Velozipedäres Leiden (2)

Als Fahrradfahrer hat man es nicht leicht. Von allen mißtrauisch beäugt – und anfällig für Zorneshandlungen sämtlicher anderer Verkehrsteilnehmer – ist permanent darauf bedacht, die nächste Gefahrenquelle bereits rechtzeitig zu erspähen.
Nicht immer hilft das, vor allem beim Autofahrerlieblingssport “Aussteigen, egal was da hinter mir passiert.” müsste man schon das Radfahren als solches einstellen, wollte man diese zwar deutlich sichtbare, aber nicht im Geringsten vermeidbare Gefahr umgehen (naja, OK, man könnte stattdessen mittig in der Fahrbahn fahren, was aber aus einem möglichen Unfall einen sicheren Lynchmord macht, kein kluger Tausch, aber möglich).
Ich habe mir seit einiger Zeit die überaus nützliche Eigenschaft von Regeln, das eigene Denken zu Gunsten des Befolgens einer Handlungsanweisung auzuschalten, zu Nutze gemacht und befolge derzeit recht strikt die Regeln der Straßenverkehrsordnung, zumindest soweit sie mir bekannt sind. Ich halte an roten Ampeln getreulich an, überhole nur links, zeige jeden Richtungswechsel an, halte an Stoppschildern wie auch an Fußgängerüberwegen und bin überhaupt ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft.
Das Ergebnis ist faszinierend. Zum einen stellte ich eine erhöhte Neigung an mir fest, mich über das Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer zu erregen, zum anderen aber werde ich seit dieser fundamentalen Entscheidung derart angepöbelt, wie es keinem fußwegbenutzenden Radfahrrowdie geschieht.
Gerade heute wurde ich von einer Autofahrerin angeraunzt, weil ich ihr die ihr zustehende Vorfahrt ließ (rechts vor links, you know?), sie aber anhielt, um mich weiterfahren zu lassen. Übrigens, liebe Autofahrer: Für den radfahrenden Verkehrsteilnehmer, erst Recht mit gut besetztem Kinderanhänger, ist “Losfahren” mit etwas mehr Aufwand verbunden als dem sanften Herunterdrücken eines ergonomisch geformten Pedals – wenn ich also anhalte, damit ihr eure Vorfahrt nutzen könnt: Dann tut das gefälligst. Für nüscht und wieder nüscht angehalten zu haben ist überaus unerfreulich.
Das melidiöse Geräusch meiner Klingel erweckte dann einen träumenden Fußgänger, dem ein 10 Meter breiter Fußweg einfach nicht passend zu sein schien, weshalb er lieber auf dem durch Grünwerk extra abgetrennten Radweg flanierte und wahrscheinlich darüber grübelte, welcher Turner-Preisträger das war, der immer in den Innenstädten das Pflaster rot färbte und stilisierte Fahrräder auf den Boden malte. Völlig verständlich also, daß er sich über die Unterbrechung seines Kunstgenusses durch mich Banausen nicht amüsiert zeigte.
Geradezu in Lebensgefahr gerieten allerdings die gerade eine Straße überquerenden jungen Damen, als ich, mustergültiger Verkehrsteilnehmer, der ich bin, anhielt, um ihnen das zügige Verlassen der Fahrbahn zu ermöglichen. Darüber waren die beiden allerdings derart verblüfft, daß sie unvermittelt stehen blieben – eine höchst unkluge Reaktion, wie ihnen Legionen von Igelgeistern berichten könnten, denn der nachfolgende Kraftverkehr machte sich bereits akustisch bemerkbar. Sie eilten denn auch, nicht ohne vorher wild gestikulierend meine Weiterfahrt einzufordern, mit erhöhtem Tempo hinüber.
Offenbar führt also mein regelkonformes Verhalten zu größter Verwirrung, die ja bekanntermaßen nicht selten in Aggressionen umschlägt. Nicht auszudenken also, welch Angst und Schrecken ich wohl verbreite, wenn ich mich an der roten Ampel nicht irgendwie an den Autos vorbeischlängle, sondern geduldig in der Reihe warte. Wahrscheinlich sitzen die gequälten FahrerInnen schweißüberströmt mit krampfenden Händen an ihrem Lenkrad, ununterbrochen Innen- und Außenspiegel kontrollierend, wann denn nun endlich dieser Verrückte unter Gefährung der Unversehrtheit ihres Fortbewegungsmittels an ihnen vorbeikurven wird.
Verständlich, daß dann ein Fluch auf diese verdammten Radfahrer folgt, wenn man anschließend das Umschalten der Ampel verpaßt.
Was aber lehrt uns das?
Ganz offenbar sind Radfahrer im kollektiven Gedächtnis der übrigen Verkehrsteilnehmer neben spielenden Kindern wohl die unberechenbarsten Gestalt beiderseits der Fahrbahn. Die machen alles, nur nicht das, was sie sollten. Sprich: Die Nonkonformität ist zur Regel geworden.
Was wiederum bedeutet: Wahrhaft subversives Verhalten erfordert heute unbedingtes Beachten der offiziellen Vorschriften. Mit nichts, ihr lieben Radfahrer, stiftet ihr mehr Ärger bei WackeldackelHäckelklorollenRenaultfahrern als mit einem völlig korrekten Einordnen zum Linksabbiegen. Nur Spießer ziehen plötzlich von rechts rüber. Wahre Punks aber zeigen ihren Wunsch korrekt an und ordnen sich rechtzeitig links ein, natürlich nicht ohne sich vorher mit einem Schulterblick zu versichern, daß der Weg frei ist.
Ich rate nur: Tragt einen Helm. Denn es könnte sein, daß der nachfolgende Verkehr annimmt, ihr wolltet weiter geradeaus fahren.

Der Hausheilige sieht das ja bekanntermaßen viel entspannter:

Das kommt daher, daß die Deutschen sich einbilden, man könne eine Sache zu Ende organisieren. Das kann man eben nicht. Man kann eben nicht alles kodifizieren, vorherbestimmen, ein für allemal voraussehen, alle jemals vorkommenden Lagen bedenken, sie ›regeln‹ und dann keinen Einspruch mehr gelten lassen . . . so sieht die Justiz dieses Landes aus, und sie ist auch danach. Auf den Straßen aber ergibt sich das groteske Zerrbild, daß der Fußgänger der Feind des Autos ist, das er neidisch und verächtlich ignoriert – er wird es den Brüdern schon zeigen –; der Fahrer Feind des Fußgängers – wo ick fahre, da fahre ick – ums Verrecken bremst er nicht vorsichtig ab, fährt nicht um den Fußgänger herum, weil ›der ja ausweichen kann‹ . . . und aller Feind ist der regelnde Mann: der Polizist.
Das Ideal dieses Verkehrs sieht so aus, daß vom Brandenburger Tor herunter alle Städte des Reichs durch einen Reichsverkehrswart geregelt werden, überall hat zu gleicher Zeit ein grünes Licht aufzuleuchten, und gehorsam und scharf anfahrend, setzen sich 63657 Wagen in Fahrt. Das wäre ein Fest …
Schade, daß es nicht geht. Aber er ist auch so schon ganz hübsch, der deutsche Verkehr. Man fährt am besten um ihn herum.

aus: Der Verkehr. in: Werke und Briefe: 1929. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 7182 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 308) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm


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Velozipedäres Leiden

Radfahrer haben es nicht leicht im öffentlichen Straßenverkehr. Irgendwie stören sie alle anderen Teilnehmer nur an der ungehinderten Nutzung der Verkehrsflächen. Ich glaube sogar, schlechter angesehen sind eigentlich nur noch diese Autos mit der 25 hinten drauf.
Selbst wenn sie sich vollkommen richtig verhalten (ja, ich komme darauf noch zurück), können sie doch von Glück reden, nur mit Beschimpfungen davonzukommen.
Wers nicht glaubt, dem empfehle ich mal folgende Übungen:

Übung 1

Fahren Sie mit Ihrem Fahrrad auf der rechten Seite auf dem straßenbegleitenden Radweg. Signalisieren Sie, daß Sie nach links abzubiegen wünschen. Ordnen Sie sich nun in den fließenden Verkehr korrekt links ein, um unter Berücksichtigung des Gegenverkehrs links abbiegen zu können.
Ich empfehle dabei dringend, einen Helm zu tragen. Und es vor allem nicht eilig zu haben.
Level 2: Dieselbe Übung auf einer Straße mit Straßenbahnschienen
Level 3: Nach einiger Wartezeit inmitten der Straße naht eine Straßenbahn.

Wenn man Glück hat, möchte auch ein Automobil links abbiegen. Auf einmal sind Dinge möglich…

Übung 2

Sie fahren auf einem vom Fußweg farblich und durch Markierungen getrennten, separaten Radweg. Auf diesem spazieren sehr gemütlich, aber leider verkehrsrechtswidrig, einige Fußgänger. Der Fußweg daneben ist vollkommen leer. Klingeln Sie, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und keinen Unfall zu verursachen.
Ich empfehle dabei dringend, einen Helm zu tragen. Nahkampfwaffen sind ebenfalls empfehlenswert.

Level 2: Der Radweg ist zusätzlich durch Strauch- und Baumbewuchs vom mehr als doppelt so breiten Fußweg getrennt.
Level 3: Der Radweg ist in beide Richtungen freigegeben (logisch, er ist breit genug und vom Fußweg ja durch Bewuchs getrennt…). Ihnen kommt ein Radfahrer entgegen.

Bringt man die Ruhe auf, kann man bei dieser Übung einiges über die deutsche Schimpfkultur lernen. Besonders wenn man nebenbei erwähnt, daß man sich vollkommen im Recht befindet. Macht viel Freude.

Übung 3

Sie fahren auf einer innerstädtischen Straße. Hinter Ihnen fährt ein Auto. Vor Ihnen laufen Fußgänger, durchaus nicht in der Absicht, diese zu überqueren, sondern sie als Fußweg nutzend. Klingeln Sie.
Level 2: Hinter Ihnen fährt kein Auto.

Ich empfehle dabei dringend, die Tastensperre am Mobiltelefon ausgeschaltet zu haben. Um einen Notruf zu senden, wird keine Zeit sein, diese noch zu deaktivieren. 😉

Wünscht jemand Übungsadressen, ich teile gerne welche mit. 😉

Kurz: Wo auch immer der Radfahrer sich aufhält, jeder andere Verkehrsteilnehmer fühlt sich durch ihn belästigt. Und natürlich ist der Radfahrer immer Schuld, an allem. Egal, ob er sich nun korrekt verhält oder nicht. Eine Einbahnstraße ist für Radfahrer in Gegenrichtung freigegeben? Pech gehabt, mehr als ein paar Lackkratzer gibt das nicht. Das ist ein Radweg? Who cares? Müssense eben ma bremsen. Frechheit.

Es wäre allerdings äußerst unausgewogen, nicht zu erwähnen, daß es einen eklatant hohen Anteil von Radfahrern gibt, die sich um rein gar nichts scheren.
Es gibt diese Idioten, die meinen, sie können problemlos im Dunkeln ohne Licht fahren. Unabhängig davon, daß ich mir nicht sicher bin, ob die selbst ausreichend sehen – es geht viel mehr darum gesehen zu werden! Nur auf jemanden, der wahrgenommen wird, kann man auch reagieren. Und der Anteil unter allen Radfahrern ist erheblich.
Oder man fährt mal eben auf der falschen Straßenseite – es hat mich bereits 2 Vorderräder gekostet (und mit Nabendynamo sind die nicht mehr zum Spottpreis zu haben), daß jemand von rechts um die Ecke kam, der vorher nicht zu sehen war – weil er auf der linken Seite fuhr (und dann tatsächlich auch noch die Stirn zu haben, auf “rechts vor links” zu bestehen, ist unglaublich – man stelle sich das mal mit Autos vor).
Oder, meine erklärten Lieblinge, erwachsene Menschen, die auf Fußwegen fahren. Und einem dann erklären, man möge ja mal bitte auf die Kinder aufpassen. Das sei ja gefährlich. Ach nee? Wirklich? Ist das vielleicht der Grund, warum Radfahrer verdammt noch mal auf die Straße gehören? Wer sich das nicht zutraut, muß eben laufen. Oder den Bus nehmen.

Naja, ehe ich mich jetzt in Rage schreibe:

Alles in allem scheint mir das Hauptproblem allerdings nicht das benutzte Verkehrsmittel zu sein, sondern eher die Menschen, die es benutzen. Ich bin ganz bestimmt niemand, der Regeln allein um der Regel willen eingehalten sehen möchte. Allerdings wünschte ich mir, gelegentlich würde immer mal wieder ins Gedächntis gerufen werden, daß hinter den meisten Regeln eine Idee steckt. Und ein derart komplexes System wie der Straßenverkehr ist darauf angewiesen, daß es Dinge gibt, auf die man sich verlassen kann. Zum Beispiel, daß wir alle rechts fahren. Und es verlangt der Respekt vor den anderen Menschen, darauf Rücksicht zu nehmen. Denn man gefährdet seltenst nur sich selbst…

Soweit die staatstragenden Worte für heute.

Einen habe ich noch:
Ist es eigentlich schon schizophren, seinem Kind auf dem Kindersitz einen Helm aufzusetzen, sich selbst aber nicht? So, als wäre das Auto, das einen umfährt nur für das Kind ein Problem, man selbst aber wird durch eine unsichtbare Macht geschützt? Oder ist es einfach nur dämlich?
Und da wir gerade dabei sind: Jeder Verkehrsteilnehmer weiß, daß alle anderen Idioten sind. Also: Setzt Helme auf. Ihr habt nur diesen einen Kopf.
Aber mit vernünftigen Argumenten kommt man da wohl nicht weit. Ich meine, wenn man mit einem Fahrrad mit einer Geschwindigkeit von knapp 100km/h enge Kurven bergab fährt und Stürze regelmäßig vorkommen, sollte doch der gesunde Menschenverstand sagen: Es gibt Helme? Prima, her damit!
Weit gefehlt. Es braucht eine Regulierung. Das ist im Übrigen eines der Grundübel: Ohne Zwang setzen sich selbst die vernünftigsten Ideen nicht durch. Was mich im Übrigen an der These des vernunftbegabten Wesens zweifeln läßt. Aber das ist ein anderes Thema.

Und, was hat der Hausheilige dazu zu sagen?

Der Deutsche fährt nicht wie andere Menschen. Er fährt, um recht zu haben. Dem Polizisten gegenüber; dem Fußgänger gegenüber, der es übrigens ebenso treibt – und vor allem dem fahrenden Nachbarn gegenüber. Rücksicht nehmen? um die entscheidende Spur nachgeben? auflockern? nett sein, weil das praktischer ist? Na, das wäre ja . . .
Es gibt bereits Frageecken in den großen Zeitungen, wo im vollen Ernst Situationen aus dem Straßenleben beschrieben werden, damit nun nachher wenigstens theoretisch die einzig ›richtige Lösung gestellt‹ werden kann – man kann das in keine andere Sprache übersetzen.
Als ob es eine solche Lösung gäbe! Als ob es nicht immer, von den paar groben Fällen abgesehen, auf die weiche Nachgiebigkeit, auf die Geschicklichkeit, auf die Geistesgegenwart ankäme, eben auf das Runde, und nicht auf das Viereckige! Aber nichts davon. Mit einer Sturheit, die geradezu von einem Kasernenhof importiert erscheint, fährt Wagen gegen Wagen, weil er das ›Vorfahrtsrecht‹ hat; brüllen sich die Leute an, statt sich entgegenzukommen – sie haben ja alle so recht!
Als Oberster kommt dann der Polizeimann dazu, und vor dem haben sie alle unrecht.
[in: Der Verkehr. Werke und Briefe: 1929, S. 694. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 7181 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 307) (c) Rowohlt Verlag]

*grmpf* Na, wenn er meint…