David de Jong: Braunes Erbe

Weder Aufstieg noch Herrschaft der Nationalsozialisten wäre ohne helfende oder willfährige Unterstützer in der deutschen Wirtschaft möglich gewesen. Flick, Finck, Porsche-Piëch, Oetker, Reimann, Quandt – noch heute extrem reiche Familien haben einen Großteil ihres Aufstieges, ihres Reichtums und Einflusses dem nationalsozialistischen Regime und seinen verbrecherischen Regeln zu verdanken. Und die meisten von ihnen schweigen still darüber, huldigen noch heute ihren Vorfahren, in dem sie Gebäude, Stiftungen und Preise nach ihnen benennen.

David de Jong gelingt eine packende, plastische Schilderung des Aufstiegs und der dabei verwendeten Methoden. Dramaturgisch geschickt angeordnet, zeichnet er nach, wie aus Überzeugung oder schlichtem Opportunismus die Nähe zum Regime gesucht wurde. Skrupellos wurden jüdische Angestellte oder Geschäftspartner fallengelassen, Konkurrenten erpresst, hemmungslos wurden die Chancen ergriffen, die sich mit dem staatlich forcierten Herausdrängen jüdischer und »nichtarischer« Akteure aus der Wirtschaft ergaben. Und natürlich setzten alle Zwangsarbeiter ein.

Mindestens ebenso bedrückend ist allerdings die Nachkriegsgeschichte. Durch Lügen, Täuschen und Vertuschen gelang es, zügig das eigene Vermögen zu retten und sich nahtlos in die bundesrepublikanische Wirtschaft zu integrieren, deren Wachstum die Möglichkeit zu globalem Agieren gab. Es ist erschütternd, wie leicht die eigenen Lebenslügen vermittelbar wurden und wie tief verwurzelt sie noch heute in den Familiendynastien sind, die sich häufig bestenfalls halbherzig ihrer Vergangenheit stellen. Von ernsthaften Entschädigungen gar nicht erst zu reden (einzige Ausnahme: Die Familie Reimann).

Die noch heute wirksamen Verknüpfungen und Verbindungen, zum Teil noch heute ins rechtsextreme Milieu, zeigt de Jong unnachgiebig auf. Und auch wenn ich einiges schon gewusst habe: So richtig präsent war es mir nicht und ich bin de Jong sehr dankbar für seine klare, sachliche Darstellung. Es ist ein Dokument der Schande und es sollte uns alle hellhörig werden lassen, wenn mal wieder »Ideologiefreiheit« in der Wirtschaftspolitik gefordert wird – denn genau das ist und war die Standardbegründung: Mit Politik habe man gar nichts am Hut gehabt, man war ja nur Wirtschaftler. Profit um jeden Preis, das ist keine »Ideologiefreiheit«, das ist selbst eine Ideologie, und zwar eine, die Menschenleben kostet, die keine Gnade und keinen Anstand kennt, die über Leichen geht, die Gewalt akzeptiert, die Menschenrechte mit Füßen tritt. Es ist genau diese »Ideologiefreiheit«, die VW-Manager ungerührt behaupten lässt, ein Werk in Xinjang führe zu einer Verbesserung der Situation der unterdrückten, geknechteten Uiguren. Ein Werk, dass in Zusammenarbeit mit einem Staatskonzern betrieben wird – eben jenes Staates wohlgemerkt, der die Menschen dort unterdrückt. Mit demselben Zynismus behaupteten seine Vorgänger, den Zwangsarbeitern im KdW-Werk sei es sehr gut ergangen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Darstellungen zu diesem Thema, ist diese hier nicht nur fachlich fundiert und mit umfassenden Quellennachweisen belegt, sondern auch literarisch exzellent geschrieben. So muss Geschichtsvermittlung sein!

Buchdetails:
David de Jong: Braunes Erbe. Die dunkle Geschichte der reichsten deutschen Unternehmerdynastien. aus dem Englischen von Jörn Pinnow und Michael Schickenberg. Kiepenheuer & Witsch Köln 2022, ISBN 978-3-462-05228-2, gebunden, 496 Seiten, 28 €, als ebook 24,99 €
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Eine Woche in ungelesenen Büchern (6)

Auch diese Woche soll die geneigte Leserschaft nicht ohne Hinweise auf von mir noch nicht gelesene, aber für beachtenswert gehaltene Bücher beginnen:

Cover Pollan Kochen

Kochen. Eine Naturgeschichte der Transformation von Michael Pollan hebt das Kochen in neue metaphysische Höhen. Seit dem cultural turn ist ja sowieso alles Kultur und dass Essen seit archaischen Zeiten weit mehr ist als einfach nur Energieaufnahme, ist ja eine sozialanthropologische Binsenweisheit. Ich muss ja zugeben, dass ich mir vom Titel etwas mehr versprach als schon der Werbetext des Verlages dann hält (ich dachte mehr an eine kulturhistorische Auseinandersetzung mit Kochen, analog zur Geschichte der Menschheit in 100 Objekten also eine in 100 Rezepten, sozusagen). Ob ich mir wirklich durchlesen möchte, wie ein Journalismus-Professor um die Welt reist, um sich vom Kochen begeistern zu lassen, habe ich noch nicht entschieden. Vielleicht, wenn mal weniger Kochsendungen im Fernsehen laufen, hehe.

Etwas mehr in diese Richtung scheint da schon eher

Cover Am Beispiel der Gabel

Am Beispiel der Gabel von Bee Wilson zu gehen. Will man der Beschreibung glauben, so scheint sie genau das von mir Gewünschte zu tun, allerdings mit Schwerpunkt auf den Utensilien. Ich finde die Idee jedenfalls sehr spannend, die Wechselwirkung zwischen Küchengeräten und Gesellschaftstruktur zu untersuchen. Das Autorenvideo zum Buch macht zumindest, nunja, Appetit.

Appetit scheint mir auch die richtige Herangehensweise an ein Buch aus dem Hause Taschen zu sein:

Cover Understanding the World

Understanding the World. The Atlas of Infographics, herausgegeben von Julius Wiedemann. Auf Appetit versteht sich der Taschen Verlag ja schon seit seiner Gründung. Hier ist ein besonders schönes Beispiel, will mir scheinen. Infografiken sind ja schon so lange der neueste heiße Scheiß, dass sie wahrscheinlich in Kürze als unbedingtes und ganz striktes »Never do that« gelten.
Ist aber nicht so furchtbar wahrscheinlich, wie dieses Buch zeigt, denn immerhin haben die Inforgrafiken schon einiges überstanden, zumindest in den letzten 150 Jahren, denn aus diesem Zeitraum stammen die Beispiele dieses illustren Bandes. Und gelegentlich werde ich ihn mir mal anschauen. 😉

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Frank Westerman: Das Schicksal der weißen Pferde

Ich halte die Kulturgeschichte für eine spannendsten Entwicklungen der Geschichtsschreibung. Wo es in der politischen Geschichte immer nur um Könige, Kaiser und andere Potentaten geht, kann die Kulturgeschichte aus dem Vollen schöpfen. Und so können Tee, Salz oder Kaffee im Mittelpunkt des Interesses stehen, genauso gut aber auch die Entwicklung des Aborts im Wandel der Zeiten oder eben des Menschen Verältnis zu Tieren. Die daraus zu gewinnenden Erkenntnisse sind nicht minder aufschlussreich als die Winkelzüge Metternichs oder die strategischen Großtaten Ramses II.
Mit großen Erwartungen ging ich also an die Lektüre von Frank Westermans Schicksal der weißen Pferde, das im Untertitel nicht weniger verspricht als eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts sein zu wollen.
Westerman wird vom Verlag als Meister der literarischen Reportage eingeführt und das scheint mir auch recht zutreffend zu beschreiben, was im Buch passiert. Es handelt sich dabei nämlich keineswegs um eine konzise, umfassende und strukturierte Darstellung seine Sujets, sondern vielmehr um eine Beschreibung seiner Annäherung an das Thema, seine Recherchen, Gespräche und Reisen.
Im Zentrum steht das Schicksal der Lippizaner, einst der ganze Stolz der Habsburger Doppelmonarchie und durchaus Symbol des herrschaftlichen Selbstverständisses. Die edelste und schönste Rasse der Pferde, gezüchtet in verschiedenen Teilen des Vielvölkerreichs und ureigenste Erfindung desselben.
Ausgangspunkt Westermans eigenen Interesses scheint der Lippizanerhengst seines Reitlehrers (Conversano Primula) zu sein, dessen Erwerb in den Niederlanden seinerzeit eine kleine Sensation war. Ausgehend von dessen Stammbaum führt er durch die Zeitläufte des 20. Jahrhunderts, zeigt auf, welche Sonderrolle die Lippizaner immer spielten, insbesondere als Statussymbol – und zwar sowohl für die Nationalsozialisten wie für Tito oder die Republik Österreich. Immer wieder unterbricht er dies mit Exkursen in frühere Jahrhunderte (in denen die Lippizaner ähnlichen Status genossen), die Geschichte der Genetik und Züchtung oder mit Berichten über seine Reisen zu Orten und Menschen.

Das ist alles sehr gefällig zu lesen, gelegentlich sogar wirklich spannend – aber eine Aussage, eine Idee, eine Botschaft suchte ich vergebens. Außer zwei Dingen: Es schimmert durch alles, wenn es nicht simple Pferdenarrheit ist, ein Antispeziezistischer Ansatz, der interessant und diskutabel wäre, würde er denn formuliert.
Und Westerman mag offenkundig keine Russen. Im Gewande des sowjetischen Soldaten tauchen sie mehrfach in seiner Darstellung auf, während aber alle Akteure sonstiger ethnischer Herkunft, egal wie sie die Pferde nachher behandelten, so doch ihren symbolischen Wert jederzeit anerkannten, so tauchen die sowjetischen Soldaten stets nur auf, um sie als Lasttiere oder künftige Speise zu behandeln.
Ganz übel stieß mir jedoch folgender Satz auf, der aus einer eigenen (also nicht aus Quellen entnommenen) Schilderung einer Massenszene vor Stalin entstammt:

Nachdem das Klappern der Hufe verklungen war, trat eine Hundertschaft Iwans an:

(S. 214)

Sorry, aber so etwas geht gar nicht. Ich erwarte von einem Werk, das in irgendeiner Form als Geschichtswerk ernst genommen werden soll, dass Abwertungen ganzer Völker unterbleiben. Was ansonsten im Buch zu finden ist, mag als tendenziös bezeichnet werden können, aber Iwan als Bezeichnung für sowjetische Soldaten frei zu wählen, ist mindestens unseriös.

Im Ganzen bleibt mir das ganze Buch viel zu bruchstückhaft, es fehlt eine Linie, ein Faden, eine Idee, der all die, durchaus interessanten, durchaus gut erzählten Versatzstücke zusammenfügt. Es entsteht so keine Einheit, kein Werk, das seinen Untertitel wirklich rechtfertigt.
Aber für verschiedene Aspekte, gerade des Mensch-Tier-Verhältnisses und die politische Rolle von Wissenschaft in den letzten 150 Jahren vermag das Buch durchaus bereichernd wirken.

erschienen 2012 bei C.H. Beck.

Bestellt werden kann es hier:.

Das Rezensionsexemplar wurde zur Verfügung gestellt über das empfehlenswerte und hochinteressante Projekt .

Bibliographische Daten:

Frank Westerman: Das Schicksal der weißen Pferde. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts. C.H. Beck München 2012.


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Sadako

Kriege fordern immer Opfer. Und diese sind keineswegs nur heroisch im edlen Zweikampfe für Gott, Kaiser und Vaterland gefallene Ritter.
Das sind so Märchen.
Und gerade das zwanzigste Jahrhundert hat dem Kriege die Mittel an die Hand gegeben, seine wahre Natur, seine ganze Fratze in größter Deutlichkeit zu offenbaren. Wer heute noch allen Ernstes behauptet, es handele sich beim Krieg um ein ehrenwertes Geschäft, lügt.
Es gäbe sehr viel aufwallendes zu diesem Thema zu sagen. Ich möchte mich heute aber nicht in Rage schreiben, sondern einfach eine Geschichte erzählen.
Es ist die Geschichte von Sadako Sasaki, einem jungen Mädchen, am 07. Januar 1943 in Hirsohima geboren und dort aufgewachsen. Ein junges, sportliches Mädchen, bei der im Alter von 12 Jahren Leukämie festgestellt wurde. Im Krankenhaus erinnerte sie sich einer alten japanischen Legende, nach der demjenigen ein Wunsch erfüllt wird, der 1000 Kraniche* faltet. Im festen Glauben daran, gesund zu werden, wenn sie es schaffte, eintausend Kraniche zu falten.
Oder nein, es gibt Berufenere, die Sadako Sasakis Geschichte erzählen können:

Familie Sasaki

Ich bin aufgewachsen mit der täglichen, bedrohlichen Angst vor der Atombombe. Keineswegs war ich mir in meiner Kindheit sicher, den nächsten Morgen zu erleben. Die Vorstellung, von einem Menschen bliebe nach Einsatz dieser Waffe nichts mehr als sein in den Stein gebrannter Schatten, prägte meine Kindheit. Ich weiß nicht, wie andere meiner Generation das erlebten oder wie es für später Geborene war – aber für mich war diese Angst real. Jeder Tag konnte der letzte sein. Jeden Tag konnte es geschehen, daß die kurz vorm Kollabieren stehenden imperialistischen Staaten unseren friedliebenden Staat überfallen. Und dabei selbstverständlich vor dem Einsatz furchtbarster Waffen nicht zurückschrecken würden.
Man mag da heute drüber lächeln, man mag das als Indoktrination eines pervertierten Staates abtun – das kann alles sein. Ich weiß nur nicht, ob es mir lieber wäre, es amüsant zu finden, wenn mit Atompilzen Kleidung beworben wird.**
Fakt ist aber, daß es noch immer tausende solcher Bomben gibt und daß wir alles andere als sicher sein können, daß morgen keine über unseren oder den Köpfen anderer explodieren wird.
Es gibt Schätzungen, nach denen unter Berücksichtigung der Spätfolgen 98% der Bevölkerung Hiroshimas an der Bombe gestorben sind. Nun sind solche Schätzungen immer mit Vorsicht zu genießen, da es nicht immer einfach ist, eine singuläre Ursache für zum Teil komplexe Todesursachen zu finden, aber eines hat uns “Little Boy” gelehrt: Selbst wer einen Bombenangriff überlebt, kann nicht sicher sein, überlebt zu haben, den Schrecken überstanden und verarbeiten zu können – so grausam der Verlust von Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Frau, Kind, Freunden auch gewesen sein mochte – wer der Hölle von Coventry oder Dresden entkommen war, konnte doch sicher sein, sie hinter sich gelassen zu haben.
Die plötzlich erkrankte, fröhlich aufgewachsene, sportbegeisterte Sadako aber lehrt uns: Ihr könnt euch nie sicher sein. Die Bombe verfolgt euch euer ganzes Leben lang. Wer immer mit ihr in Berührung kam, wird keinen Tag sicher sein können, wird nie abschließen können. Für die Bewohner Hiroshimas fiel die Bombe jeden Tag aufs Neue.
Das vergangene Jahrhundert ist voller Grausamkeiten, voller unvorstellbaren Grauens. Es dürfte schwer fallen, ein allgemeingültiges Symbol dafür zu finden. Für mich ist es das kurze Leben dieses japanischen Mädchens, das nichts weiter getan hat, als auf der Welt zu sein und über deren Leben entschieden wurde, daß es weniger wert sei als das eines alliierten Soldaten.***

Man erzähle mir nicht, Krieg sei ein ehrenwertes Geschäft.

* Kraniche sind in Japan symbolträchtige Tiere. Sie stehen für langes Leben, Glück, die Seele. Origami-Kraniche sind also unverzichtbarer Bestandteil aller Zeremonien, die mit Lebensstationen verbunden sind. Im hier bereits empfohlenen “Roppongi” von Josef Winkler erscheint im Moment des Todes des fernen Vaters dem in Japan weilenden Autor ein weißer Kranich, der sich an einem nahen See niederläßt. Das trifft es ganz gut.
** Die Werbung war bei mir ein voller Erfolg. Ich habe seitdem nie wieder ein Geschäft dieser Marke betreten.
*** So beispielsweise Churchill in seinen Memoiren. Das dramatische an dieser Sache ist, daß es schwer fällt, dessen Gedankengang (Bombe-Schock-Kapitulation, ergo: keine weiteren eigenen Verluste) zurückzuweisen. Die Logik des Krieges ließ keine andere Bewertung zu. Genau das ist aber das Problem.