracht hat.

Leichter zueinander fanden wir an den langen Abenden, die so mancher Vorstandssitzung folgten. Ian war ein aufmerksamer Beobachter der Zeitenläufte, ob nun die Verirrungen der britischen Politik oder das wechselhafte Schicksal seines Lieblingsfußballvereins – sein Themenspektrum war durchaus breit. An einem dieser Abende mit langen Gesprächen über, naja, das Leben, das Universum und den ganzen Rest, stellten wir so unsere gemeinsame Verehrung des großartigen Douglas Adams fest. Das Zitieren unserer Lieblingsstellen (er auf Englisch, ich auf Deutsch) bleibt mir als eine meiner liebsten Erinnerungen. Ich war nicht dabei, als er während des London-Besuches meiner Frau und meiner Tochter Zeit für die beiden hatte. Aber ich bin ihm dankbar dafür – dass beide zu seiner Beerdigung anreisen werden, hat mit dem tiefen Eindruck zu tun, den er auf die beiden gemacht hat.

Wir haben uns in den letzten Jahren voneinander entfernt. Für mich endete das Projekt Kurt Tucholsky-Gesellschaft – für Ian ging es in neuer Rolle weiter. Dass die KTG, die er einst mitgegründet hatte, ihn zum Ehrenvorsitzenden ernannte, war mehr als nur folgerichtig. Wir gingen auch persönlich nicht im Guten auseinander: Bei unserem letzten Zusammentreffen verweigerte Ian mir den Handschlag. Ich bedaure zutiefst, dass es mir nicht gelungen ist, ihm meine Wertschätzung für ihn zu vermitteln.

So bleibt mir nun nur, ihm als letzten Gruß über den Kanal zuzurufen: So long, and thanks for all the fish.

Er wird mir fehlen, dieser schottische Sturkopf.

Nachtrag, 03.10.2023:
Ians Freunde haben eine Gedenkseite mit umfangreichen Würdigungen seines Lebens für ihn eingerichtet. Dort besteht zum einen die Möglichkeit, der Trauerfeier live zu folgen (oder sie innerhalb von 28 Tagen nachzusehen). Zum anderen kann dort für Cancer Research UK gespendet werden, die Ian während seiner Krebserkrankung unterstützt haben.

Michael Peinkofer: Die Welt der Orks

Die Orks Balbok und Rammar sind Könige auf einer Insel, auf der ihre Herrschaft von niemandem in Frage gestellt wird. Und so könnten sie ein bequemes Leben führen – also zumindest ein solches, das den Ork-Definitionen von »bequem« entspricht. Aber wie das so ist: Das Universum hat andere Pläne. Sturm, Donner und ein mächtiges Beben erschüttern die Insel. Während Rammar das Ganze auf sich beruhen lassen will, treiben Neugier und Sorge Balbok dazu, unbedingt nachzuschauen, ob da nicht Kuruls Keule vom Himmel gefallen ist. Und damit fängt der ganze Schlamassel an.

Michael Peinkofer schreibt hier mit geübter Hand ein klassisches Fantasy-Abenteuer mit allem, was dazu gehört: Ein Jüngling auf Aventüre, bärbeißig-liebevolle Mentoren, dunkle Zauberer, bösartige Unterdrücker, hinterhältige Antagonist:innen, Drachen und unscheinbare Bewohner:innen, die ungeahnte Fähigkeiten in sich entdecken.

Doch auch wenn hier die Konventionen des Genres an keiner Stelle verlassen werden: Peinkofer versteht sein Handwerk und so ist es ein echtes Vergnügen, den Helden auf ihrer unfreiwilligen Reise zu folgen. Seine Charakterzeichnungen sind mitreißend, seine Helden sympathisch und das Setting der geradlinigen Orks, die sich um die komplexen Strukturen der Gesellschaft, in die sie unversehens geraten, keinen Deut scheren, sorgt immer wieder für äußerst komische Situationen.

Dieses Buch war ein großes Vergnügen, ich wurde wunderbar unterhalten.

Buchdetails:
Michael Peinkofer: Die Welt der Orks. Knaur München 2022. ISBN 978-3-426-22775-6. 431 Seiten, Paperback, 16,99 €, als ebook 14,99 €
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Bücher nur für Elitepartner?

Vor nun doch schon einem knappen Monat stieß ich auf diesen Tweet, in dem Katharina Herrmann ihrem Ärger über den Buchmarkt bzw. den Literaturbetrieb Luft machte:

Nun sind ihre Vorwürfe nicht ganz von der Hand zu weisen: Aktuelle Bücher sind nicht so ohne weiteres in einem immer weiter diversifizierenden Medienbudget [Rundfundgebühren (18€), Videostreaming (10€), Audiostreaming (10€), Internetzugang (29€) – und da ist noch kein Buch gekauft, da war man in keinem Kino, in keinem Konzert, bei keiner Lesung] unterzubringen. Und ein Buch wie Obamas Memoiren mit 42 € schon gleich gar nicht. Das können sich nur Menschen mit entsprechendem Einkommen leisten. Doch selbst ohne ein solches Werk: Wieviel Literatur ist überhaupt drin? Es ist schwierig, ein Werk unter 20 € auf den Markt zu bringen. Da dürfte für einen Großteil der hiesigen Bevölkerung kaum ein Buch pro Monat drin sein.

Und ja, es gibt genug Literaturbetriebsnudeln, die nicht mehr wissen, was es bedeutet ein Buch zu kaufen. Ich habe das in meiner Kleinstverlegerzeit auch selbst erleben dürfen, dass Menschen mit großem Namen, deren Monatsverdienst dem Gegenwert nicht nur eines Buchprojektes entsprechen dürfte, kostenlose Leseexemplare anforderten – ohne dann aber wenigstens ihre Reichweite für eine Rezension zu nutzen. Das dürfte kein Einzelfall sein. Genauso wie es im Buchhandel zahlreiche Kollegʔinnen gibt, die mit zum Teil unverfrorener Selbstverständlichkeit LEX anfordern, ganz ohne das jeweilige Buch lesen, ver- oder einkaufen zu wollen. Und so weiter und so weiter, die Reihe ließe sich noch lange fortsetzen. Belassen wir es aber bei der Feststellung: Ja, das gibt es und ja, das ist durchaus verbreitet. Trotzdem sind die Ladenpreise nicht der richtige Ansatz, um das Problem der Zugänglichkeit zu lösen.

EXKURS: Warum ich den Preis für keinen Wucher halte. überspringen

Was liegt denn hier vor? Doch wohl ein Geschäft, eine kapitalistische Institution, ein Gewerbe. Das Buch ist Ware. Gegen diesen Satz sträuben sie sich alle noch immer.

Kurt Tucholsky, Der Deutsche Buchhändler, in: Die Schaubühne, 08.01.1914, Nr. 2, S. 31.

Und sie sträuben sich auch über 100 Jahre später noch. Trotzdem ist er wahr. So ein Buch muss sich rechnen. Nun sind die Einkaufskosten bei Obama massiv. Barack und Michelle Obama erhielten etwa 65 Millionen Dollar von Penguin Random House. Dieses Geld muss wieder reinkommen. Denn die üblichen Kosten entstehen ja weiterhin. Es ist im internationalen Buchgeschäft durchaus üblich, dass im Wettbeewerb um Lizenzen auch die eigenen Konzerntöchter mitbieten müssen. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Penguin Deutschland für die deutsche Ausgabe eine erhebliche Summe an die US-Kollegen zahlen durfte. Um nun auch noch das zeitgleiche Erscheinen zu ermöglichen, dürften die Übersetzungskosten ebenfalls nicht unerheblich gewesen sein.

Ich kenne die internen Zahlen natürlich nicht, aber schon allein vor diesem Hintergrund dürfen wir annehmen, dass die Stückkosten weit über allem liegen, was im Verlag üblicherweise aufgerufen wird. Besonders schmal ist der Band auch nicht, das schlägt nicht nur auf die Druckkosten, sondern natürlich auf alle Herstellungskosten inkl. der Übersetzung (die üblicherweise nach Umfang bezahlt werden).

Jetzt dürfen wir ohne weiteres vermuten, dass Obamas Memoiren alles sein dürfen, aber gewiss kein Minusgeschäft. Die Memoiren sind zum Erfolg verdammt. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass hier auch ein Ladenpreis von sagen wir mal, 35 € machbar wäre. Das Problem dabei: Die Zielgruppe wüchse dabei gar nicht mal erheblich. Die Zahl derer, die das Buch kaufen würden und für die 35€ nicht zu viel sind, 42 € aber schon, ist gar nicht mal so groß. Will sagen: Es ist absolut nachvollziehbar, dann die Marge zu erhöhen. Und man hatte damit Recht.

Kurz: So wie der Markt strukturiert ist und funktioniert, sind 42 € ein nachvollziehbarer Preis. Und auch ganz generell muss fairerweise festgehalten werden, dass die Preise für Bücher sich seit Jahrzehnten weit hinter der Inflationsrate entwickeln (hier mal eine Auswertung von 2019 und eine längere Studie von 2015).

Allerdings ist das Ergebnis gesellschaftlich wohl kaum befriedigend. Denn der Markt regelt das mal wieder auf seine ganz eigene Art: Mit Exklusivität. Dein Budget gibt keine 42 € her? Ja, tut mir leid, dann kannste halt nicht mitreden. Das kann nicht unser Anspruch sein.

Als hochzivilisierte Gesellschaft haben wir aber bereits eine funktionierende Idee entwickelt: Bibliotheken. Und hier müssen wir ansetzen.

Sie wollten nicht bevormundet sein. Sie wollten allein dem Käufer empfehlen und raten. Überhaupt seien sie es, denen die Kulturförderung obliege.
Sie liegt ihnen ob. Erfüllen sie ihre Obliegenheit? Nein.
Es klafft der Zwiespalt, Geld verdienen zu müssen und Kultur fördern zu wollen. Das Geldverdienen erschweren sie sich – das ist ihre Sache; die Kultur auf dem Büchermarkt wird durchaus nicht gefördert – das ist unsre Sache.

Kurt Tucholsky, Der Deutsche Buchhändler, in: Die Schaubühne, 08.01.1914, Nr. 2, S. 31.

Der deutsche Buchhandel beansprucht für sich eine Sonderstellung, die ihm politisch auch gewährt wird. Sei es die Buchpreisbindung, seien es Buchhandlungs- und Verlagspreise oder sonstige Förderungen. Insbesondere die Autorʔinnenförderung durch Stipendien und Preise sei hier erwähnt, denn von den Buchverkäufen können nur sehr, sehr wenige Autorʔinnen leben (sehr wohl aber so mancher Verlag und eine doch immer noch erkleckliche Anzahl Buchhandlungen).

Gleichzeitg weigert sich die Branche aber, Bibliotheken ihre Arbeit zu ermöglichen. Deren gesellschaftliches Aufgabenspektrum ist vielfältig, die Zugänglichmachung von Literatur und Wissen steht aber weiterhin im Zentrum. Im 21. Jahrhundert, in dem nun wirklich der größte Teil der relevanten Erzeugnisse digital erscheinen, wäre diese Aufgabe nun äußerst leicht zu erfüllen.

Statt aber hier in den Bibliotheken wichtige Partner zu sehen (Bibliotheksnutzerʔinnen können Multiplikatorʔinnen sein, sind nicht selten zudem auch ganz erhebliche Buchkäuferʔinnen, Bibliotheken selbst sind wichtige Begegnungsorte, an denen Zielgruppen passgenau angesprochen werden können etc. etc.), schaffen es die Verlage, sie sich zu Gegnern zu machen. Ein nicht geringer Teil der Energie, die Bibliotheken in OpenAccess-Bewegungen investieren, speist sich aus Wut und Verzweiflung. Und die Verlage der schönen Literatur verhält sich da nicht wirklich besser als die Wissenschaftsverlage. Anstatt also tragfähige Lösungen anzubieten, werden Lizenzmodelle angeboten, die sich am Kauf eines Printexemplares orientieren und dazu führen, dass Bibliotheken solchen Unsinn anbieten müssen wie das Vormerken auf ein ebook, weil es gerade ausgeliehen ist.

Hier wäre gesellschaftliches und politisches Schwergewicht nötig, um hier endlich Bibliotheken wieder zu ermöglichen, zeitgemäß und angemessen wichtige Werke all jenen zugänglich zu machen, die nicht alles, was sie eventuell interessieren könnte, mal auf Verdacht zu kaufen. Das wäre vor allem deshalb auch zeitgemäß, weil Besitz längst nicht mehr den überragenden Stellenwert im Wertekanon hat. Viel wichtiger sind Verfügbarkeit und Nutzbarkeit. Das ist selbst im trägen Buchhandel angekommen, auch wenn der das nicht so recht zu merken scheint.

Mit ausreichend ermächtigten Bibliotheken könnten wir auch viel leichter Menschen abfangen, ehe sie glauben, eine nur über Fernleihe verfügbare Dissertation wäre inexistent oder youtuber Mike wisse alles viel genauer als der wissenschaftliche Konsens. Stattdessen führen wir wieder Priesterwissen ein.

In Sachen Literatur wird uns da kein Markt retten. Das müssen wir schon selbst in die Hand nehmen. Also: Support your local library. Und das meint nicht nur, hol Dir einen Benutzerausweis. Sondern wann immer Zugang zu Werken problematisiert wird: Empfehlt starke Bibliotheken als Lösung. Das ist nicht mal radikal, denn sie haben seit Jahrtausenden bewiesen, dass sie die Lösung sein können.

Disclaimer: Der Autor verdient sein Geld als Buchhändler und war knapp 20 Jahre Verleger in einem Kleinstverlag.

Neues aus der Wrobelei: Der Newsletter

Es ist ein hochspannender Prozess, der da seit ein paar Jahren beobachtet werden kann: Ein Rückzug ins Digital-Private. Wichtige Inhalte werden nicht mehr öffentlich auf bekannten sozialen Medienplattformen publiziert, sondern im geschützten Raum der Abonennten. Das gilt natürlich nicht erst, seit wir wissen, dass Hirse-Hitler seine Fans über Telegram anschreibt.

Die Renaissance des email-Newsletters ist schon länger zu beobachten und nimmt zunehmend Fahrt auf. Was ihr schon allein daran erkennt, dass so ein Late-Adopter wie ich jetzt damit anfange (wahrscheinlich kurz bevor ich mir ein TikTok-Konto zulege 😉 )

Jedenfalls: Drüben bei Substack (auf diese Plattform hat mich die wunderbare Berit Glanz mit ihrem nicht weniger wunderbaren Projekt »Phoneurie« gebracht) gibt es in Kürze »Neues aus der Wrobelei«.

Und darum soll es gehen:

Nicht erst seit dem Wiedererstarken des verdeckt und offen auftretenden Faschismus in Deutschland und Europa, wendet sich der Blick ein Jahrhundert zurück, in die gescheiterte Republik von Weimar.

Was ich hier versuchen möchte: Die Gegenwart ein wenig durch die Linse des Werks von Kurt Tucholsky und seiner Rezeption zu betrachten. Ich glaube, dass es spannend sein kann, heutige Rückgriffe mit dem Blick des Zeitgenossen zu kontrastieren. Oder heutige Debatten ähnlichen Debatten aus dem »Babylon Berlin« gegenüberzustellen. Und sonst interessante Dinge mit Tucholsky- oder Weltbühnenbezug, die mir so begegnen. 🙂

Der Titel »Neues aus der Wrobelei« ist freilich selbst bereits Referenz. Die Nicht-Tucholsky-Referenz überlasse ich dabei Suchwilligen. Die andere sei kurz erläutert:

Ignaz Wrobel war eines der 5 PS, seiner fünf Finger an einer Hand, in Kurt Tucholskys Schaffen. Seinen Ignaz Wrobel, benannt nach dem ungeliebten Mathematik-Lehrbuch und dem hässlichsten Vornamen, den er sich denken konnte, beschreibt er so:

Wrobel, einen essigsauern, bebrillten, blaurasierten Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare [aus: Start, 1927]

Und so sind denn auch viele der Texte, die er unter diesem Pseudonym veröffentlichte: Grantelnd, mosernd, die Schlechtigkeit der Menschen anklagend. Aber eben auch: Aufklärerisch, moralisch unbeirrt, bitter-ironisch.
Mit 16, als ich das erste Mal durch die Raddatz-Ausgabe durch war*, wäre Ignaz Wrobel kein Pseudonym gewesen, mit dem ich mich irgendwie hätte identifizieren wollen oder können.

Ein paar Jahrzehnte und Kompromisse mit der Welt später, fühle ich mich ihm doch deutlich näher. Schlußendlich aber soll Tucholskys Charakterisierung des Satirikers als Leitspruch über diesem Projekt stehen:

Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an. [aus: Was darf die Satire?, 1919]

Ich plane derzeit 1-2 Newsletter je Monat, los geht es Ende November 2020. Bis dahin, tell your friends!

*was hier nur als Zustandsbeschreibung verstanden werden soll, nicht als fishing for compliments, ich war nicht sozial eingebunden und Bücher waren sozusagen meine Freunde, da sind 10 Bände keine allzu ausufernde Beschäftigung – mal ganz davon abgesehen, dass die Jugend aufgrund ihrer kurzen Lesebiographie eine Phase zu sein scheint, in der noch so viel neu und aufregend ist, dass erstaunliche Lesetempi entstehen, ich jedenfalls habe nie wieder so viel »weggelesen« wie zwischen 14 und 18

Zum Horst gemacht

Vorsicht bei Späßen über Seehofer und seine Internet-Erfahrungen in den 80er Jahren.

Es ist bitte stets auf die Unwahrscheinlichkeit seiner Beteiligung abzustellen.

Der häufig anzutreffende Verweis auf den späteren Start des WWW führt zu möglicherweise unbeabsichtigten »Si tacuisses«-Momenten.

Wie zum Beispiel hier beim Magazin quer:


Es sei daher an dieser Stelle auf den Wikipedia-Artikel zur Geschichte des Internets verwiesen.

Mit entsprechendem Wissen macht man sich dann beim Horst zum Horst machen nicht aus Versehen selbst zum Horst.

Die Jugend von damals

Um eine These für einen zu erstellenden Artikel zu verifizieren, stolperte ich über diese Passage aus der seinerzeitigen Besprechung der 13. Shell-Jugendstudie:

»Ausländerfeindliche Töne sind, wie auch die Shell-Studie belegt, im Osten deutlich lauter als im Westen. In den neuen Ländern, wo der Anteil der Nichtdeutschen an der Wohnbevölkerung bei 2,2 Prozent liegt (im Westen: 10,4 Prozent), finden mehr als zwei Drittel der Jugendlichen, das Boot sei schon überfüllt. […]
Immerhin 27 Prozent aller deutschen Jugendlichen erscheinen in Münchmeiers Auswertung als “hoch ausländerfeindlich”.«

Die damals 15-24jährigen sind heute die Elterngeneration.

Vielleicht wäre es doch ganz sinnvoll, den als »Laberwissenschaften« beschimpften Sozialwissenschaften gelegentlich mal zuzuhören. Stattdessen haben wir weitere zwei Jahrzehnte verschwendet und wundern uns heute über Institutionenkrise und AfD-Wählende.

Es ist so frustrierend: Ob Mondlandung, Klimawandel, Impfen oder Nazis – Die Wissenschaften stellen das entscheidende Wissen zur Verfügung, aber wir vertrauen lieber auf unsere Bauchempfindungen und die Erzählungen des Schwippschwagers der Nachbarin. Auf allen Ebenen, in allen Positionen.

If you love someone…

Tucholsky Gruß nach vorn Cover Hörbuch von Steffen Ille

Der 3. Oktober ist, das ist allgemein bekannt, der Tag der Südharzreise. Landauf, landab treffen sich hunderte, ach was, tausende Menschen zu Lesekreisen, um rituelle Lesungen ihrer Lieblingskapitel aus dem grandiosen Reisebericht vorzunehmen.

Es ist ein bezauberndes Schauspiel.

Auf den Tag genau seit vier Jahren steht denn auch das zugehörige Hörbuch unter der Lizenz CC by-nc-sa 4.0 und ist damit frei zur nichtkommerziellen Nutzung.

Dies inspirierte mich nun, auch den heutigen 3. Oktober der alten Weisheit »If you love somebody set them free« zu widmen und das bereits vor sieben Jahren veröffentlichte Tucholsky-Hörbuch »Gruß nach vorn« ebenfalls archive.org anzuvertrauen und zur freien Verfügung zu stellen.

Ich wünsche also viel Vergnügen mit dem Hausheiligen dieses Blogs und freue mich auf spannende Projekte, die mit diesen Aufnahmen vielleicht entstehen mögen.

Priesterwissen

Es ist inzwischen wohl kein Geheimnis mehr, dass in den medial besonders häufig erwähnten sozialen Medien wie Facebook oder Twitter keineswegs die dynamische nachwachsende Generation besonders aktiv ist, sondern eher die ältere Hälfte der werberelevanten Zielgruppe.

Dementsprechend populär sind nostalgische Beiträge wie dieser hier:

Manchmal ertappe ich mich dabei, dass in so mancher Nostalgie eine gehörige Portion Eitelkeit steckt.

Meinem Vater gelang es durch intensive Diskussion, mir bereits in sehr jungen Jahren (ich war zwölf) Zutritt zur Universitätsbibliothek zu verschaffen. Zettelkästen waren in der prädigitalen Ära, die diesseits des antifaschistischen Schutzwalls etwas länger andauerte, der übliche Zugriff auf Bibliotheksbestände. Zumindest für Menschen wie mich, die Kontakt zu anderen nicht gerade suchten (für andere war es dann der oder die jeweils nächsterreichbare Bibliothekar_in).

Bisher nur vertraut mit dem durchaus überschaubaren Zettelkastensystem der Stadtbibliothek, öffnete sich mir mit dem Zettelkastenraum der Universitätsbibliothek (zum Teil sogar noch mit Rollen, in denen die Katalogisierungsarbeiten aus dem 18. Jahrhundert nachzusehen waren) eine völlig neue Dimension. Seitdem habe ich eine große Schwäche für Bibliothekssystematiken (weshalb ich auch sehr froh bin, dass mit THEMA letztlich die Bibliotheken über die peinlich ungenauen Buchhandelswarengruppen siegen).

Mit einem Zettelkasten umgehen zu können, verschaffte einem seinerzeit ein gewisses Überlegenheitsgefühl. Auch wenn ich tatsächlich glaube, dass dies und die zum Beginn meines Studiums noch als Befehl im Telnet zu tippenden OPAC-Suchanfragen mir bis heute das effektive Formulieren von Suchanfragen erleichtern, so ist doch unbestreitbar, dass der weiße Google-Suchschlitz die Unterschiede massiv nivelliert hat.

Das traurig zu finden, zeugt doch von einer gewissen Arroganz. Und möglicherweise steckt hier ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis des großen Erfolgs von Nostalgie-Memes.