Das Buch zum Sonntag (60)

Für die heute beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Juli Zeh: Adler und Engel

Juli Zeh halte ich für eine der interessantesten jüngeren Schriftstellerinnen, weshalb sie hier bereits auch schon sehr zeitig einmal empfohlen wurde. Und wie seinerzeit versprochen, so soll auch ihr Debutroman in dieser beliebten Wochenendrubrik eine Rolle spielen. Wie das manchmal so geht im Buchhändlerleben, trudelte das Buch als Leseexemplar anläßlich der Taschenbuchausgabe in der Buchhandlung ein. Im Jahre 2003 lebten wir noch in der großen Zeit, als kleine pelzige Wesen von Alpha Centauri noch richtige kleine pelzige Wesen von Alpha Centauri waren und also die Publikumsverlage noch nicht ausschließlich die 25. Variante ihrer bereits hinlänglich bekannten Bücher bewarben, so daß es dem geneigten Buchhändler also durchaus noch gelingen konnte, Interessantes oder Neues aus der LEX-Kiste zu fischen. Nun war die damals immerhin schon mit dem Deutschen Bücherpreis dekorierte Frau Zeh keine wahre Neuentdeckung mehr, aber immerhin: Ich hatte sie noch nicht gelesen.
Was ich dann las, beeindruckte mich nachhaltig.
In meiner mir selbst zusammengebauten Idealwelt fördert das juristische Studium ein genaues, exaktes und konsequentes Denken. Das Debüt der Juristin J. Zeh taugt zumindest nicht als Gegenbeweis.
Sie erzählt uns von Max, einem keineswegs erfolglosen Anwalt, der durch den Tod seiner Freundin Jessie völlig aus der Bahn geworfen wurde und nun, zurückgeworfen auf sich selbst, mit dem Leben abgeschlossen zu haben meint. In diese Situation nun platzt die Radiomoderatorin Clara.
Und eh jetzt in der geneigten Leserschaft ein falsches Bild entsteht (“Agathe liebkoste die entblätterte Rose und ließ sich auch durch das Zureden des Assessors von Waldern nicht trösten… Seite 95″*), ein erstes Zitat:

Aber sie hat diese unverkennbare Stimme, deren beleidigter Klang sich immer auf die Ungerechtigkeit der Welt im Ganzen zu beziehen scheint, während sie den albernen Geschichten ihre Anrufer zuhört. Es sind vor allem Männer. Sie hört sie an und macht ab und zu Hmhm-hmhm, dasselbe tiefe, brummende Hmhm, mit dem ihre Mütter sie in den Armen gewiegt haben. Manche fangen an zu heulen. Ich nicht. Dafür begeisterte mich von Anfang an die unglaubliche Kälte, mit der sie ihre schluchzenden Anrufer mitten im Satz abwürgt, wenn sie die vorgeschriebenen drei Minuten Sprechzeit überschritten haben. Sie muss grausamer sein als die Inquisition. Schon vor Monaten, lange bevor ich selbst eine alberne Story zu erzählen hatte, habe ich mir angewöhnt, sie Mittwoch- und Sonntagnacht einzuschalten.

(S. 10)**

Clara also taucht einfach bei ihm auf und was nun folgt ist eine wilde Reise durch Europa und Maxens Vergangenheit, die dieser keineswegs freiwillig unternimmt, sondern von der unbeirrbaren Clara, die auf der Suche nach der ganzen “albernen Geschichte” ist, getrieben wird. Denn auch Psychologinnen müssen mal eine Diplomarbeit schreiben.
Die sich in vielen Rückblenden stückweise offenbarende Geschichte des Aufstiegs und Falls eines talentierten Völkerrechtlers ist geradezu bizarr, sehr verworren und bevölkert mit höchst merkwürdigen Figuren. Kaum geeignet als entspannende Feierabendlektüre, verschont uns die Autorin mit keinem Drogenexzeß ihres Protagonisten, mit keiner Brutalität seines Erlebens und Handelns. Kompromißlos wird hier erzählt, nicht detailarm, aber ohne unnötiges Abschweifen ins Ungefähre, Unbestimmte. Damit gelingt es ihr, einen sehr dichten Roman zu schreiben, dessen Lesegewinn für Spannungsliteratur eher untypisch ist. Keineswegs macht es den Hauptreiz aus, die Geschichte zu entwirren, die Fäden aufzudröseln und das Puzzle zusammenzusetzen – es sind eher die unzähligen Denkanstöße, die Frau Zeh dem geneigten Lesenden mitgibt. Immer wieder taucht ein neuer Aspekt auf, über den nachzudenken lohnt, so daß am Ende der Eindruck entsteht, weit mehr als nur ein Buch gelesen zu haben (also, wer mag, kann sich hier zum Beispiel auch einige profunde Kenntnisse des Völkerrechts abholen…)

Ich starre ihr ins Gesicht. Sie trampelt von einem Fuß auf den anderen. Sie regt mich auf, als wäre sie eins von Jessie und Shershahs nicht im Brunnen ertrunkenen Kindern und ich nicht dazu berechtigt, ihr den Hals umzudrehen.
Ich mache es, sage ich, wenn du auf der Stelle dein stinkendes T-Shirt und deinen BH ausziehst und nackt drei Mal auf und nieder hüpfst.
Sie hört sofort auf zu trampeln.
Was soll denn der Scheiß, fragt sie, erregt dich das irgendwie körperlich?
Unsinn, sage ich, du bist schon im bekleideten Zustand in der Lage, alle männliche Potenz im Umkreis von hundert Metern zu vernichten.
Soweit ich weiß, sagt sie, ist das bei dir gar nicht mehr nötig.
Stimmt genau, sage ich, folglich habe ich nichts zu verlieren. Ich will mir nur noch einmal klar vor Augen führen, dass du wirklich nicht den geringsten Funken Selbstachtung besitzt.
Ach so, sagt sie, das kannst du gerne haben.

(S. 194)

Grenzen und wann und wie sie zu überschreiten sind, was Regeln eigentlich für das gesellschaftliche und persönliche Miteinander bedeuten und was sie wie lange aushalten – ein Themenkreis, von dem sich durchaus behaupten läßt, daß er in Juli Zehs Werk eine zentrale Rolle einnimmt. Spannend bei ihr ist, daß sie das sehr genau und sehr tiefgründig auslotet. Sie selbst läßt ihre Figuren Grenzen überschreiten, um zu beobachten, was dann geschieht. Interessanterweise aber ohne dabei selbst die Kontrolle abzugeben.
Letztlich bleibt für mich “Adler und Engel” eine Leseerfahrung, die durchaus physisch zu beschreiben wäre (ihr wißt schon, “umhauen”, “wegziehen” und so weiter) und der Eintritt in die Denkwelt einer faszinierenden Autorin.
Und zum Schluß noch einmal eine Szene, die mir auch nach 7 Jahren nicht aus dem Kopf will:

Du willst ein Zimmer deiner eigenen Wohnung nie wieder betreten, fragt sie, und das in einer Drei-Zimmer-Wohnung?
Halts Maul, brülle ich.
Ich lasse eine Hand lach auf den Tisch fallen, dass der Kaffeelöffel auf den Boden hüpft.
Dann hast Du nir noch zwei Zimmer, sagt sie.
Nur noch eins, flüstere ich, es sit in einem Durchgangszimmer passiert.
Das solltest du dir noch einmal überlegen, sagt sie.
Ich erhebe mich leicht von meinem Stuhl, um besser ausholen zu können, und schlage ihr mit dem Handrücken quer über den Mund. Ihr Kopf wird zur Seite geschleudert, und der Zopf, den sie gerade erst locker zusammengebunden hatt, löst sich unterwegs, die Haare fliegen durch die Luft und fallen wirr über Gesicht und Schultern. In Zeitlupe hätte das mit Sicherheit gut ausgesehen. Wie eine Shampoo-Werbung. Ich stehe auf und gehe zum Fenster, um ihr Zeit zu geben, ihr Haar wieder in Ordnung zu bringen. Rechts unten in der Ecke sind drei Marienkäfer in einem tüllartigen Spinnennetz verendet, alle mit der gleichen Anzahl von Punkten auf dem Rücken. Ich frage mich, ob irgendeine Spinne auf der Welt in der Lage ist, an das Weiche, Essbare in ihrem Inneren heranzukommen.

(S. 15f.)

Wie sehr leicht zu erkennen, keine Lektüre für die Freunde feinfühliger Jane-Austen-Romane. Lieferbar ist der Roman in

diesen Ausgaben.


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*aus: Kreuzworträtsel mit Gewalt. in: Werke und Briefe: 1930. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 7608 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 8, S. 185)
zitiert nach: Zeh, Juli: Adler und Engel. btb bei Goldmann. München 2003

Das Buch zum Sonntag (59)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft zur Lektüre:

Joachim Wilhelm von Brawe: Brutus

Bühnenwerke gehören auf die Bühne. Nur wenige Menschen kämen auf die Idee, vor Besuch eines Lichtspielhauses sich zunächst einmal das Drehbuch zu besorgen und dieses intensiv zu lesen, zu interpretieren und überhaupt mal so richtig durchzuarbeiten. Nein, wenn überhaupt, dann findet solch tiefgehende Rezeption erst nach dem Filmbesuch statt, weil der Film entsprechend beeindruckte oder eben sonst ein weitergehendes Interesse verursachte.
Generationen von Schülern aber lesen Schillers “Kabale und Liebe” von vorne bis hinten, in verteilten Rollen, abschnittsweise und unter wohlmeinender Begleitung von Königs Erläuterungen (bitte ggf. durch die jeweils bevorzugte Interpretationshilfe ersetzen). Da wird also intensiv das Drama durchleuchtet und wenn die Schüler schon brav waren, dann dürfen sie das auf diese Weise bereits gedanklich sezierte Stück auch mal im Theater sehen. Woraufhin sich die Lehrenden wundern, daß bei den wenigsten sich Begeisterung einstellen mag. Was natürlich an der schlimmen Jugend liegt, die mal wieder kein Verständnis für wahre Kunst hat. Ich behaupte aber im Gegenzug: Würden die Schüler zu jeder gelesenen Szene ein Bild im Kopf haben, die Worte beim Lesen im Kopf verbinden können mit der Darstellung auf der Bühne – dann stellte sich ein ganz anderer Umgang mit dem Stück ein. Weil selbstverständlich der Eindruck ein ganz anderer ist. Kopf und Herz sind noch frei und empfänglich für die Schauspielkunst und noch nicht besetzt von germanistischen Interpretationsdiskursen. Was nebenbei gerade bei Schiller, der doch so auf die Empfänglichkeit des Zuschauers setzt, überaus tragisch ist. Aber gut, man kann vielleicht nicht von jedem erwarten, daß er die Interpretationen, die er predigt, vorher auch schon mal verstanden hat.

Insofern mag es die geneigte Leserschaft also verwundern, daß ich heute ein Drama zur Lektüre empfehle. Ich täte dies auch nicht, läge seine letzte Aufführung nicht bereits über 200 Jahre zurück und bestünde ernsthafte Aussicht, daß eine Wiederaufführung in naher Zukunft zu erwarten wäre. Vor die Wahl gestellt zwischen Lesen oder gar nicht erst zur Kenntnis nehmen, erstrahlt das Lesen natürlich mit wunderbarer Gloriole.
Von Joachim Wilhelm von Brawe gibt es zwei Dramen, den “Freygeist” und eben den “Brutus”. Während es der “Freygeist” in das Repertoire vieler deutscher Bühnen seiner Zeit schaffte, blieb vergleichbarer Ruhm seinem Zweitwerk verwehrt. Doch dazu später mehr.
Im “Brutus” erzählt Brawe die Geschichte eines Mannes, der sich als Rächer eines von einem übermächtigen Imperium unterdrückten Volkes sieht, sich zu diesem Behufe in eben jenes integriert, als Bürger Vertrauen gewinnt, um dann in einer entscheidenden Situation mit einer einzigen Aktion Rache zu üben, dabei sein eigenes Leben opfernd.
Nicht gerade das typische Setting des Aufklärungsdramas, nicht wahr? Und genau deshalb verdient es weit mehr Aufmerksamkeit als die, zugegebener Maßen steigende, Beachtung in literaturhistorischen Zirkeln.
Was Brawe hier in seiner Verquickung von Gründungsmythen, Sendungsbewußtsein und persönlichen Konflikten anstellt, ist höchst faszinierend. Die Guten und Wahrhaften, die strahlenden Helden sind hier überhaupt nicht mehr vorhanden. Ein jeder irrt, fehlt und richtet Unheil an. Er zeichnet das Bild einer sich im scheinbaren Abwehrkampf gegen zerstörerische Tendenzen selbst zerstörenden Welt, in der jeder meint, die einzige Wahrheit zu kennen und bereit ist, diese durchzusetzen.

[…]Versöhnst Du so
Den Zorn, den deine Weichlichkeit gereizt,
Vermeßner? sprichst du durch dieß freche Lob
Noch meinem Hasse Hohn? Ruft nicht das Blut,
Das in dir glüht, zur Rache dich? War es
In jenem Krieg´, als Roms unmenschlich Joch
Italien zum alten Muthe zwang,
Nicht Brutus Vater, der mein ganz Geschlecht
Vertilgte, weil es nicht der Römer Stolz
Vergötternd ehrte, weil ihm der Geist
Des freyen Samniums erwachte? – Tag
Des Grauns! Verhaßter Tag! als dieser Held,
Mein Vater, und um ihn ein blühend Chor
Ihm gleicher Söhne von dem stolzen Beil,
Das schon so oft vom Mord der Edelsten
Geraucht, ertödtet fielen, als mich selbst
Die glückliche Verachtung kaum erhielt,
Die meine Kindheit traf, als mich das Blut
Des Vaters überfloß, und Rache bat.
O Tag! Nein, dich vergeß ich nie – […]

(I/6, 231-249)*

Zum Zeitpunkt des Geschehens (wir befinden uns im Vorfeld der Schlacht bei Philippi) liegen diese Ereignisse nun schon knapp ein halbes Jahrhundert zurück, aber solche Kleinigkeiten hindern ja auch heute niemanden daran, sich Gründe für seinen überbordenden Haß zurechtzulegen.
Und auch heute noch finden sich Leute, die auf ihre superschlauen Pläne, mit denen sie die Offenheit und Toleranz einer Gesellschaft zu ihren Zwecken ausnutzen, furchtbar stolz sind (selten übrigens macht diese Formulierung derart Sinn):

[…]Erblick in mir
Der Römer größten Feind, den Samnier.
Ihr schläfertet zu niederträchtger Ruh
Und feigem Frieden zwar Italien,
Durch eure Tyranney empöret, ein;
Gehorsam trug ihr Joch die Erde: nur
Nicht ich; in mir nur lebte noch der Krieg,
Dem hofnungslos die Nationen feig´
Entsagten. Euch bekämpfte nur verdeckt
Mein Haß, da öffentlich stets wider ihn
Roms stolzer Genius den Sieg erstritt.
Mir war dieß stolze Bürgerrecht, das ihr
Mir gabt, zu eurem Fall ein günstger Weg.
Ich säete durch eifersüchtge Furcht
Zukünftgen Krieg in eurer Großen Herz.

(IV/7, 1270-1284)

In den Nachrufen auf den gerade einmal zwanzigjährig verstorbenen Dramatiker wurde das zeitige Ableben eines der größten Talente seiner Zeit betrauert. Und auch wenn ich nach dem “Brutus” geneigt bin, zu glauben, daß er es nicht leicht gehabt hätte. Denn ob das durch Tucholsky vermittelte Credo Jacobsohns, Erfolg sei Mißverständnis, auch für das 18. Jahrhundert gilt, vermag ich nicht zu beurteilen, auf jeden Fall aber gilt es für den Mißerfolg. Damals wie heute. Und nach allem, was ich bisher über die zeitgenössische Rezeption lesen konnte, deutet doch vieles darauf hin, daß Brawes Hang zum “genialisch-fundamentalistischen Rächer”** auf Dauer wenig Verständnis seines bürgerlichen Publikums erwarten durfte. Nach der Lektüre des “Brutus” jedenfalls bedauerte ich sein frühes Versterben durchaus auch aus egoistischen Motiven: Ich hätte gar zu gerne noch mehr von ihm gelesen – oder gar gesehen.
Schließen möchte ich mit einem Zitat aus dem Nachwort der 2007er Ausgabe des “Brutus”:

Lessing´scher Humor oder eine ähnliche Brechung sucht man in den Stücken Brawes vergebens, denn er ist in der Umsetzung seiner thematischen Obsession radikal. Wo gerächt wird, gibt es nichts zu lachen.

(S.87)

Und natürlich für die kaufwilligen Lesenden auch einen Verweis auf die

lieferbare Ausgabe.


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*zitiert nach: Brawe, J.W.v.: Brutus. Ille & Riemer. Leipzig/Weißenfels 2007
**Frank Fischer

Velozipedäres Leiden (2)

Als Fahrradfahrer hat man es nicht leicht. Von allen mißtrauisch beäugt – und anfällig für Zorneshandlungen sämtlicher anderer Verkehrsteilnehmer – ist permanent darauf bedacht, die nächste Gefahrenquelle bereits rechtzeitig zu erspähen.
Nicht immer hilft das, vor allem beim Autofahrerlieblingssport “Aussteigen, egal was da hinter mir passiert.” müsste man schon das Radfahren als solches einstellen, wollte man diese zwar deutlich sichtbare, aber nicht im Geringsten vermeidbare Gefahr umgehen (naja, OK, man könnte stattdessen mittig in der Fahrbahn fahren, was aber aus einem möglichen Unfall einen sicheren Lynchmord macht, kein kluger Tausch, aber möglich).
Ich habe mir seit einiger Zeit die überaus nützliche Eigenschaft von Regeln, das eigene Denken zu Gunsten des Befolgens einer Handlungsanweisung auzuschalten, zu Nutze gemacht und befolge derzeit recht strikt die Regeln der Straßenverkehrsordnung, zumindest soweit sie mir bekannt sind. Ich halte an roten Ampeln getreulich an, überhole nur links, zeige jeden Richtungswechsel an, halte an Stoppschildern wie auch an Fußgängerüberwegen und bin überhaupt ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft.
Das Ergebnis ist faszinierend. Zum einen stellte ich eine erhöhte Neigung an mir fest, mich über das Fehlverhalten anderer Verkehrsteilnehmer zu erregen, zum anderen aber werde ich seit dieser fundamentalen Entscheidung derart angepöbelt, wie es keinem fußwegbenutzenden Radfahrrowdie geschieht.
Gerade heute wurde ich von einer Autofahrerin angeraunzt, weil ich ihr die ihr zustehende Vorfahrt ließ (rechts vor links, you know?), sie aber anhielt, um mich weiterfahren zu lassen. Übrigens, liebe Autofahrer: Für den radfahrenden Verkehrsteilnehmer, erst Recht mit gut besetztem Kinderanhänger, ist “Losfahren” mit etwas mehr Aufwand verbunden als dem sanften Herunterdrücken eines ergonomisch geformten Pedals – wenn ich also anhalte, damit ihr eure Vorfahrt nutzen könnt: Dann tut das gefälligst. Für nüscht und wieder nüscht angehalten zu haben ist überaus unerfreulich.
Das melidiöse Geräusch meiner Klingel erweckte dann einen träumenden Fußgänger, dem ein 10 Meter breiter Fußweg einfach nicht passend zu sein schien, weshalb er lieber auf dem durch Grünwerk extra abgetrennten Radweg flanierte und wahrscheinlich darüber grübelte, welcher Turner-Preisträger das war, der immer in den Innenstädten das Pflaster rot färbte und stilisierte Fahrräder auf den Boden malte. Völlig verständlich also, daß er sich über die Unterbrechung seines Kunstgenusses durch mich Banausen nicht amüsiert zeigte.
Geradezu in Lebensgefahr gerieten allerdings die gerade eine Straße überquerenden jungen Damen, als ich, mustergültiger Verkehrsteilnehmer, der ich bin, anhielt, um ihnen das zügige Verlassen der Fahrbahn zu ermöglichen. Darüber waren die beiden allerdings derart verblüfft, daß sie unvermittelt stehen blieben – eine höchst unkluge Reaktion, wie ihnen Legionen von Igelgeistern berichten könnten, denn der nachfolgende Kraftverkehr machte sich bereits akustisch bemerkbar. Sie eilten denn auch, nicht ohne vorher wild gestikulierend meine Weiterfahrt einzufordern, mit erhöhtem Tempo hinüber.
Offenbar führt also mein regelkonformes Verhalten zu größter Verwirrung, die ja bekanntermaßen nicht selten in Aggressionen umschlägt. Nicht auszudenken also, welch Angst und Schrecken ich wohl verbreite, wenn ich mich an der roten Ampel nicht irgendwie an den Autos vorbeischlängle, sondern geduldig in der Reihe warte. Wahrscheinlich sitzen die gequälten FahrerInnen schweißüberströmt mit krampfenden Händen an ihrem Lenkrad, ununterbrochen Innen- und Außenspiegel kontrollierend, wann denn nun endlich dieser Verrückte unter Gefährung der Unversehrtheit ihres Fortbewegungsmittels an ihnen vorbeikurven wird.
Verständlich, daß dann ein Fluch auf diese verdammten Radfahrer folgt, wenn man anschließend das Umschalten der Ampel verpaßt.
Was aber lehrt uns das?
Ganz offenbar sind Radfahrer im kollektiven Gedächtnis der übrigen Verkehrsteilnehmer neben spielenden Kindern wohl die unberechenbarsten Gestalt beiderseits der Fahrbahn. Die machen alles, nur nicht das, was sie sollten. Sprich: Die Nonkonformität ist zur Regel geworden.
Was wiederum bedeutet: Wahrhaft subversives Verhalten erfordert heute unbedingtes Beachten der offiziellen Vorschriften. Mit nichts, ihr lieben Radfahrer, stiftet ihr mehr Ärger bei WackeldackelHäckelklorollenRenaultfahrern als mit einem völlig korrekten Einordnen zum Linksabbiegen. Nur Spießer ziehen plötzlich von rechts rüber. Wahre Punks aber zeigen ihren Wunsch korrekt an und ordnen sich rechtzeitig links ein, natürlich nicht ohne sich vorher mit einem Schulterblick zu versichern, daß der Weg frei ist.
Ich rate nur: Tragt einen Helm. Denn es könnte sein, daß der nachfolgende Verkehr annimmt, ihr wolltet weiter geradeaus fahren.

Der Hausheilige sieht das ja bekanntermaßen viel entspannter:

Das kommt daher, daß die Deutschen sich einbilden, man könne eine Sache zu Ende organisieren. Das kann man eben nicht. Man kann eben nicht alles kodifizieren, vorherbestimmen, ein für allemal voraussehen, alle jemals vorkommenden Lagen bedenken, sie ›regeln‹ und dann keinen Einspruch mehr gelten lassen . . . so sieht die Justiz dieses Landes aus, und sie ist auch danach. Auf den Straßen aber ergibt sich das groteske Zerrbild, daß der Fußgänger der Feind des Autos ist, das er neidisch und verächtlich ignoriert – er wird es den Brüdern schon zeigen –; der Fahrer Feind des Fußgängers – wo ick fahre, da fahre ick – ums Verrecken bremst er nicht vorsichtig ab, fährt nicht um den Fußgänger herum, weil ›der ja ausweichen kann‹ . . . und aller Feind ist der regelnde Mann: der Polizist.
Das Ideal dieses Verkehrs sieht so aus, daß vom Brandenburger Tor herunter alle Städte des Reichs durch einen Reichsverkehrswart geregelt werden, überall hat zu gleicher Zeit ein grünes Licht aufzuleuchten, und gehorsam und scharf anfahrend, setzen sich 63657 Wagen in Fahrt. Das wäre ein Fest …
Schade, daß es nicht geht. Aber er ist auch so schon ganz hübsch, der deutsche Verkehr. Man fährt am besten um ihn herum.

aus: Der Verkehr. in: Werke und Briefe: 1929. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 7182 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 7, S. 308) (c) Rowohlt Verlag http://www.digitale-bibliothek.de/band15.htm


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