Aufmerksamkeit

Zum Glück leben wir ja nicht mehr 1931 und haben jetzt Qualitätsjournalismus, der nämlich immer sachorientiert schreibt und deshalb unbedingt als Bestandteil des Kulturerbes umfänglich geschützt gehört.
Damit kann dieser Text des Hausheiligen wohl ins Archiv, nicht wahr?

Das Persönliche

Schreib, schreib . . .
Schreib von der Unsterblichkeit der Seele,
vom Liebesleben der Nordsee-Makrele;
schreib von der neuen Hauszinssteuer,
vom letzten großen Schadenfeuer;
gib dir Mühe, arbeite alles gut aus,
schreib von dem alten Fuggerhaus;
von der Differenz zwischen Mann und Weib . . .
Schreib . . . schreib . . .

Schreib sachlich und schreib dir die Finger krumm:
kein Aas kümmert sich darum.

Aber:

schreibst du einmal zwanzig Zeilen
mit Klatsch – die brauchst du gar nicht zu feilen.
Nenn nur zwei Namen, und es kommen in Haufen
Leser und Leserinnen gelaufen.
»Wie ist das mit Fräulein Meier gewesen?«
Das haben dann alle Leute gelesen.
»Hat Herr Streuselkuchen mit Emma geschlafen?«
Das lesen Portiers, und das lesen Grafen.
»Woher bezieht Stadtrat Mulps seine Gelder?«

Das schreib – und dein Ruhm hallt durch Felder und
Wälder.

Die Sache? Interessiert in Paris und in Bentschen
keinen Menschen.
Dieweil, lieber Freund, zu jeder Frist
die Hauptsache das Persönliche ist.

in: Werke und Briefe: 1931, S. 500-501. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8480-8481 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 231-232)

Oder eben auch nicht. An einer Stelle, die ich grad nicht mehr finde, las ich, daß laut einer Studie die Glaubwürdigkeit im Netz nicht davon abhängt, ob jemand unter Pseudonym oder Klarnamen schreibt. Das hätte ich zwar spontan auch gesagt, aber Aussagen empirisch abzusichern, kann ja nie schaden. Jedenfalls empfehle ich dringend, diesen Kommentar von @haekelschwein zur Debatte um “Gutti-gut-finde-Facebookgruppen” bei netzpolitik.org zu lesen.

Kleine Kostprobe:

Es bringt nichts, sich über unpolitische Menschen mit einfacherer Bildung lustig zu machen.
Was sollen die daraufhin tun, plötzlich klug werden? Wie soll das gehen? […]
Dass er Politiker war, erschien aber nur als Anlass, über ihn zu berichten, nicht jedoch als Inhalt der Boulevardberichte. Deren Konsumenten interessieren sich auch nicht für Politik, sondern für schillernde Prominente.
Guttenbergs Beliebtheit bei dieser Schicht leidet deshalb auch nicht unter seinen Fehlern als Politiker, weil seine Fans gar nicht genau sagen könnten, worin dessen Politik eigentlich besteht, sondern sie sind sich lediglich sicher, dass ein Mensch, der ihnen derart sympathisch ist, auch auf diesem obskuren Feld namens Politik etwas Großes leistet.
Alle Gegenargumente, die Guttenbergs politische Versäumnisse aufzählen, verfangen deshalb nicht.


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Dolchstoßlegende

Ich bin sehr gespannt, wie lange der Februar noch Februar heißt. Es bestehen zunehmend gute Aussichten, daß er in wenigen Jahren in Plagiatuar oder schlicht Axolotl umbenannt wird. Letztes Jahr die Helene, dieses Jahr also der Karl.
Im Gegensatz zur Frau Hegemann war in Sachen Guttenberg die Frage, ob es sich um ein Plagiat handelt, von Anfang klar und eindeutig beantwortet. Auch wenn ich durchaus nicht jede aufgefundene Stelle, singulär betrachtet, als bewußtes Plagiat bezeichnen würde, die schiere Masse ist derart erdrückend, daß Guttenbergs Beteuerungen, er habe nicht bewußt getäuscht, schlicht unglaubwürdig, vulgo: lächerlich, sind.
Was sich hier in den letzten 2 Wochen abgespielt hat, ist ein bemerkenswertes Lehrstück. Die “Causa Guttenberg” gibt Stoff für einige Qualifikationsschriften im breiten Spektrum der Geisteswissenschaften* her.
Ich möchte daher mal nur einige Punkte herausgreifen, die mir auffielen. Da wäre zum einen der Aspekt des Urheberrechts, der vielleicht auch juristisch spannendste Teil der Angelegenheit.
Noch aus der ersten Aufregung stammt dieser Tweet von @mspro:

mspro

Das ist in der Tat bemerkenswert. Falls jemand sich die Mühe machen möchte, wäre es sehr spannend, herauszufinden, ob es da wirklich Überschneidungen gibt. Trotzdem wäre dies nicht zwangsläufig ein Beweis für kognitve Dissonanz (ein Phänomen übrigens, das in den letzten 14 Tagen bemerkenswert oft auftrat), denn es muß unbedingt unterschieden werden zwischen künstlerischem und wissenschaftlichen Arbeiten. Kunst nämlich kann, darf und soll einfach behaupten. Das macht ja gerade den Reiz aus. Ein Gedicht, ein Roman, ein Bild – sie können das Wahre, Falsche, Schöne, Häßliche, Gute, Böse, Richtige oder was auch immer repräsentieren. Und zwar völlig begründungsfrei. Selbstverständlich aber sind Künstler referentiell. Ganze Institute leben davon, die Kunstgeschichte nach Traditionslinien, nach Beeinflussungen, nach Gemeinsamkeiten zu durchsuchen. Streng genommen ist die Kunstgeschichte eine Geschichte des Plagiats. Wir nennen das nur anders. Da geht es um Motive, die wandern und Traditionen, in denen die Leute so stehen. Kopieren war sogar Jahrhundertelang überhaupt gar kein Problem. Erst in dem Moment, in dem die originäre Schöpfungsleistung zum Wert, nicht zuletzt eben zum monetären, erhoben wurde, wurde dies zum (juristischen) Problem. Und so bahnbrechend die Idee des Urheberrechts war, um Künstlern eine Möglichkeit zu geben, nur von ihrer Arbeit zu leben und sich so aus der Abhängigkeit von Auftraggebern zu befreien, es muß in Frage gestellt werden, ob die pedantische Suche nach schon einmal verwendeten Phrasen dem künstlerischen Schöpfungsprozeß überhaupt angemessen ist. Sehr schön dazu übrigens die Geschichte des “Amen Break” – ist das nun eine Erfolgsgeschichte oder eher nicht?
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