“Strafe nicht – sondern schütze die Gesellschaft vor Rechtsbrechern.”

Die Wahlperiode, in der ich als Schöffe am Jugendgericht tätig war, neigt sich dem Ende zu. Es war eine höchst interessante Zeit, ich habe Menschen aus sozialen Zusammenhängen kennengelernt, die mir tatsächlich vollkommen fremd waren (und sind). Es gab dort bemerkenswerte Geschichten zu hören, Lebensgeschichten, deren einzige Konstanz ihre Brüche waren. Ich sah junge Menschen, die, ganz egal, wie sie sich vor Gericht gaben, doch eines einte: Eine tiefgehende Verunsicherung. Manches Mal waren da nur Flügel und keine Wurzeln. Und tatsächlich dachte ich auch in manchen Fällen, ganz entgegen meiner ursprünglichen Überzeugung: “Da ist nichts mehr zu wollen, diesen jungen Menschen haben wir verloren.”

Wann auch immer in der jeweiligen Heimatstadt der geneigten Leserschaft die nächsten Schöffenwahlen anstehen, ich kann nur dazu ermutigen, sich zu bewerben. Mir hat es geholfen, die Welt einmal mit anderen Augen zu sehen und wenig ist wichtiger als ein Perspektivwechsel*.

Der Hausheilige dieses Blogs, Dr. iur. Kurt Tucholsky, hat den vielleicht besten Text (ich kenne zumindest keinen besseren) dazu geschrieben:

Merkblatt für Geschworene

Nachdruck erbeten

Wenn du Geschworener bist, dann glaube nicht, du seist der liebe Gott. Daß du neben dem Richter sitzt und der Angeklagte vor euch steht, ist Zufall – es könnte ebensogut umgekehrt sein.

Wenn du Geschworener bist, gib dir darüber Rechenschaft, dass jeder Mensch von Äußerlichkeiten gefangen genommen wird – du auch. Ein Angeklagter mit brandroten Haaren, der beim Sprechen sabbert, ist keine angenehme Erscheinung; laß ihn das nicht entgelten.

Wenn du Geschworener bist, denk immer daran, dass dieser Angeklagte dort nicht der erste und einzige seiner Art ist, tagtäglich stehen solche Fälle vor andern Geschworenen; fall also nicht aus den Wolken, dass jemand etwas Schändliches begangen hat, auch wenn du in deiner Bekanntschaft solchen Fall noch nicht erlebt hast.

Jedes Verbrechen hat zwei Grundlagen: die biologische Veranlagung eines Menschen und das soziale Milieu, in dem er lebt. Wo die moralische Schuld anfängt, kannst du fast niemals beurteilen – niemand von uns kann das, es sei denn ein geübter Psychoanalytiker oder ein sehr weiser Beicht-Priester. Du bist nur Geschworener: strafe nicht – sondern schütze die Gesellschaft vor Rechtsbrechern.

Bevor du als Geschworener fungierst, versuche mit allen Mitteln, ein Gefängnis oder ein Zuchthaus zu besichtigen; die Erlaubnis ist nicht leicht zu erlangen, aber man bekommt sie. Gib dir genau Rechenschaft, wie die Strafe aussieht, die du verhängst – versuche, mit ehemaligen Strafgefangenen zu sprechen, und lies: Max Hölz, Karl Plättner und sonstige Gefängnis- und Zuchthauserinnerungen. Dann erst sage deinen Spruch.

Wenn du Geschworener bist, laß nicht die Anschauung deiner Klasse und deiner Kreise als die allein mögliche gelten. Es gibt auch andre – vielleicht schlechtere, vielleicht bessere, jedenfalls andre.

Glaub nicht an die abschreckende Wirkung eures Spruchs; eine solche Abschreckung gibt es nicht. Noch niemals hat sich ein Täter durch angedrohte Strafen abhalten lassen, etwas auszufressen. Glaub ja nicht, dass du oder die Richter die Aufgabe hätten, eine Untat zu sühnen – das überlaß den himmlischen Instanzen. Du hast nur, nur, nur die Gesellschaft zu schützen. Die Absperrung des Täters von der Gesellschaft ist ein zeitlicher Schutz.

Wenn du Geschworener bist, vergewissere dich vor der Sitzung über die Rechte, die du hast: Fragerechte an den Zeugen und so fort.

Die Beweisaufnahme reißt oft das Privatleben fremder Menschen vor dir auf. Bedenke –: wenn man deine Briefe, deine Gespräche, deine kleinen Liebesabenteuer und deine Ehezerwürfnisse vor fremden Menschen ausbreitete, sähen sie ganz, ganz anders aus, als sie in Wirklichkeit sind. Nimm nicht jedes Wort gleich tragisch – wir reden alle mehr daher, als wir unter Eid verantworten können. Sieh nicht in jeder Frau, die einmal einen Schwips gehabt hat, eine Hure; nicht in jedem Arbeitslosen einen Einbrecher; nicht in jedem allzuschlauen Kaufmann einen Betrüger. Denk an dich.

Wenn du Geschworener bist, vergiß dies nicht –: echte Geschworenengerichte gibt es nicht mehr. Der Herr Emminger aus Bayern hat sie zerstört, um den Einfluß der ›Laien‹ zu brechen. Nun sitzt ihr also mit den Berufsrichtern zusammen im Beratungszimmer.

Sieh im Richter zweierlei: den Mann, der in der Maschinerie der juristischen Logik mehr Erfahrung hat als du – und den Fehlenden aus Routine. Der Richter kennt die Schliche und das Bild der Verbrechen besser als du – das ist sein Vorteil; er ist abgestumpft und meist in den engen Anschauungen seiner kleinen Beamtenkaste gefangen – das ist sein Nachteil. Du bist dazu da, um diesen Nachteil zu korrigieren.

Laß dir vom Richter nicht imponieren. Ihr habt für diesen Tag genau die gleichen Rechte; er ist nicht dein Vorgesetzter; denke dir den Talar und die runde Mütze weg, er ist ein Mensch wie du. Laß dir von ihm nicht dumm kommen. Gib deiner Meinung auch dann Ausdruck, wenn der Richter mit Gesetzesstellen und Reichsgerichtsentscheidungen zu beweisen versucht, dass du unrecht hast – die Entscheidungen des Reichsgerichts taugen nicht viel. Du bist nicht verpflichtet, dich nach ihnen zu richten. Versuche, deine Kollegen in deinem Sinne zu beeinflussen, das ist dein Recht. Sprich knapp, klar und sage, was du willst – langweile die Geschworenen und die Richter während der Beratung nicht mit langen Reden.

Du sollst nur über die Tat des Angeklagten dein Urteil abgeben – nicht etwa über sein Verhalten vor Gericht. Eine Strafe darf lediglich auf Grund eines im Strafgesetzbuch angeführten Paragraphen verhängt werden; es gibt aber kein Delikt, das da heißt ›Freches Verhalten vor Gericht‹ Der Angeklagte hat folgende Rechte, die ihm die Richter, meistens aus Bequemlichkeit, gern zu nehmen pflegen: der Angeklagte darf leugnen; der Angeklagte darf jede Aussage verweigern; der Angeklagte darf ›verstockt‹ sein. Ein Geständnis ist niemals ein Strafmilderungsgrund –: das haben die Richter erfunden, um sich Arbeit zu sparen. Das Geständnis ist auch kein Zeichen von Reue, man kann von außen kaum beurteilen, wann ein Mensch reuig ist, und ihr sollt das auch gar nicht beurteilen. Du kennst die menschliche Seele höchstens gefühlsmäßig, das mag genügen; du würdest dich auch nicht getrauen, eine Blinddarmoperation auszuführen – laß also ab von Seelenoperationen.

Wenn du Geschworener bist, sieh nicht im Staatsanwalt eine über dir stehende Persönlichkeit. Es hat sich in der Praxis eingebürgert, dass die meisten Staatsanwälte ein Interesse daran haben, den Angeklagten ›hineinzulegen‹ – sie machen damit Karriere. Laß den Staatsanwalt reden. Und denk dir dein Teil.

Vergewissere dich vorher, welche Folgen die Bejahung oder Verneinung der an euch gerichteten Fragen nach sich zieht.

Hab Erbarmen. Das Leben ist schwer genug.

Kurt Tucholsky: Merkblatt für Geschworene. in: Die Weltbühne, 06.08.1929, Nr. 32, S. 202.

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* Diese Szene beeindruckte ihren jugendlichen Betrachter derart, dass er beschloss, Lehrer zu werden. Und ich möchte auch heute noch glauben, dass es möglich ist, ein solcher zu sein, auch wenn mein Weg woanders hinführte.

Merkt ihr nischt?

Ich habe mir bereits vor einiger Zeit abgewöhnt, den Verlautbarungen diverser Politiker Gehör zu schenken. Mir fehlt die Muße, unter all den Paraphrasen und Euphemismen mühsam das hervorzugraben, was gemeint sein könnte – wenn denn etwas gemeint ist.
Als allerdings einigermaßen politisch interessierter Mensch und nach der Erfahrung, dass die Dechiffrierer auch nicht ganz frei von Eigeninteressen sind, lässt es sich jedoch manches Mal nicht vermeiden, doch zur Quelle vorzustoßen und genauer zu schauen, was die Darsteller des Politikzirkus von sich geben.

So durften wir also in den letzten Tagen erfahren, dass Dank der heldenhaften Tätigkeit unserer Sicherheitskräfte und mit Unterstützung unseres Brudervolkes die hinterhältigen Pläne einiger vom imperialistischen Ausland gesteuerter feindlicher Elemente zum Sturz unserer demokratischen Ordnung vereitelt werden konnten.

Jedenfalls, wenn ich das richtig verstanden habe.

Nahezu gleichzeitig sah ich einen Bericht über begeisterte Eltern, die von den Möglichkeiten des Digitalen Klassenbuchs überaus erfreut waren, gibt es ihnen doch die Möglichkeit, jederzeit genauestens darüber informiert zu sein, wann sich ihr Kind wo wie aufge- und verhalten hat.

Und da frage ich mich doch: Merkt ihr nischt?

Mir jedenfalls ist klar, warum sich so ertaunlich wenig Protest regt: Die Leute finden das toll, der aufgeklärte, freiheitsliebende, aufrechte und kritische Citoyen ist eine Chimäre, ein Trugbild, ein Märchen. Es gibt ihn nicht. Oder zumindest nicht in ausreichender Anzahl.
Es bleibt nur noch festzuhalten, dass der Terror gewonnen hat, der Elfteseptember das Mahnmal des Abschieds von der Freiheit ist, denn diese haben wir aus purer Angst aufgegeben und finden das toll.

Falls unsere Kinder einmal fragen, warum Systeme wie die DDR so lange funktionierten: Eben genau darum: Wer nichts zu verbergen hat, braucht sich nicht zu fürchten. Und betroffen sind immer nur die anderen. Damit kann man offenkundig einen Staat machen.

Und die Bürger nicken.
Behaglich nicken sie, zufrieden, dass sie leben,
und froh, die Störenfriede los zu sein,
die Störenfriede ihrer Kontokasse.
Wo braust Empörung auf? Wo lodern Flammen,
die Unrat zehren, und sie heilsam brennen?
Die Bürger nicken. Schlecht verhohlne Freude.
Sie wollen Ordnung – das heißt: Unterordnung.
Sie wollen Ruhe – das heißt: Kirchhofsstille.

Kurt Tucholsky: Eisner. in: Die Weltbühne, 27.02.1919, Nr. 10, S. 224, wieder in: Fromme Gesänge.

Siehe hierzu auch das maßgebliche Buch zum Thema.

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München. Eine Assoziation.

In München wurde nun also das Camp um die sich im Hungerstreik befindlichen Asylbewerber aufgelöst.

Es gäbe dazu einiges zu sagen, vom mal wieder öffentlich zur Schau getragenen Ausländerhass bayerischer Politiker, die dafür wahrscheinlich mal wieder mit der absoluten Mehrheit belohnt werden, von Menschen, denen jegliches Verständnis dafür abhanden gekommen zu sein scheint, in anderen als in juristischen Kategorien zu denken, von anderen, die möglicherweise nicht nur lautere Motive hatten, sondern vielleicht auch eine Profilneurose spazieren tragen, über die Arroganz der Mächtigen, die Verzweiflung der Machtlosen – allein, ich habe mir in der letzten Woche den Luxus gegönnt, mal nicht über die Rettung der Welt nachzudenken, sondern mir Zeit für meine Familie zu nehmen. Ich kann daher nichts substantielles, nicht einmal unsortierte Gedanken ohne ausreichende empirische Datenbasis, zu dieser Sache beitragen.

Und so möchte ich es bei einer Assoziation belassen:
http://data8.blog.de/media/590/7112590_30dcecc5ce_a.wav

Ruhe und Ordnung

Wenn Millionen arbeiten, ohne zu leben,
wenn Mütter den Kindern nur Milchwasser geben –
das ist Ordnung.

Wenn Werkleute rufen: »Laßt uns ans Licht!
Wer Arbeit stiehlt, der muß vors Gericht!«
Das ist Unordnung.

Wenn Tuberkulöse zur Drehbank rennen,
wenn dreizehn in einer Stube pennen –
das ist Ordnung.

Wenn einer ausbricht mit Gebrüll,
weil er sein Alter sichern will –
das ist Unordnung.

Wenn reiche Erben im schweizer Schnee
jubeln – und sommers am Comer See –
dann herrscht Ruhe.

Wenn Gefahr besteht, dass sich Dinge wandeln,
wenn verboten wird, mit dem Boden zu handeln –
dann herrscht Unordnung.

Die Hauptsache ist: Nicht auf Hungernde hören.
Die Hauptsache ist: Nicht das Straßenbild stören.
Nur nicht schrein.
Mit der Zeit wird das schon.
Alles bringt euch die Evolution.
So hats euer Volksvertreter entdeckt.
Seid ihr bis dahin alle verreckt?

So wird man auf euern Gräbern doch lesen:
sie sind immer ruhig und ordentlich gewesen.

Text: Tucholsky, Kurt: Ruhe und Ordnung. in: Tucholsky, Gesammelte Werke, Bd. 4, Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek 1975, S. 17f.
Lesung: Ille, Steffen: Gruß nach vorn. Ille & Riemer Leipzig, Weißenfels. 2011

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Immer auf die Großen

Ich weiß nicht, wie das in anderen Branchen so ist, da ich nur eine sehr aufmerksam verfolge. Aber die Buchbranche befindet sich, folgt man den Aussagen in den üblichen Branchenmagazinen, zumindest in den fast 14 Jahren, die ich sie beobachte, in einem schwerwiegenden Umbruch, Strukturwandel und einem für die Marktteilnehmer permanent zunehmenden Druck.

Wollte man den hyperventilierten BWL-Phrasen folgen, müssten wir inzwischen eigentlich schon Pizza verkaufen oder zumindest doch mit Burnout irgendwo in der Ecke liegen. Man stelle isch das vor: 14 Jahre lang jeden Tag auf Arbeit zu gehen, ohne zu wissen, ob es die eigene Branche morgen noch gibt. Da kann man ja nur verrückt werden.

Inzwischen habe ich ja eh die Überzeugung gewonnen, dass die Wirtschaftswissenschaftler die Rolle der Priesterschaft (im altägyptischen Sinne) übernommen haben. Mit ganz ähnlicher Methodik. Aber das ist ein anderes Feld, mir soll es um etwas anderes gehen.

Richtig ist natürlich, dass der verbreitende Buchhandel heute anders aussieht als vor 30 Jahren. Im Vergleich zur Metamorphose von Bergbaukonzernen, die jetzt Urlaubsreisen verkaufen, finde ich die Branche aber doch recht stabil und Wandel ist ein Kennzeichen der Moderne, wenn nicht überhaupt der ganzen Neuzeit.

Offenbar aber haben die Romantiker ganze Arbeit geleistet und so ist das mittelalterliche Ideal einer gleichbleibenden, unveränderten Weltordnung weiterhin tief verwurzelt. Über jede Veränderung wird geklagt, gejammert, geschimpft oder doch zumindest geseufzt. Und das kommt mir doch zumindest in einer Konsumbranche etwas merkwürdig vor.

Über das merkwürdige Verhalten einiger geschäftsinhabender Buchhändler in der »Umbruchszeit« wird an anderer Stelle zu reden sein*, mir soll es heute um die kognitive Dissonanz der Kunden gehen.

Ganz egal, ob es um den rasanten Filialausbau der Großfilialisten geht (das Umbruchsthema der 90er Jahre und der ersten Jahre nach 2000 – wer meiner Einschätzung von BWLern nicht folgen möchte, lese sich deren Analysen zu dieser Zeit durch und vergleiche sie mit der heutigen Situation. Menschen sollten einfach keine Zukunftsprognosen abgeben…) oder den x-ten Trend zum Versandbuchhandel nebst dessen Monopolisierungstendenz, jedes Mal wird auf die bösen Großen geschimpft.

Thalia mache die kleinen Buchhandlungen kaputt, amazon auch, wenn nicht überhaupt gleich den ganzen Buchhandel. Das ist wohlfeil. Die Großen wollen auch nur spielen, genau so wie alle anderen auch. Aus den verschiedensten Gründen sind sie dabei eben erfolgreicher als andere.

Ignoriert wird dabei nämlich, dass weder Thalia, Hugendubel oder amazon irgendjemanden zerstören – es sind die Kunden, die das tun. Was genau hindert sie denn daran, woanders einzukaufen? Wenn es mir wichtig ist, eine kleine Buchhandlung in der Nähe zu haben, dann kaufe ich da ein. Wenn ich amazon doof finde, lasse ich mein Geld nicht da. Das ist ganz einfach. Weiterlesen “Immer auf die Großen”

The Battle of Lobbyverbände

Ich bin es so Leid, es ist derart ermüdend, dass ich mich immer wieder dazu durchringe, nichts zu schreiben.
Die Debatten um eine notwendige Anpassung der Urheberrechtssituation an das 21. Jahrhundert (die im Wesentlichen ja Debatten um eine Anpassung der Verwertungsrechtssituation ist), drehen sich derart im Kreis und sind derart vom Nichtverstehenwollen der anderen Seite geprägt, dass es wirklich keinen Spaß macht, sich damit zu beschäftigen.*
Eine Winzigkeit in diesem ganzen Themenkomplex ist dabei das sogenannte Leistungsschutzrecht für Presseverleger, das ich für eine unfassbare Dummheit halte.
Allerdings auch nicht für mehr. Umso mehr stieß mir nun auf, dass in meine Timelines seit einiger Zeit regelmäßig bezahlte Google-Links, vulgo: Werbe-Anzeigen, gespült wurden, die mich aufforderten, »mein Netz zu verteidigen«

Und da muss ich jetzt einmal sagen: Wie bitte?

Es geht beim Leistungsschutzrecht einzig und allein um Geschäftsmodelle, um die Frage, ob Suchmaschinenanbieter Lizenzgebühren zahlen müssen, wenn sie auf Verlagsangebote verlinken.
Das ist nicht ganz trivial, aber »mein Netz«? Es geht doch wohl eher um Googles Netz. Google möchte gerne ein Maximum an Informationen zur freien Verfügung haben, weil deren Geschäftsmodell darauf beruht – und nicht, weil sie so große Fans der Meinungsfreiheit sind.
Und hallo? Die Informationsfreiheit ist in Gefahr? Weil im schlimmsten Falle Google etwas zahlen muss? Kleiner haben wirs nicht? Ein Konzern, der im abgelaufenen Jahr 10 Milliarden Dollar Gewinn gemacht hat (und damit nur etwas weniger als beispielsweise die gesamte Buchbranche an Umsatz erwirtschaftet) will mir also erzählen, dass wegen ein paar zu erwartender Lizenzgebühren die Informationsfreiheit in Gefahr steht. Logisch.
Nur, liebe Damen und Herren bei Google: Das Netz kümmert sich nicht um große Namen. Die Namen der Gescheiterten sind Legion: Compuserve, GeoCities, Lycos, AOL, Altavista – die waren alle mal total wichtig fürs Netz. Dachten sie.
Bedroht ist nicht das Netz, schon gar nicht »Mein Netz« – bedroht ist eure Gewinnspanne. Und das ist etwas ganz anderes.

Dasselbe gilt natürlich auch für die Presseverleger, die mindestens die Pressefreiheit, wenn nicht gleich die ganze Demokratie in Gefahr sehen. Und im Gegensatz zu Google haben die keine so nette PR-Abteilung und schaffen es tatsächlich, in einem David-vs.-Goliath-Setting als die Bösen dazustehen, obwohl sie (Springer hin oder her) gar nicht die Goliaths sind. Es ist kein Zufall, dass das Wort »Qualitätsjournalismus«, einst als Kampfbegriff für die eigene Sache geprägt, heute weitgehend ironisch von der Gegenseite verwendet wird. Was ja auch der Hausheilige dieses Blogs bereits vor 94 Jahren anmerkte:

Der Zustand ist eben der, daß aus Annoncengeschäft und Nachrichtenübermittlung jene
üble Mischung herauskommt, die sich heute Presse nennt.

**

Noch einmal zum Abschluss also: Ich halte das Leistungsschutzrecht für einen Irrweg. Aber für keinen Grund, mich vor den Karren eines Riesenkonzerns spannen zu lassen, dessen Interessenlage sich in nichts, in rein gar nichts von der Interessenlage von Springer & Kollegen unterscheidet. Mir macht die Entwicklung durchaus Sorgen, aber zum einen könnte ich mich ja auch irren und wir erleben mit dem Leistungsschutzrecht die Renaissance der deutschen Presselandschaft und zum anderen: Wenn sich ein paar Konzerne darum streiten, wer von wem warum Geld zu bekommen hat, so ist das nicht meine Sache. Und schon gar nicht »mein Netz«.


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P.S. Noch ein paar Anspieltipps für all jene in der geneigten Leserschaft, die noch einen Einstieg in die Thematik suchen. Ich verlinke nur solche Beiträge, von denen ich glaube, dass sie einigermaßen ideologiearm der Sache nähern:
Zunächst natürlich der Wikipedia-Eintrag zum Thema, nicht übermäßig ergiebig, aber vielleicht für ganz grundsätzliche Verständnisfragen, worum es überhaupt geht, ganz nützlich.
Stefan Niggemeiers Artikelserie zum Thema. Im Laufe der Jahre schon etwas gewachsen, aber in gewohnter Niggemeier-Erklärbär-Qualität.
Und für alle, die es ganz genau wissen wollen, die viel beachtete Stellungnahme des zuständigen Max-Planck-Instituts.

*»Man könnte den Menschen gradezu als ein Wesen definieren, das nie zuhört.« schreibt der Hausheilige in Der Mensch
**aus: Sozialisierung der Presse. in: Werke und Briefe: 1919. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien. Digitale Bibliothek Bd. 15, S. 1612 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 2, S. 220)

Und noch einmal: Küsst die Faschisten

Man sollte sich vielleicht doch nicht mit Geschichte befassen. Allzu gruselig ist es doch, wie oft sich ein- und dieselben Dinge wiederholen und wie wenig Mühe sich manche Kräfte geben müssen, um sich eine Strategie auszudenken. Und auch wenn es die geneigte Leserschaft ermüden mag, zu den aktuellen Meldungen um die Zwickauer Nazi-Zelle, die beliebten Kürzungen der Mittel im Kampf gegen Rechts und die perfide Dramatisierung des Linksterrorismus ((gar nicht zu reden von den bösen Muslimen) bei gleichzeitiger Marginalisierung desselben von rechts , muß ich noch einmal auf diesen Text verweisen:

http://www.blog.de/srv/media/dewplayer.swf?son=http://data7.blog.de/media/632/5938632_f94e907f9b_a.mp3

Rosen auf den Weg gestreut

Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!
Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!
Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!

Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: »Ja und Amen – aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!«
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.
Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.

Und schießen sie –: du lieber Himmel,
schätzt ihr das Leben so hoch ein?
Das ist ein Pazifisten-Fimmel!
Wer möchte nicht gern Opfer sein?
Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen . . .
Und verspürt ihr auch
in euerm Bauch
den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –:
Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,
küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft –!

Die Lesung findet sich auf dem Hörbuch Gruß nach vorn

in: Werke und Briefe: 1931. Tucholsky: Werke, Briefe, Materialien, S. 8324-8325 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 162-163)

D-Klasse

In seiner Rezension zu Leon de Winters Roman “Leo Kaplan” prägte Martin Ebel in der FAZ eines der branchenweit bekanntesten Verlags-Bonmots, auf das heute jeder Beitrag über den Diogenes-Verlag rekurrieren muß: “Auf dem deutschsprachigen Markt liegt es daher nahe, neben der E- und der U- eine D-Klasse zu schaffen, benannt nach dem Diogenes-Verlag”
Führte man eine Umfrage im deutschsprachigen Buchhandel nach dem unter Buchhändlern beliebtesten Verlag durch – spannend wäre wohl nur die Frage nach Platz 2.
Ich kann zu Daniel Keel selbst, der am Dienstag im Alter von 80 Jahren verstarb, nicht viel sagen – ich habe ihn schließlich nie kennengelernt. Um erschöpfend über die Geschichte seines Verlages berichten zu können, fehlt mir das Wissen, es erscheint mir auch unnötig, haben dies doch andere bereits getan. Aber es drängt mich, dieses Ereignis nicht unkommentiert zu lassen.
André Schiffrin beobachtete bereits vor vielen Jahren eine Entwicklung, die auch hierzulande zu beobachten war und ist: Das Verschwinden der Verleger. Verlage ohne Verleger agieren anders. Wo man als angestellter Mitarbeiter diversen Gesellschaftern und Anteilseignern rechenschaftspflichtig ist, wird über Risiken und Erfolgsaussichten völlig anders nachgedacht. Doch genau das macht eben Verlage sympathisch, die noch erkennbar die Handschrift ihres Verlegers tragen. Wo Bücher gemacht werden, weil der Verleger diese Bücher machen will. Bei Diogenes erschien vor wenigen Jahren eine großangelegte Alfred-Andersch-Ausgabe aus keinem anderen Grund als dem, daß dies so gewollt war. Rentiert hat die sich nie, wenn sie jemals dreistellige Verkauszahlen erzielt haben sollte, darf man das als großen Erfolg feiern – aber es sind solche Geschichten, die einem Verlag ein Gesicht, ein Profil, eine Erkennbarkeit geben, die aus ihm mehr machen als ein Medienunternehmen, sondern eher zu einer Heimat für seine Autoren. Daß Daniel Keel dies grandios gelungen ist, davon zeugen die Aussagen seiner Autoren über ihn. Mit dem seinerzeit (und wohl bei so manchem auch heute noch) irrsinnig wirkenden Anspruch angetreten, daß Literatur, gerade wenn sie gehaltvoll ist, bitte schön auch lesbar sein könne und solle, hat Diogenes erheblichen Einfluß auf den deutschen Buchmarkt ausgeübt – im Kreise der konzernfreien Verlage wohl nur noch vergleichbar mit Suhrkamp – und sich dabei eine Stellung erworben, die es erlaubte, einer Auslistung bei amazon entgegenzustehen, weil man sich deren Konditionendiktat nicht unterwerfen wollte. Daniel Keel und der Diogenes-Verlag hatten immer meine Bewunderung, weil es dort gelang, mit dem Lotteriespiel, das Bücher verlegen immer ist, auch noch erfolgreich zu sein. Nun, keineswegs von Anfang an in einem Maße, der sorgenfrei in die ferne Zukunft blicken ließe. Diogenesbücher sind mein bevorzugtes Beispiel zur Erklärung des etwas aus der Mode kommenden Begriffs der “Bindequote”:
Ein Buch, als physische Einheit, besteht, um es mal ganz grob zu fassen, im Wesentlichen aus zwei Teilen, dem Buchblock und dem Einband. Da Verlegen Lotteriespielen ist, plant und schätzt man zwar die erwartbar sinnvolle Auflagenhöhe, weiß es aber nie genau*. Um nun die eigene Liquidität nicht zu sehr in Gefahr zu bringen, gleichzeitig aber in der Lage zu sein, gegebenenfalls schnell auf eine ansteigende Nachfrage reagieren zu können, hat man nur einen Teil der gedruckten Auflage mit einem Einband versehen und die übrigen Buchblöcke eingelagert.**
Hier hatte man in Zürich nun eine großertige Idee. Trotz umsatzstarker Autoren wie Dürrenmatt oder Loriot wandelte man bei Diogenes lange auf einem schmalen Grat, so daß Liquidität durchaus ein zu besprechendes Thema war. Also wurde entschieden, anstatt zwei verschiedene Buchblöcke für die Hardcover und die Taschenbuchausgabe zu produzieren und damit auch doppelte Satzkosten zu haben, gab es die leinengebundene Originalausgabe (ja früher™ erschienen Originalausgaben noch gebunden und waren Taschenbücher reine Zweitverwertung) gleich im Taschenbuchformat. Das gab Diogenestiteln auch äußerlich eine gewisse Eigenart. Sollte man sich also bei der Auflagenhöhe für die Erstausgabe verschätzt haben, braucht man wenigstens nicht neu drucken fürs Taschenbuch. Andernfalls hat man sich auf jeden Fall die Satzkosten gespart. Aus der Not eine Tugend machen nennt das der Volksmund, Schwächen in Stärken verwandeln sagt der Personal Coach dazu und läßt sich üppig bezahlen. Die betriebswirtschaftliche Notwendigkeit dafür entfiel erst in den achtziger Jahren, als mit Süskinds Parfum der Begriff Bestseller für den deutschen Markt völlig neu definiert wurde.***

Aber all das erklärt noch nicht wirklich den Charme, mit dem es Diogenes-Büchern gelang einen ganzen Berufsstand um den Finger zu wickeln. Ein Charme, der es ermöglicht, ganze Werbeetats zu streichen, weil BuchhändlerInnen diese Bücher verkaufen wollen, sich in einem Maße engagieren, das den Effekt ganzer Plakataktionen ersetzt. Letztlich weiß ich es auch nicht, mir fehlen da die passenden soziologischen Untersuchungen, aber da andererseits dieses Blog mit dem Anspruch angetreten ist, auf eine ausreichende empirische Datenbasis zu verzichten, wage ich einfach mal zu behaupten:
Das Geheimnis des Erfolges von Diogenes ist die spürbare Seele des Verlages, die unbändige Lust darauf, neues zu wagen und zu entdecken, an Autoren zu glauben und sie mit Leidenschaft zu vertreten – kurz: Es ist die Persönlichkeit des Verlegers, die in seinem Programm zum Ausdruck kommt. Es war und ist mir immer eine Freude, es ist das halbjährliche Highlight, wenn die neue Diogenesvorschau eintrifft, es ist damit immer eine kribbelnde Vorfreude verbunden, welche Entdeckungen es dieses Mal zu machen gilt. Man fühlt sich immer ein bißchen wie ein Kind bei der Bescherung, schlägt man die erste Seite auf – und für diese Freude an meinem Beruf, für all die Stunden mit einem kleinen weißen Buch, auf dem ein schlichtes d den Rücken zierte, für all die wunderbaren Entdeckungen, für die anhaltende Lust, Bücher zu machen, weil sie einfach gut sind und den Glauben daran, daß es Buchhändler und Leser gibt, die nicht nach Marktlage, sondern nach Lust und Laune kaufen und auch noch zueinander finden mögen, letztlich also für das Gefühl, als Leser ernst genommen zu werden – dafür möchte ich Daniel Keel danken.

Ich möchte aber nicht schließen, ohne noch auf ein Buch hinzuweisen, nämlich den höchst erquicklichen Band mit Autorenbriefen an Daniel Keel, der sich hier

lieferbar

findet.

P.S. Diogenes-Cover mit ihren kunsthistorischen Referenzen haben bei mir übrigens manchmal den bemerkenswerten Effekt, daß nach langjähriger Berufstätigkeit inzwischen der Buchtitel den Werktitel überlagert. Matisse´ »Blaue Dame« zum Beispiel ist für mich immer vorrangig Leon de Winters »Malibu«. Erst im zweiten Gedankengang taucht Matisse Name im vorderen Stirnlappen auf.
P.P.S. Im Übrigen wünsche ich dem Verlag, daß ihm eine Frau Ulla ersprart bleibt. *hüstel*


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*Man kann da sehr irren. Die 500 Exemplare Startauflage, die Bloomsbury für Harry Potter I vorsah, waren zum Beispiel deutlich zu wenig, wie sich herausstellte. Sehr viel häufiger jedoch verschätzt man sich in die Gegenrichtung – die Beispiele hierfür finden sich regelmäßig auf der 1-Euro-Liste bei Weltbild…
**Mit den technischen Entwicklungen der Drucktechnik in den letzten Jahrzehnten ist diese schöne Tradition allerdings weitgehend außer Gebrauch geraten. Als Meldenummer für Lieferhindernisse vegetiert sie aber noch vor sich hin.
***Ich gönne Verlegern einen solchen Glücksfall aus tiefstem Herzen. Zum einen weil so die eine oder andere Sorge in Sachen Lebensabend verschwinden mag (Lutz von Schulenburg, der Verleger der edition Nautilus, die seit fast 4 Jahrzehnten unverdrossen Revolutionsliteratur verlegen, meinte nach dem Erfolg von Tannöd, seine Frau und er bräuchten sich nun keine Gedanken über die Rente mehr machen – was ich mit einer Mischung aus Rührung und Erschrecken zur Kenntnis nahm, bedeutete es ja schließlich, daß sie sich diese Gedanken bis dahin machen mussten) und zum anderen, weil so natürlich ganz andere Möglichkeiten bestehen, auf einmal das Spektrum der verlegerischen Möglichkeiten wächst, auf einmal ganz andere Bücher möglich werden…

Historische Wende

Der 31. August 1997 markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Boulevardjournalismus. Die dramatischen Auswirkungen ihrer Arbeitsweise, manifestiert im Tod Lady Dianas und ihres Lebensabschnittsgefährten Dodi Al-Fayed, ließen die Journalisten umdenken, dem Publizieren von Paparazzi-Fotos abschwören, um so deren Arbeitsgrundlage zu zerstören, und fürderhin die Privatsphäre von Personen öffentlichen Interesses zu respektieren, damit sich dergleichen nie wiederhole. Mit großer Zerknirschung gestand man die eigene Mitschuld an diesem Tod ein und die staunende Leserschaft erlebte einen unvorhergesehen Umschwung in der Yellow Press, die sich seitdem jeglicher willkürlicher Aburteilung, Gerüchteverbreitung und Prominentenhatz enthält. Ja, so war das, damals.

Erstaunlich finde ich dabei übrigens weniger die Halbwertszeit dieser Beteuerungen als vielmehr die ungebrochene Nachfrage des Publikums. Es ist ja nicht so, daß Rupert Murdoch, Matthias Döpfner und wie die Kollegen alle heißen mögen, aus reiner Böswilligkeit ihre Zeitungen mit erfundenen, abgehörten, aufgebauschten, erpressten Geschichten füllen lassen – nein, es geht darum Geld zu verdienen. Möglichst viel Geld. Und nun mag es fragwürdig sein, sein Geld mit solcherlei Methoden verdienen zu wollen und auf die niedersten Instinkte zu setzen – allein, es gehören zwei dazu: Den ganzen Spaß muß auch jemand kaufen. Sonst sieht es nämlich schlecht aus mit dem Geldverdienen. Es sind täglich Millionen und Abermillionen Menschen bereit, dafür zu bezahlen, daß andere Menschen, die das Glück oder Pech haben, öffentliches Interesse erregt zu haben (und dazu gehört nach Auffassung der Axel Springer AG bekanntermaßen nicht viel), verfolgt, belauscht, erpresst werden. Die bereit sind, dafür zu zahlen, daß die minimalen Bürger- und Menschenrechte für all jene nicht mehr gelten, für die der Boulevardjournalismus das entscheidet.

Man kommt nicht umhin, hier heftigst Prostetnik Vogon Jeltz in seiner Einschätzung vollumfänglich zuzustimmen:

Ich weiß nicht, […] ein lahmer Drecksplanet ist das. Ich habe nicht das geringste Mitleid.

*

Und nun – Musik.


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*in: Adams, Douglas: Per Anhalter durch die Galaxis. Gesamtausgabe. Rogner & Bernhard Berlin. 3. Aufl. 2008, S. 38.

Recht haben oder: Warum ich kein Jurist geworden bin.

Ein Urteil entgeistert die Welt. Da bekommt ein Mörder Schadensersatz, weil ein ermittelnder Beamter ihm Folter angedroht hatte. Die Volksseele kocht und der hessische Polizeigewerkschaftschef spricht von einem “absoluten Skandal.”
Ich wünsche mir, daß andere Instanzen zu einem anderen Urteil kommen, weil es sich nicht gut anfühlt, dieses Urteil, weil es tatsächlich Unbehagen hervorruft. Allein, ich bin kein Jurist, kann also nicht beurteilen, inwieweit hier Spielraum besteht. Aber der Urteilsbegründung nach scheint die Sache juristisch im Kern auf eine einzige Frage zu reduzieren zu sein: Hat es Folterandrohung gegeben? Wenn ja, dann ist gegen Gäfgens Menschenwürde verstoßen worden und dann hat er Anspruch auf Entschädigung. So simpel schreibt und erklärt es denn auch Udo Vetter im Lawblog.
Das ist so auch ganz richtig. Wir sollten die wenigen Gelegenheiten, bei denen mal aus der Geschichte gelernt wurde, nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Folter, auch deren Androhung, sind ein No-Go. Daran gibt es nichts zu rütteln. Punkt.
Trotzdem gefällt mir das Urteil ganz und gar nicht. Aber warum?
Ich denke, die Kritik, die bisher zu hören ist, zielt in die falsche Richtung. Menschenwürde gilt für Menschen. Und auch die abscheulichsten Straftäter sind Menschen. Ein Abrücken vom Prinzip der allgemeinen, voraussetzungslosen Menschenwürde hätte fatale Auswirkungen, denn sind einmal die Türen geöffnet, die einen für der Menschenwürde würdig und die anderen eben nicht zu befinden, geht es nur noch darum, wie weit diese Tür zu öffnen sei und wer noch alles durchpassen darf. Das haben wir nun aber lange genug probiert. Geben wir der anderen Idee mal noch eine Weile eine Chance.
Falsch ist nicht das Urteil, weil es die zu Grunde liegenden Prinzipien, die ich für richtig halte, konsequent umsetzt. Nein, das, was Unbehagen hervorruft, ist der Klagende selbst, der so wenig Skrupel zu haben scheint, daß “skrupellos” nicht ausreicht, ihn zu beschreiben. Sein Anwalt erdreistet sich auch noch, sich als Heros der Menschenrechte zu inszenieren*, wo er doch nichts weiter tut als einem, hier sei noch einmal Herr Schmitt zitiert, “selbstverliebten Gewalttäter” Gelegenheit zu geben, sich als Opfer eines Justizfrevels** zu inszenieren. Ich glaube, das ist die Widerwärtigkeit der ganzen Geschichte. Daß hier jemand, der einen elfjährigen Jungen ermordet hat, für sich reklamiert, Todesangst bei der Vernehmung durch einen offenbar verzweifelten Polizeibeamten, den er gerade eben noch mit seinem provozierenden, arroganten Verhalten in die Irre und den Rand des Irrsinns trieb, verspürt zu haben und nun dauerhaft traumatisiert deswegen zu sein.
Der Sprecher des Weißen Rings, Veit Schiemann, hat in einem Interview mit mdr info, das mein Bild dieses Verbandes ob der Ausgewogenheit desselben ernsthaft ins Wanken bringt, völlig zu Recht angemerkt, daß der Begriff der Todesangst doch wohl eher zu Jakob von Metzler denn zu seinem Mörder paßt. Hohn und Spott den Opfern gegenüber aber spricht nicht das Urteil – es ist einzig Gäfgen, der höhnt und spottet, der auf dem Grab seines Opfers noch juristische Partys feiert mit einem beispiellosen Tanz durch die Instanzen. Reue sieht anders. Ganz offenbar bereut er gar nichts, er gefällt sich in einer Opferrolle, offenkundig ausblendend, daß er ein paar andere Denkaufgaben zu lösen hätte. Mit seinen Prozessen grinst er förmlich den Eltern seines Opfers noch einmal ins Gesicht.
Das Problem dabei: Er hat Recht. Er darf das.
Eine Jugendrichterin sagte einmal zu mir, sie habe das Gefühl, man erwarte von den Gerichten, sie mögen die Dinge wieder in Ordnung bringen, die draußen (also außerhalb des Gerichtssaals) schief gelaufen sind. Das könne sie aber gar nicht leisten.
Ich gehe sogar noch weiter: Es gibt kaum ein uneeigneteres Mittel als die Justiz dafür. Rechtsstaatlichkeit meint doch nicht, daß das Recht alles im Staate richtet. Es ist dies eine völlige Verkennung dessen, was Richter und Anwälte eigentlich tun. Es geht bei Gericht um nicht mehr und nicht weniger als darum, ob jemand Recht hat. Und das erschließt sich aus den Rechtsnormen, die alle Beteiligten vorfinden. Das ist alles. Und auch wenn das eine ganze Menge ist, weil dann immerhin Dinge wie persönliche Neigungen oder weltanschauliche Bekenntnisse keine Rolle spielen – was wirklich viel Wert ist – es ist weit davon entfernt, sozioethische Debatten zu ersetzen oder gar Erziehung zu übernehmen. Nein, vor Gericht geht es nur um eins: Recht zu haben und es zu bekommen (was tatsächlich zweierlei ist). Das scheint stud. jur. Gäfgen bereits verinnerlicht zu haben. Und zwar so sehr, daß es alle anderen Fragen in den Hintergrund drängt. Er hat Recht und nun will er das auch verdammt nochmal bekommen.
Ich weiß nicht, was ich weniger könnte. So jemanden vertreten, über ihn urteilen zu müssen oder ihm als Gegenpartei gegenüber stehen. In keiner Konstellation könnte ich für die Beibehaltung meiner pazifistischen Grundsätze garantieren. Um jemanden, der so denkt, der in seiner Rechthaberei alles Menschliche zu vergessen haben scheint, für den das nur ein weiterer Sachverhalt zu sein scheint, des es für die nächste Klausur zu bearbeiten gilt, ernsthaft zu vertreten (da rede ich noch nicht vom euphorischen Nachvornstürmen seines tatsächlichen Anwaltes, der sich wohl auf dem Weg zum Friedensnobelpreis wähnt), muß man in einer Art und Weise denken können, wie ich nie denken möchte. Ich kann und will das nicht. Und das war einer der entscheidenden Gründe, warum meine Studienwahl im letzten Moment nicht auf “Jura” fiel. Akademisch ist das eine hoch spannende Angelegenheit, aber es geht doch immer um Menschen und ihre Schicksale – und die sind für mich doch mehr als nur Sachverhalte.
Ich bewundere jeden, der diesen Beruf ergreifen und ausüben kann und dabei Mensch bleibt – ich könnte es nicht. An einem von beidem würde ich scheitern.

P.S. Und dann heißt dieser Mensch auch noch ernsthaft “Magnus”. Nunja, für gloria aeterna hat es ja gereicht…
*Denn er irrt, wenn er von einem Sieg für die Menschenrechte spricht – das Verhalten der Beamten ist ja bereits juristisch aufgearbeitet worden, die haben Strafen bekommen für ihr Fehlverhalten, der Sieg der Menschenrechte ist also schon längst erfochten. Er kämpft hier für etwas ganz anderes.
**In der ersten Version stand hier noch “Justizirrtums” – das ist natürlich Unsinn. 04.08.11, 22:27

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Gestürzte Götter

Eine junge Frau ist gestorben. Zu Grunde gegangen an multipler Sucht, unter der voyeuristischen, sensationsgeilen Beobachtung der Gesellschaft. Da standen sie alle da und schauten zu, wie ein Mensch zerbrach.

Amy ist nicht gestorben, nein vielerorts konnte man dann diverse Versionen von “die ist endlich abgekratzt” hören. Und wenn man dem dann etwas entgegen setzte, bekam man ein “aber das hat sie sich doch selbst zuzuschreiben”. Ja, ach. Aber so ist das wohl, wenn man einmal diese Figur ist, der dann eine gesamte Öffentlichkeit beim langsamen Verenden zuschaut.

schreibt Herm in seinem hier dringend zur Lektüre empfohlenen Beitrag “Für Amy
Es ist in den letzten Tagen viel zum Tode Amy Winehouses zu lesen gewesen. Und natürlich wird sie gewürdigt als eine Frau mit großer Stimme und großem Talent, die leider, leider, den Drogen verfallen ist und nun leider, leider so früh von uns ging und es war ja auch nicht und die Schlagzeilen, die sich so wenig auf die Musik bezogen.
Warum eigentlich nicht? Was bringt uns dazu, Geld zu bezahlen, damit Menschen bis in intimste Bereiche ausgespäht werden? Daß sie keine Sekunde Ruhe, Frieden, Privatheit haben?
Was bringt uns dazu, lustvoll von Fehltritten, Ausrutschern, Abstürzen, Verfall zu lesen?
Was ist es, das uns antreibt, Befriedigung am grundlegenden Scheitern anderer Menschen zu empfinden?
Was bringt uns dazu, jedes noch so kleine Detail erhaschen zu wollen, um beim öffentlichen Sterben eines Menschen aber auch ja nichts zu verpassen?
Es scheint nur wenig befriedigender zu sein, als Götter stürzen zu sehen. In unserer weitgehend säkularisierten Welt müssen wir uns unsere Heroen selbst schaffen – und es scheint gut zu tun, zu sehen, wenn die dann – Überraschung! – “auch nur Menschen” sind. Mit welcher Gefühlskälte da über Mitmenschen geurteilt wird, die den Fehler begangen haben, etwas zu schaffen, das anderen etwas bedeutet, ist geradezu abstoßend und läßt mich ein weiteres Mal an der Menschheit zweifeln. Wäre ich nicht zufällig Bestandteil derselben, ich hielte es mit Protestnik Vogon Jeltz: “Ein lahmer Drecksplanet ist das, ich habe nicht das geringste Mitleid”.

In der SouthPark-Folge “Britney´s neuer Look” (natürlich aus der großartigen Staffel 12) gehen die Macher genau dieser Frage nach. Und ich kann mich ihrer Analyse nur vollumfnglich anschließen. Was Tucholsky dem Leser 1985 zuruft, gilt auch in ganz anderen Zeitdimensionen: “Besser seid ihr auch nicht als wir und die vorigen. Aber keine Spur, aber gar keine –”
Wir nennen unsere Fruchtbarkeitsgötter nicht mehr so, aber noch immer beten wir sie an und zerstören ihre Statuen und Tempel, sobald sie nicht mehr funktionieren. Heute darf es eben auch gerne mal der heroisierte Mitmensch sein.

Schließen möchte ich mit einem beim Herm geborgten Zitat aus Russell Brands Posting zum Tod von Frau Winehouse, in der Hoffnung, es möge dem einen oder anderen in Erinnerung rufen, daß auch hier ein Mensch starb:

When you love someone who suffers from the disease of addiction you await the phone call. There will be a phone call. The sincere hope is that the call will be from the addict themselves, telling you they’ve had enough, that they’re ready to stop, ready to try something new. Of course though, you fear the other call, the sad nocturnal chime from a friend or relative telling you it’s too late, she’s gone.

Frustratingly it’s not a call you can ever make it must be received. It is impossible to intervene.


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