Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt

Umschlagabbildung zu Die Wut, die bleibt von Mareike Fallwickl

Helene, Mutter dreier Kinder, steht eines Tages vom Abendbrottisch auf, geht zum Balkon und stürzt sich in die Tiefe. Ihre Freundin Sarah will den Hinterbliebenen helfen und findet sich unversehens in Helenes Rolle wieder – obwohl sie das nie wollte.

Sarah möchte in dieser Krisensituation helfen – aus der lebenslangen Freundschaft zu Helene heraus, aus Zuneigung zu diesen Kindern, deren ältestes, Lola, sogar einst Teil ihrer Wohngemeinschaft war. Und schließlich, weil man Menschen eben in einer solchen Situation nicht hängen lässt.

Dass damit eine Falle zuschnappt, dass sie ganz selbstverständlich in einer Rolle gelandet ist, die sie weder wollte noch ihr zusteht und die ihr nur aus einem einzigen Grund zugewiesen wird, weil sie eine Frau ist, wird ihr bald klar. Weniger klar allerdings ist ihr der Weg, dort wieder herauszukommen. Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate und es droht die Jahresfrist. Begleitet wird in ihrem Geist von einer Manifestation Helenes, die sie spöttisch beobachtet, ihr Fragen stellt, die befreit wirkt.

Helenes hellsichtige Tochter Lola ist nicht bereit, sich den Erwartungen an ihre Rolle zu beugen. Sie liest feministische Literatur, weiß um die Wirkmechanismen des Patriarchats und mit der Intensität jugendlicher Überzeugungen konfrontiert sie Sarah und alle anderen Menschen in ihrer Umgebung mit ihrer Sicht auf die Welt. Klar, überzeugt und analytisch scharf. Doch erst eine Schlüsselsituation, in der sie sich hilflos männlicher Gewalt ausgesetzt sieht, bringt sie zur Tat. Sie ist nicht länger bereit, das Unrecht tatenlos hinzunehmen und die Gewalt männlichen Tätern zu überlassen, die mit ihren Taten unbehelligt ihre Leben weiterleben.

Ein Schlüsselement dafür wird das Teilen von Erfahrungen, von Erlebnissen wie sie nur Frauen (oder als Frauen gelesene Personen) haben – und die sie alle gemacht haben. Daraus speist sich Lolas Wut und es wird eine unglaubliche Energie frei dabei. Das Ende des Schweigens der Frauen wird auch Lola und Sarah helfen, einander zu verstehen und es ist der Motor ihrer Emanzipationsgeschichte. Je weiter diese voranschreitet, desto seltener tritt Helene in Erscheinung.

Mareike Fallwickls Roman hat bei mir massiven Eindruck hinterlassen. Was für eine Kraft, was für eine Wucht steckt in diesem Befreiungsschrei von einem Roman!

Es ist mit Sicherheit eine der aufwühlendsten, beeindruckendsten Lektüreerfahrungen mindestens der letzten Jahre, wenn nicht überhaupt meiner ganzen Lesebiographie. Da sind so viele Aspekte, die mir auch erst jetzt im Nachgang erst klar werden. Ich werde noch lange damit zu tun haben.

Buchdetails:
Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Rowohlt Hundert Augen Hamburg 2022, 377 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-498-00296-1, 22 €, als ebook 15,99 €
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Geschickte Opposition

Es ist Wochenende, Samstag vormittag. Ein guter Zeitpunkt, um das eine oder andere zu erledigen. Einkaufen, Essen kochen, Korrespondenz und was sonst so rumliegt.
Ich weiß nicht, wie die geneigte Leserschaft das erlebt, aber bei mir stellt sich am Samstagvormittag stets das Gefühl ein, jetzt aber mal so richtig was erledigen zu können. Vielleicht nicht gleich die Weltrevolution, aber so knapp darunter. Es gibt da noch diesen Antrieb aus der Arbeitswoche gepaart mit dem Ausblick auf ein schier endloses Wochenende: Was man da alles schaffen kann!

Meist verflüchtigt sich das spätestens nach dem Mittagessen, wenn man feststellt, dass es sich doch sehr behaglich auf der Couch sitzt und überhaupt, es ist ja Wochenende und noch so viel Zeit und überhaupt…

Jedenfalls Samstagvormittag. Ich bitte also die Traumtochter™ in unserem liebgewordenen Ritual, ihr Zimmer in einen betretbaren Raum zurückzuverwandeln. Das wird, der Zeremonie gemäß, mit einem Schnauben und dem schwungvollen Schließen der Tür ihres zugewiesenen Arbeitsraumes beantwortet.

Kurz darauf tönen Geräusche aus ihrem Zimmer. Allerdings die ihres Musikinstruments.

Das finde ich sehr geschickt. Schließlich muss sie ja üben. Sagt ja auch sie Lehrerin, sagen ja auch wir Eltern 》ständig《.

Intervenieren ist da also schwierig. Sie macht also explizit nicht das, worum sie zum 3578. Mal gebeten wurde und verhindert gleichzeitig sehr effektiv, dafür unangenehme Konsequenzen on Kauf zu nehmen (wovon übrigens die unangenehmste ist, dass ihre Eltern das Aufräumen übernehmen). Well played (was nebenbei auch für ihr Übungsstück gilt und angesichts der anstehenden Weihnachtssaison werde ich vielleicht öfter als sonst um ein aufgeräumtes Zimmer bitten – als 1. Instrument hat man in einer Instrumentalgruppe ja eine gewisse Verantwortung). Deviantes Verhalten durch Ausweichen auf eine sanktionsfreie Alternative. Prokrastination wird wohl ihr Hauptfach.

Das unterscheidet sich doch von der offensiven Opposition des Suppenkaspars, der seine Verweigerung mit offenem Protest verbindet.

Weit davon entfernt, ähnlich selbstzerstörerisch (vom interpretierten Krankheitsbild mal ganz abgesehen) zu sein, gibt es aber doch noch eine Parallele: Für  mich am bemerkenswertesten an dieser Opposition ist nämlich der Hintergrund: Sie hat sehr nachdrücklich um die Neuanschaffung eines Möbels gebeten und bitter darübr geklagt, dass wir Wochen vergehen ließen ohne unsere Zusage einzulösen (man kennt das: Es fallen Worte wie 》euch《, 》egal《, 》interessiert《, 》nicht《, 》mich《). Inzwischen steht dieses Möbel jedoch seit mindestens eben so vielen Wochen bereit. Allein: Ihr Zimmer ist es eben nicht. Meine Aufforderung wurde denn auch jedes Mal mit dem Hinweis darauf verbunden. Mit dem an sich ja durchaus erfreulichen Ergebnis, dass ihre Instrumentbeherrschung weiter Fortschritte macht. Aber eben auch ohne die Erfüllung ihres eigenen Wunsches.

Da stehe ich also nun. Zunächst böse, weil ich ihren Wunsch nicht erfüllte, nun böse, weil ich ihn erfüllen will.

Da stellt sich doch die Frage: Haben Eltern eigentlich eine Chance?

Ich glaube nicht, ich denke, es geht ihnen zumindest in einer bestimmten Phase wie Brian: Wir haben keine Chance, da rauszukommen. Mit allem, was wir wollen, sind wir eine Zumutung. Egal, aus welchen Motiven heraus: Wir wollen etwas, wir greifen in die heilige Autonomie eines Teenagers ein. Das gilt es zu akzeptieren und zu hoffen, dass sie dereinst, wenn sie gelernt haben, dass die ganze Welt eine Zumutung ist, sich erinnern, dass Eltern vor allem etwas anderes sein können: Ein Hafen. Es ist wahnsinnig schwer, dieses Gefühl irgendwo mitvermitteln zu können in all den täglichen Auseinandersetzung. Und doch möchte ich, dass genau das irgendwo hängen bleibt.

Aber jetzt, kurz bevor ich mich an den Nudelauflauf mache, nehme ich nochmal alle vormittägliche Energie zusammmen und erkläre der Traumtochter™ ganz ruhig und freundlich, warum es doch in unser aller und vor allem in ihrem höchst eigenen Interesse liegt und es daher doch sehr wünschenswert wäre, würde sie ihre verdammte Drecksbude endlich aufräumen ihr Zimmer doch so weit bereinigen, dass ihr gewünschtes Möbel nicht länger den Flur blockiert.

Der Ehrgeiz eines Hirnforschers und die Verzweiflung eines Vaters

Die Äußerug, man habe ein autistisches Kind erzielt oft eine merkwürdige Reaktion. Irgendwas zwischen Mitleid und Abscheu.
Und natürlich, das unterscheidet dieses Thema nicht von allen andere Themen, über die man sich unterhalten kann, hat praktisch jeder schon einmal etwas davon gehört und eine festgefügte Meinung, die sich zwar bestenfalls auf ein paar Hollywood-Weisheiten und Wetten-dass?-Erfahrungen stützt, aber nichtsdestotrotz bereits die Summe aller menschlichen Weisheit repräsentiert. Man kennt das.
Weshalb hier dringend dazu geraten sei: Welches Thema auch immer der geneigten Leserschaft wichtig ist – sprecht es bloß nicht auf einer gesellschaftlichen Veranstaltung irgendeiner Art an. Redet lieber übers Wetter (also natürlich nur, falls dies nciht zufällig eure Herzensangelegenheit ist…)

Auf Zeit-Online gibt es einen lesenswerten Artikel (ja, das kommt vor), der zwar leider im ganz typischen unverbindlichen Pseudoreportagenduktus dieser Publikation geschrieben ist, aber nichtsdestotrotz zum einen die Diagnosenirrfahrt als auch die Verzweiflung der Eltern einigermaßen gut einfängt (und das bemerkenswerte Können anderer Generationen, die einfach tun und dabei richtig liegen, das mit der Lebenserfahrung scheint ein Konzept zu sein…)

Vor allem demonstriert er sehr schön, wie wenig wir über Autisten, Gehirne, das Leben, das Universum und ganzen Rest wissen.

Einmal hier entlang bitte.

P.S. Zur Menschenkenntnis von Psychologen hat sich der Hausheilige dieses Blogs in einem hübschen Kabinettstückchen abschließend geäußert: In der Hotelhalle (1930).