Klaus Leesch: Eduard Bernstein (1850-1932)

Klaus Leesch hat sich in seiner Werkbiographie des frühen Sozialdemokraten Eduard Bernstein einer Mammutaufgabe gestellt.

Bernstein ist sowohl während seiner Lebzeiten als auch in der späteren Rezeption stets voreingenommen bewertet worden. In seinem Wirken während der Flügelkämpfe in der Sozialdemokratie, insbesondere in der Kaiserzeit, mag das noch in der Natur der Sache liegen.

Als bedeutender Publizist in der sozialdemokratischen Presse, der noch dazu immer wieder klar Stellung bezog, konnte er kaum mit einem ausgewogenen Urteil rechnen. In der Rezeption der Nachkriegszeit wiederum diente er beidseits der Mauer vorrangig als Projektionsfläche nebst der dazugehörigen Rosinenpickerei.

Das führte nicht nur zu einseitigen Urteilen, sondern auch zu erheblichen Forschungsdesideraten, denn wirklich intensiv und sachlich beschäftigten sich kaum Forscher mit ihm. So kommt es denn auch zustande, dass von einem der wichtigsten Vertreter der frühen Sozialdemokratie bis heute keine vollständige Werkausgabe vorliegt.

Vor diesem Hintergrund ist Klaus Leeschs umfassende Arbeit nicht nur zu begrüßen, sie ist willkommen zu heißen.

Leeschs Arbeit umfasst in der gedruckten Ausgabe zwei Bände mit insgesamt über 1700 Seiten und war seine Dissertation an der Fern-Universität Hagen. Leesch hat sich lange und intensiv mit Bernstein beschäftigt. Das ist von der ersten Seite an zu spüren – ebenso wie die Sympathie des Autors der Person Bernsteins gegenüber. Dass ihm trotzdem die sachliche Distanz nicht abhanden kommt, ist ein unbedingter Pluspunkt. Und unbedingt notwendig, voreingenommene Bernstein-Literatur gibt es ja – wie eingangs erwähnt – bereits zur Genüge.

Dennoch wäre hier ein etwas rigoroseres Lektorat gewinnbringend gewesen. Ich hatte beim Lesen sehr bald den Eindruck, Klaus Leesch wolle nun gleich alle bestehenden Lücken mit einem Mal schließen. Insbesondere seine langen und umfangreichen wörtlichen Zitate aus Bernsteins Werk machen die Lektüre schnell mühsam. Natürlich ist die Belegarbeit schwierig, wenn keine in Umfang und Güte zufriedenstellende Werkausgabe zur Verfügung steht. Eine bessere Lösung wäre hier aber wahrscheinlich dennoch die Auslagerung in einen Quellenband bzw. in den Anhang gewesen. So aber entstehen Redundanzen und Längen, die es schwer machen, die Biographiearbeit des Autors wahrzunehmen. Das ist sehr schade, denn so entsteht der Eindruck, dass vor lauter Ansprüchen, denen diese umfangreiche Arbeit gerecht werden will, sie letztlich keinem wirklich gut entspricht.

Dennoch: Dieses Mammutwerk wird seinen unübersehbaren Platz in jeglicher Arbeit zu Bernstein und der frühen deutschen Sozialdemokratie finden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand zu diesem Themenkomplex arbeiten kann, ohne künftig Leeschs Werkbiographie zur Kenntnis zu nehmen. Aus diesem Bergwerk werden noch so manche Schätze geholt werden.

Und dem interessierten Publikum wünsche ich, dass Klaus Leesch noch einmal nachlegt – mit einer schlankeren Biographie unter dem Motto: Mehr Leesch wagen.

Details zum Buch:
Klaus Leesch: Eduard Bernstein (1850-1932). Campus Verlag Frankfurt/Main 2024, 2 Bde., 1788 Seiten, 189 € ; als ebook (epub oder PDF) 179,99 €
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Steffen Mau: Ungleich vereint

Über Ost und West, die Einheit und ihre (Nicht-)Vollendung ist bereits viel geschrieben worden. Vieles davon beruht aber eher auf gefühltem Wissen oder tradierten (Vor-)Urteilen.

 Steffen Mau nimmt in diesem Buch seine Profession als Soziologe aber Ernst und macht etwas, das überraschend selten getan wird: Er schaut ganz genau hin, nutzt das Instrumentarium der Sozialwissenschaften und kommt dabei zu präzisen Ergebnissen. Dieser nüchterne, genaue Blick darauf, was wirklich ist – also welche Einstellungen, welche Wertvorstellungen, welche Mentalitäten tatsächlich im Osten existieren und woher sie stammen, hebt sich wohltuend von gängigen Polemiken ab.

Dabei zeichnet er die verschiedenen Phasen des Umgangs mit „dem Osten“ nach und macht überzeugend deutlich, dass die Strategie der Anwandlung an „den Westen“ nicht nur nicht zielführend, sondern auch schlicht nicht funktioniert hat – und auch nicht funktionierend wird. Eine demokratische Zukunft ist überhaupt nur erreichbar, wenn wir in der Gesamtgesellschaft anerkennen, dass es erhebliche Unterschiede gibt, die unterschiedliche Herangehensweisen und Instrumente erfordern. Wir müssen endlich weg davon kommen, unsere Entscheidungen auf Voreingenommenheiten und Illusionen zu stützen. Dafür ist eine realistische, saubere Bestandsaufnahme eine unerlässliche Grundlage.

Die sorgfältige Beobachtung und Argumentation von Steffen Mau bietet eine exzellente Grundlage für künftiges politisches Handeln, weg von illusorischen Vorstellungen, hin zu einer die Realitäten anerkennenden, aktiven Gestaltung einer weiterhin möglichen demokratischen Zukunft – nicht nur des Ostens, sondern der ganzen Bundesrepublik. 

Besonders spannend fand ich Maus Gedanken, die nie wirklich gelungene Verwurzelung der bundesrepublikanischen Parteien im Osten als Herausforderung und Ideenfeld zu nutzen, wie Demokratie dennoch funktionieren könnte – denn es braucht keine prophetische Gabe, um abzusehen, dass die bereits stark bröckelnden Strukturen im Westen auch dort nicht mehr ewig halten werden. Der Trend ist seit Jahrzehnten ungebrochen und es ist nicht abzusehen, dass er endet. Also: Anstatt immer wieder herumzujammern, dass der Osten nicht wie der Westen ist, lasst uns diesen Fakt doch einfach mal anerkennen und schauen, was wir da tun können. Denn eines ist klar: Die Faschisten haben das längst erkannt und spielen ihr Playbook durch. Wird Zeit, mal ganz zügig eine 20 zu würfeln und loszulegen…

Auch wenn ich Mau’s Optimismus für seine vorgeschlagenen Lösungswege nicht ganz zu teilen vermag, sein Plädoyer dafür, dass es unabdingbar ist, jetzt etwas zu tun, ist absolut überzeugend.

Buchdetails:
Ungleich vereint : warum der Osten anders bleibt von Steffen Mau. Suhrkamp Berlin 2024, 168 Seiten, ISBN 978-3-518-02989-3, auch als ebook erhältlich

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Lupenreine Demokraten

Definitionen von Oxford Languages: lu·pen·rein /lúpenrein/ Adjektiv 1. (von Diamanten) bei einer bestimmten starken Vergrößerung große Reinheit zeigend, keinen Einschluss erkennen lassend. "lupenreine Brillanten" 2. fehlerfrei, ohne jede Abweichung vom Ideal. "ein lupenreiner Sound"

Es sind gerade schwere Zeiten für Pazifistʔinnen. Wir erleben einerseits eine massive Militarisierung der Gesellschaft. Das offenbart sich in allen Bereichen. So etwas wie der Rheinmetall-Deal von Borussia Dortmund zum Beispiel wäre noch vor 4 Jahren undenkbar gewesen. Das ist möglicherweise nicht der stärkste Beleg, die Flexibilität gerade des Fußballs in Bezug auf die propagierten Werte, die sich eben ganz erheblich von den praktizierten unterscheiden, ist ja weithin bekannt.

Trotzdem finde ich es als Zeichen dafür, wie tief verankert der Militarismus inzwischen wieder ist, gar nicht so abwegig: Gerade die Dortmunder Fans haben eine durchaus lebhafte und große Fanszene, die sich immer wieder gesellschaftspolitisch positioniert. Und selbst diese lässt sich also mit den blumigen Erklärungen abspeisen, die vor allem eines beweisen: In der gesellschaftlichen Wirklichkeit sind Wertebekenntnisse ausgeleierte Phrasen. Auf die Irritationen, wenn dann künftig mit dem Rheinmetall-Logo gegen Rechtsextremisten Flagge gezeigt werden soll, dürfen wir uns alle freuen.

Natürlich ist es auch absurd zu glauben, wenn zwei Aktiengesellschaften einen Werbevertrag verkünden, ginge es um irgendwelche anderen Werte als Aktienwerte. Dazu hat auch jüngst Jon Stewart ein sehr schönes Stück präsentiert:

https://youtube.com/watch?v=TWVbZ0WQ3s8%3Fsi%3DEKq3SgVjiBFHc24b
Jon Stewart Smashes the Myth of Corporate Morality in Pride, BLM, and Beyond | The Daily Show

Andererseits befindet sich auch der mediale Diskurs zunehmend in einem Kriegszustand, in dem es nur noch darum geht, auf welcher Seite man steht. Das ist natürlich verständlich, die Multikrise verlangt nach entschiedenem Handeln und da ist es durchaus hilfreich, Seiten zu wählen. Was mich aber irritiert: Wir scheinen es inzwischen für sehr wahrscheinlich zu halten, dass Menschen und Gruppierungen, die wir bis gestern noch für vernünftig gehalten haben, urplötzlich den Verstand verloren haben und jetzt Genozide oder Kriegsverbrechen schnafte finden. Ein solches Vorgehen aber übersieht etwas: Es ist vollkommen möglich, auf derselben Seite zu stehen und dennoch ein paar Anmerkungen zu haben und den eingeschlagenen Weg nicht für der Weisheit letzten Schluss zu halten.

Dieser Hang zum Tribalismus, der suggeriert, wir stünden kurz vom Bürgerkrieg, vor dem uns dann nur der uns genehme Stamm retten kann, in dem er alles für alle bestimmt – das mag für Krisenzeiten typisch sein. Hilfreich für eine freie und offene Gesellschaft ist das nicht. Aber alle machen mit.

Und so dürfen wir nun am Sonntag erleben, wie in den zwei ostdeutschen Freistaaten Parteien mit Macht in die Landtage gewählt werden, die das Banner der Demokratie und der Meinungsfreiheit vor sich hertragen, tatsächlich aber mit Genuss und Freude die Mauern der bürgerlichen Demokratie schleifen wollen. Und dies auch werden: Die Konservativen waren in der Geschichte und der Gegenwart immer die Steigbügelhalter autoritärer und faschistischer Mächte, sie werden es auch hier sein. Wer in faktenresistenten Propagandaschleudern wie dem Bündnis Sprechen wie Wladimir oder den lupenreinen Flügel-Faschisten Machtoptionen sieht, hat aus dem 20. Jahrhundert und aus dem Mord an Lübcke nur eines gelernt: Geschmeidige Opportunisten finden immer einen Weg durchzukommen – Franz von Papen als leuchtenden Bannerträger. Bloß nix für die eigenen Werte riskieren, dann wird das schon.

Denn wie riet der Hausheilige dieses Blogs im Jahr 1931?

Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: »Ja und Amen – aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!«
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.1

Was mich erschüttert, was mich wirklich betroffen macht: Wir haben als Gesellschaft die letzten 100 Jahre nicht genutzt, um wirksame Strategien gegen das immer gleiche Playbook (passende Stichworte: Landnahme, National befreite Zone, Diskursverschiebung [kurze Anmerkung: Wisst ihr noch, wie Anfang des Jahres das Wort Remigration Millionen auf die Straße trieb? Heute kann man damit Wahlkampf machen]) zu entwickeln und ins Werk zu setzen. In der Breite stehen wir heute wieder völlig ratlos da, lassen uns vorführen und überrumpeln. Und nicht einmal das mit Absicht und genau für diesen Fall eingeführte scharfe Schwert der Demokratie wagen wir zu ziehen. Die Verfasser:innen des Grundgesetzes wussten, dass gegen solche lupenreinen Demokraten wie sie nun bald mit fetten Prozentsätzen in den Landtagen sitzen im Zweifelsfall nichts anderes hilft. Kein Reden, kein Debattieren, keine seitenlangen Faktenchecks.

Und eines können wir gewiss sein: Die werden die Hebel nutzen, die da sind. Sie werden uns zeigen, was die Werkzeuge der wehrhaften Demokratie können, wenn sie eingesetzt werden. Nur dann halt nicht von echten, sondern von lupenreinen Demokraten.

  1. aus: Kurt Tucholsky, Rosen auf den Weg gestreut. veröffentlicht als Theobald Tiger in Die Weltbühne, 31.03.1931, Nr. 13, S. 452. online verfügbar bei textlog.de ↩︎

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt

Umschlagabbildung zu Die Wut, die bleibt von Mareike Fallwickl

Helene, Mutter dreier Kinder, steht eines Tages vom Abendbrottisch auf, geht zum Balkon und stürzt sich in die Tiefe. Ihre Freundin Sarah will den Hinterbliebenen helfen und findet sich unversehens in Helenes Rolle wieder – obwohl sie das nie wollte.

Sarah möchte in dieser Krisensituation helfen – aus der lebenslangen Freundschaft zu Helene heraus, aus Zuneigung zu diesen Kindern, deren ältestes, Lola, sogar einst Teil ihrer Wohngemeinschaft war. Und schließlich, weil man Menschen eben in einer solchen Situation nicht hängen lässt.

Dass damit eine Falle zuschnappt, dass sie ganz selbstverständlich in einer Rolle gelandet ist, die sie weder wollte noch ihr zusteht und die ihr nur aus einem einzigen Grund zugewiesen wird, weil sie eine Frau ist, wird ihr bald klar. Weniger klar allerdings ist ihr der Weg, dort wieder herauszukommen. Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen Monate und es droht die Jahresfrist. Begleitet wird in ihrem Geist von einer Manifestation Helenes, die sie spöttisch beobachtet, ihr Fragen stellt, die befreit wirkt.

Helenes hellsichtige Tochter Lola ist nicht bereit, sich den Erwartungen an ihre Rolle zu beugen. Sie liest feministische Literatur, weiß um die Wirkmechanismen des Patriarchats und mit der Intensität jugendlicher Überzeugungen konfrontiert sie Sarah und alle anderen Menschen in ihrer Umgebung mit ihrer Sicht auf die Welt. Klar, überzeugt und analytisch scharf. Doch erst eine Schlüsselsituation, in der sie sich hilflos männlicher Gewalt ausgesetzt sieht, bringt sie zur Tat. Sie ist nicht länger bereit, das Unrecht tatenlos hinzunehmen und die Gewalt männlichen Tätern zu überlassen, die mit ihren Taten unbehelligt ihre Leben weiterleben.

Ein Schlüsselement dafür wird das Teilen von Erfahrungen, von Erlebnissen wie sie nur Frauen (oder als Frauen gelesene Personen) haben – und die sie alle gemacht haben. Daraus speist sich Lolas Wut und es wird eine unglaubliche Energie frei dabei. Das Ende des Schweigens der Frauen wird auch Lola und Sarah helfen, einander zu verstehen und es ist der Motor ihrer Emanzipationsgeschichte. Je weiter diese voranschreitet, desto seltener tritt Helene in Erscheinung.

Mareike Fallwickls Roman hat bei mir massiven Eindruck hinterlassen. Was für eine Kraft, was für eine Wucht steckt in diesem Befreiungsschrei von einem Roman!

Es ist mit Sicherheit eine der aufwühlendsten, beeindruckendsten Lektüreerfahrungen mindestens der letzten Jahre, wenn nicht überhaupt meiner ganzen Lesebiographie. Da sind so viele Aspekte, die mir auch erst jetzt im Nachgang erst klar werden. Ich werde noch lange damit zu tun haben.

Buchdetails:
Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Rowohlt Hundert Augen Hamburg 2022, 377 Seiten, gebunden. ISBN 978-3-498-00296-1, 22 €, als ebook 15,99 €
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Carolin Kebekus: Es kann nur eine geben

Umschlagabbildung zu Carolin Kebekus, Es kann nur eine geben

Mit Carolin Kebekus bin ich sehr lange nicht so recht warm geworden. Wie bei vielen Comedians, die ihr Handwerk im Karneval-Kontext erlernt und erprobt haben, war mir das lange Zeit zu krawallig, zu platt, zu sehr schenkelklopfend (auch wenn ich hier mal selbstkritisch überprüfen muss, ob mich das bei ihr nicht besonders gestört hat, weil sie eine Frau ist – ich kann das nicht abschließend beurteilen, weil es extrem schwierig ist, sich in sein früheres Ich hineinzuversetzen, aber insbesondere nach der Lektüre dieses Buch muss ich das für wahrscheinlich halten).

Das hat sich in den letzten Jahren geändert, dennoch war ich skeptisch. Allerdings völlig zu Unrecht. Sie legt hier einen Grundkurs zu den drängendsten gesellschaftlichen Fragen aus feministischer Perspektive hin, der keine Themen scheut, Probleme klar benennt und dabei erstaunlich locker bleibt. Das ist eine große Kunst und Carolin Kebekus beherrscht sie meisterhaft. Immer wieder im Fokus steht dabei der Slogan »Die eine, die Schönste, die Beste, die Auserwählte.«

Es ist Augen öffnend, wie sie immer wieder zeigt, an wie vielen Stellen und mit wie vielen Mitteln und Methoden wir gesellschaftlich dafür sorgen, dass Frauen sich nicht nur permanent gegenseitig behindern, sondern das auch noch wollen. Wie sie dazu gebracht werden, es völlig normal und natürlich zu finden, dass es eben nur »die Eine« geben könne. Wie dazu schon unsere Urmythen, unsere Kindheitshelden, unsere Jugendidole, unsere Eltern beitragen.

Für mich ist das eine der großen Stärken dieses Buches, aufzuzeigen, wie viel möglich wäre, würden Frauen sich verbünden, Netzwerke schaffen, sich gegenseitig stärken und stützen – genau so wie Männer das ganz selbstverständlich und gesellschaftlich akzeptiert auch tun.

Und: Carolin Kebekus zeichnet ihren eigenen Erkenntnisweg nach, beschreibt, wie sie selbst erst gelernt hat, bestimmte Dinge zu sehen, wie sie heute Dinge anders handhabt als sie das noch vor wenigen Jahren getan hat. Das führt zu einer Haltung, die die Hand reicht, die mitnimmt, die einlädt. Und damit vielleicht in der Lage ist, Menschen mitzunehmen, die sich von Appellen nicht angesprochen fühlen.

Mich hat sie auf jeden Fall erreicht und ich habe vieles zu sehen gelernt, das mir vorher nicht so klar war.

Buchdetails:
Carolin Kebekus: Es kann nur eine geben. Mit einem Kapitel von Mariella Tripke. Kiepenheuer & Witsch Köln 2021. 352 Seiten, Paperback. ISBN 978-3-462-00174-7, 18 €, als ebook 14,99 €
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Neues aus der Wrobelei: Der Newsletter

Es ist ein hochspannender Prozess, der da seit ein paar Jahren beobachtet werden kann: Ein Rückzug ins Digital-Private. Wichtige Inhalte werden nicht mehr öffentlich auf bekannten sozialen Medienplattformen publiziert, sondern im geschützten Raum der Abonennten. Das gilt natürlich nicht erst, seit wir wissen, dass Hirse-Hitler seine Fans über Telegram anschreibt.

Die Renaissance des email-Newsletters ist schon länger zu beobachten und nimmt zunehmend Fahrt auf. Was ihr schon allein daran erkennt, dass so ein Late-Adopter wie ich jetzt damit anfange (wahrscheinlich kurz bevor ich mir ein TikTok-Konto zulege 😉 )

Jedenfalls: Drüben bei Substack (auf diese Plattform hat mich die wunderbare Berit Glanz mit ihrem nicht weniger wunderbaren Projekt »Phoneurie« gebracht) gibt es in Kürze »Neues aus der Wrobelei«.

Und darum soll es gehen:

Nicht erst seit dem Wiedererstarken des verdeckt und offen auftretenden Faschismus in Deutschland und Europa, wendet sich der Blick ein Jahrhundert zurück, in die gescheiterte Republik von Weimar.

Was ich hier versuchen möchte: Die Gegenwart ein wenig durch die Linse des Werks von Kurt Tucholsky und seiner Rezeption zu betrachten. Ich glaube, dass es spannend sein kann, heutige Rückgriffe mit dem Blick des Zeitgenossen zu kontrastieren. Oder heutige Debatten ähnlichen Debatten aus dem »Babylon Berlin« gegenüberzustellen. Und sonst interessante Dinge mit Tucholsky- oder Weltbühnenbezug, die mir so begegnen. 🙂

Der Titel »Neues aus der Wrobelei« ist freilich selbst bereits Referenz. Die Nicht-Tucholsky-Referenz überlasse ich dabei Suchwilligen. Die andere sei kurz erläutert:

Ignaz Wrobel war eines der 5 PS, seiner fünf Finger an einer Hand, in Kurt Tucholskys Schaffen. Seinen Ignaz Wrobel, benannt nach dem ungeliebten Mathematik-Lehrbuch und dem hässlichsten Vornamen, den er sich denken konnte, beschreibt er so:

Wrobel, einen essigsauern, bebrillten, blaurasierten Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare [aus: Start, 1927]

Und so sind denn auch viele der Texte, die er unter diesem Pseudonym veröffentlichte: Grantelnd, mosernd, die Schlechtigkeit der Menschen anklagend. Aber eben auch: Aufklärerisch, moralisch unbeirrt, bitter-ironisch.
Mit 16, als ich das erste Mal durch die Raddatz-Ausgabe durch war*, wäre Ignaz Wrobel kein Pseudonym gewesen, mit dem ich mich irgendwie hätte identifizieren wollen oder können.

Ein paar Jahrzehnte und Kompromisse mit der Welt später, fühle ich mich ihm doch deutlich näher. Schlußendlich aber soll Tucholskys Charakterisierung des Satirikers als Leitspruch über diesem Projekt stehen:

Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an. [aus: Was darf die Satire?, 1919]

Ich plane derzeit 1-2 Newsletter je Monat, los geht es Ende November 2020. Bis dahin, tell your friends!

*was hier nur als Zustandsbeschreibung verstanden werden soll, nicht als fishing for compliments, ich war nicht sozial eingebunden und Bücher waren sozusagen meine Freunde, da sind 10 Bände keine allzu ausufernde Beschäftigung – mal ganz davon abgesehen, dass die Jugend aufgrund ihrer kurzen Lesebiographie eine Phase zu sein scheint, in der noch so viel neu und aufregend ist, dass erstaunliche Lesetempi entstehen, ich jedenfalls habe nie wieder so viel »weggelesen« wie zwischen 14 und 18

Die Verteidiger des Abendlands

»Die Zeit schreit nach Satire« – nach diesem Tucholsky-Text benennt die Kurt Tucholsky-Gesellschaft ihre neue Anthologie, die im Jubiläumsjahr 2015 erscheinen soll.

Und es ist wirklich so, anders als satirisch ist das alles gar nicht mehr zu ertragen, was sich in Dresden und anderswo abspielt. Wer da so alles bei Spengler reloaded mitspielt – das treibt einem derart die Tränen der Verzweiflung in die Augen, dass sich doch ernsthaft die Frage stellt: Wenn dies Ausdruck des zu verteidigenden Abendlandes ist, wäre dann ein Untergang desselben nicht möglicherweise doch zu begrüßen?

Und doch, es ist auch mein Land, um das es hier geht. Da ist eben nicht egal, wenn hier wieder Leute unterwegs sind, um »der ganzen Welt und sich selbst zu beweisen, dass die Deutschen wieder die Deutschen sind«. Ich bin nur so müde. Meine politische Sozialisation erfolgte in den Neunziger Jahren, in den Jahren von Lichtenhagen, Solingen, Mölln, Hoyerswerda. Irgendwie hatte ich mich der Illusion hingegeben, diese Gesellschaft habe etwas gelernt und das Thema zumindest hätten wir hinter uns. Haben wir aber nicht. Und wenn selbst CSNY die Klampfen wieder in die Hand nehmen, weil sie merken, dass ihre Themen doch noch nicht durch sind – nun, dann werden wir jungen Hüpfer das doch wohl auch hinbekommen. Dann müssen wir wohl wieder raus.

Denn, wie der Hausheilige dieses Blogs 1929 schrieb:

Sie reißen den Mund auf und rufen: »Im Namen Deutschlands … !« Sie rufen: »Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.« Es ist nicht wahr.

Eben. Wir sind auch noch da. Wird Zeit, dies auch wieder zu zeigen:

Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land.

In diesem Sinne: Nehmen wir die Ratschläge der skeptischen Generationen ernst, hängen wir nicht nur die ganze Zeit vorm Rechner. Gehen wir doch mal wieder draußen spielen.

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Gruß zum 1. Advent

Der Gruß zum ersten Advent stammt heuer vom Hausheiligen dieses Blogs, Dr. iur. Kurt Tucholsky aus dem Jahr 1913, geschrieben als Theobald Tiger:

Großstadt – Weihnachten

Nun senkt sich wieder auf die heim’schen Fluren

die Weihenacht! die Weihenacht!

Was die Mamas bepackt nach Hause fuhren,

wir kriegens jetzo freundlich dargebracht.

Der Asphalt glitscht. Kann Emil das gebrauchen?

Die Braut kramt schämig in dem Portemonnaie.

Sie schenkt ihm, teils zum Schmuck und teils zum Rauchen,

den Aschenbecher aus Emalch glasé.

Das Christkind kommt! Wir jungen Leute lauschen

auf einen stillen heiligen Grammophon.

Das Christkind kommt und ist bereit zu tauschen

den Schlips, die Puppe und das Lexikohn,

Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,

voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,

dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:

»Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!«

Und frohgelaunt spricht er vom ›Weihnachtswetter‹,

mag es nun regnen oder mag es schnein,

Jovial und schmauchend liest er seine Morgenblätter,

die trächtig sind von süßen Plauderein.

So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden

in dieser Residenz Christkindleins Flug?

Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden …

»Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.«

(Nachzulesen bei textlog.org)

Eine Woche in ungelesenen Büchern (2)

Auch letzte Woche fielen mir wieder Bücher in die Hand, die ich aus verschiedensten Gründen bemerkenswert fand und ohne die ich die geneigte Leserschaft nicht in die nächste Woche gehen lassen möchte:

Im Marketing gilt ja derzeit Storytelling als Heilsbringer, weil auch die Damen und Herren dort inzwischen mitbekommen haben, dass Menschen gerne Geschichten hören (was passiert, wenn Marketingmenschen Geschichten erzählen, lässt sich ja an der durchaus grenzwertigen Telekom-Kampagne zu Magenta 1 erkennen…).

Wie so oft, so sind auch hier die Gamer schon viel weiter. Einen sehr spannenden Eindruck macht da auf mich der Band

Cover New Level

Thomas Böhm (Hrsg.): New Level, der sich mit dem Verhältnis von literarischem Erzählen und den Erzählstrukturen in Computerspielen beschäftigt – soweit ich das verstanden habe. Die Autorenliste liest sich jedenfalls vielversprechend, und damit meine ich nicht nur die Schriftstellerseite (auch wenn ich da tatsächlich mehr Namen einordnen kann: Wladimir Kaminer, Monika Rinck, Alban Nikolai Herbst, Ulrike Daesner, Sasa Stasinic und und und – die Liste ist durchaus bemerkenswert). Thomas Böhm hat ja das Internationale Literaturfestival Berlin kürzlich verlassen und schon allein dieses Projekt verdeutlicht, welch ein Verlust das ist. Besonders freue ich mich ja auf den Beitrag von Grit Schuster (siehe hierzu auch das Interview im Rahmen der Buchrezensionen auf WDR3). Hier sage ich mal, auch wenn ich noch keine Zeile gelesen habe: Das Buch lohnt sich. Definitiv.

Weit weniger tiefschürfend dürfte es bei

Cover Katze Internetstar

Patricia Carlin: Wie Sie Ihre Katze zum Internet-Star machen zugehen. Ganz im Gegenteil, es dürfte sich wohl alles in allem um einen grandiosen Spaß eher kurzer Haltbarkeitsdauer handeln, aber wer einen Ratgeber mit dem Titel »How to Tell If Your Boyfriend is the Antichrist (And If He Is, Should You Break Up with Him?)« schreibt, verdient Vertrauen.

Das Internet ist ja möglicherweise nicht nur eine Modeerscheinung, die wieder vergeht. Ganz im Gegenteil, mit dem Internet der Dinge scheint eher die nächste Stufe anzustehen (übrigens, und das finde ich an Umbruchszeiten immer sehr spannend, während da draußen Menschen sehr gut ohne Mobiltelefon und bargeldloses Zahlen klar kommen). Cyborgs sind wir vermutlich selbst schon lange und während ich mich noch an diesen Gedanken zu gewöhnen versuche, stolperte ich über dieses Buch (das offiziell erst morgen erscheint):

Cover Pschera Internet der Tiere

Alexander Pschera: Das Internet der Tiere. Da bin ich doch einmal sehr gespannt – zum einen, weil mir die Naturwissenschaften immer etwas fremd sind (faszinierend, aber fremd) – und zum anderen, weil mich interessiert, wie Ausnutzung der Tiere unser Verhältnis zu ihnen inniger werden lässt. Denn der Gedanke, mehr Kenntnis würde zu mehr Achtung führen, scheint mir doch angesichts des momentanen Zustandes der Mensch-Tier-Beziehung etwas zu naiv. Mag mich da aber auch irren.

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Fundstück (1)

Heute gefunden:

Wir stehen vor einem Deutschland voll unerhörter Korruption, voll Schiebern und Schleichern, voll dreimalhunderttausend Teufeln, von denen jeder das Recht in Anspruch nimmt, für seine schwarze Person von der Revolution unangetastet zu bleiben. Wir meinen aber ihn und grade ihn und nur ihn.
Und wir haben die Möglichkeit, zu wählen: bekämpfen wir ihn mit der Liebe, bekämpfen wir ihn mit Haß? Wir wollen kämpfen mit Haß aus Liebe. Mit Haß gegen jeden Burschen, der sich erkühnt hat, das Blut seiner Landsleute zu trinken, wie man Wein trinkt, um damit auf seine Gesundheit und die seiner Freunde anzustoßen. Mit Haß gegen einen Klüngel, dem übermäßig erraffter Besitz und das Elend der Heimarbeiter gottgewollt erscheint, der von erkauften Professoren beweisen läßt, dass dem so sein muß, und der auf gebeugten Rücken vegetierender Menschen freundliche Idyllen feiert. Wir kämpfen allerdings mit Haß. Aber wir kämpfen aus Liebe für die Unterdrückten, die nicht immer notwendigerweise Proletarier sein müssen, und wir lieben in den Menschen den Gedanken an die Menschheit.

Aus dem möglicherweise stärksten Text des Hausheiligen, der unbedingt und in Gänze zur Lektüre empfohlen sei: »Wir Negativen« (1919).

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