Nebelwerfer. Eine Polemik.

Ich wollte ja eigentlich nicht. Dieses Mal, sagte ich mir immer wieder, dieses Mal gibst Du nicht auch noch Deinen Senf dazu.
Aber der innere Senfproduzent ließ sich von der angeordneten Kurzarbeit überhaupt nicht beeindrucken und da zu viel Senf im Bauch den Magenschleimhäuten schadet, muß ich nun doch.
Es wäre denn auch sehr einfach, die ganze GoogleStreetView-Geschichte als Sommerlochkasperade abzutun, einmal herzlich über die Leute zu lachen, die sich bei ihrem Protest gegen die Abbildung ihrer Häuser mit Famen und Haus in Presse und Fernsehen präsentieren oder den Kopf zu schütteln über den unfaßbaren Unsinn, der über den Dienst des beliebten Zwischennetzunternehmens verbreitet wird.
Könnte man. Und dann zur Tagesordnung übergehen.
Wenn es da nicht diesen GO-Antrag gäbe, der einen Punkt auf die Agenda bringt, den ich für gewichtig halte:

awillburger/status/21913178130

Betrachtet man die Aufregung um dieses Thema, die in keinerlei Verhältnis zur Sache stehen, und vor allem, wer sich da so ins Zeug legt, so flüstert der innere Wisnewski doch sofort: Da soll abgelenkt werden. Da wird vertuscht. Die planen doch eine ganz große Sache.
Es braucht freilich keines verschwörungstheoretischen Feingespürs, um die simple Ablenkungstaktik zu erkennen und so ist denn der oben zitierte Tweet auch nur einer unter unzähligen ähnlich gelagerten Äußerungen. Während ich aber für Frau Aigners heroischen Kampf gegen Windmühlen wenigstens noch eine verständliche Motivation ins Felde zu führen wüsste (was soll sie auch machen mit ihrem belächelten Ministerium, ihrer offensichtlichen Überforderung, die sich in sinnfreier Symbolpolitik – das angekündigte Löschen ihres Facebookaccounts wird Zuckerberg auf der eigenen Relevanzskala wohl irgendwo zwischen einem umgefallenen Sack Reis und einem zerstörten Blumenkübel einsortiert haben – manifestiert), ist mir die Motivation unseres offiziellen PolitikJournalismus völlig unbegreiflich.
Wieso steigt man denn darauf ein? Warum in alles in der Welt hält man es für wichtiger jede Äußerung irgendeines Menschen mit politischem Mandat nachzuplappern und zu verbreiten, anstatt mal ernsthaft Fragen zu stellen?
Wo ist denn die große mediale Kampagne zur Netzneutralität, wenn man denn schon über Google reden will? Tagelange Berichterstattung von Tagesschau bis Bild wäre hier doch viel eher angebracht.
Wo die erbosten Volksmassen, die sich doch sicher finden ließen, deutete man auch nur an, was im SWIFT-Abkommen eigentlich drin steht?
Wie wäre es denn gewesen, über die erstaunliche Zurückhaltung der Regierung in Sachen EU-Datenschutzrichtlinie zu berichten anstatt über eine Belanglosigkeit wie StreetView? Man stelle sich vor, jedes Mal, wenn Frau Aigner ihre Meinung dazu Kund getan hätte, wäre ihre Untätigkeit in dieser Sache thematisiert worden.
Stellt sich die Frage: Warum passiert das nicht? Wenn die Regierenden, aus nachvollziehbaren, wenn auch keineswegs ehrenwerten Gründen, Nebelkerzen wirft, wieso wird dann noch die Nebelmaschine angeworfen, wo es doch nötig wäre, ein Windgebläse aufzustellen?
Ich kann mich des Eindruckes nicht erwehren, daß unser Haupstadtjournalismus inzwischen so sehr Hauptstadt geworden ist, daß ihm der Journalismus abhanden gekommen ist. Wieso setzt nicht die achso wichtige und gerühmte Vierte Gewalt die Themen, sondern läßt sie sich mundgerecht vorkauen?
Braucht es denn etwa der Äußerung einer Frau Aigner, damit ein Thema ein Thema wird? Habt ihr bei all den super-konspirativen Mittagessen mit Hinter- und Vorderbänklern vergessen, wer eure Zeitungen macht? Wißt ihr noch, was investigativ ist? Themenfindung? Recherche, anyone?
Wißt ihr noch, warum sich Zeitungen mal durchgesetzt haben? Weil sie Neues berichteten, analysierten und in Zusammenhänge stellten. Wär doch schön, wenn es so etwas wieder gäbe, ne?

Und die spannende Frage, die sich mir zum Abschluß stellt: Warum in alles in der Welt lassen wir das mit uns machen?

Schließen möchte ich mit einem Kommentar des Hausheiligen, Getroffene mögen bellen:

An das Publikum

O hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: »Das Publikum will es so!«
Jeder Filmfritze sagt: »Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!«
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
»Gute Bücher gehn eben nicht!«
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte . . .
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

Ja, dann . . .
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser –?
Ja, dann . . .
Ja, dann verdienst dus nicht besser.

in: Werke und Briefe: 1931. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8493f. (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 237-238)


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