Das Buch zum Sonntag (7)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich dem geneigten Lesepublikum zur Lektüre:

Francis Scott Fitzgerald: Der große Gatsby

Fitzgerald (1896-1940) ist DER amerikanische Schriftseller des Jazz-Age (Hemingway: “F. Scott Fitzgerald war der Größte unter uns allen”). Nicht nur, weil seine Werke diese Zeit hervorragend eingefangen haben, sondern auch, weil sein Leben geradezu exemplarisch für diese Zeit steht.

“Der große Gatsby”, 1925 erschienen, spielt in der Zeit der Prohibition. Der Erzähler wird Nachbar Gatsbys, der sich aus ärmlichsten Verhältnissen in die allerhöchsten Kreise gearbeitet hat. Und es wird schnell klar, daß hier durchaus ein Zusammenhang zum Ausschankverbot für alkoholische Getränke gesehen werden darf.
Nick, so der Name des Ich-Erzählers, erzählt im Rückblick die Geschichte Gatsbys, soweit er sie miterlebt hat. Die Leser werden Zeugen von unglaublichen Festen und Ausschweifungen, von aus Langeweile geborenen Exzentrismen und einer geradezu hoffnungslosen Liebe zu einer Frau, die in ihrer Unstetigkeit eher einem Schmetterling als einem Gänseblümchen ähnelt.

Was den Roman aber über den Zeitkolorit hinaus lesenswert macht, ist seine sprachliche Leichtigkeit, sein eleganter Stil und seine unter der Oberfläche hervorschillernde Tiefgründigkeit, die sich nicht selten erst im Nachgang offenbart (also dann, wenn man das Buch bereits selig zur Seite gelegt hat.)

Ich persönlich habe aus diesem Buch einen meiner wichtigsten Lebensgrundsätze übernommen und der eröffnet diesen Roman:

In my younger and more vulnerable years my father gave me some advice that I’ve been turning over in my mind ever since.
“Whenever you feel like criticizing any one,” he told me, “just remember that all the people in this world haven’t had the advantages that you’ve had.”

Ihr könnt mich nachts um drei wecken, ich wäre in der Lage, diese Stelle zu zitieren. 😉
In der deutschen Übersetzung verliert dieses Zitat übrigens erheblich. Womit ich bei einem seltenen Problem angelangt bin: Ich habe das Buch bisher nur auf Englisch gelesen, vermag also zur Übersetzung gar nichts zu sagen (ich bin durch meine phantastische Englischlehrerin auf dieses Buch gekommen und hatte seitdem kein Bedürfnis, es auf Deutsch zu lesen…)

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Ich habe ad hoc nur eine garantiert ungekürzte englische Ausgabe auf dem deutschen Markt gefunden, das wäre diese.

Das Buch zum Sonntag (5)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft:

Gregor Hens: Matta verläßt seine Kinder

Hens, geboren 1965, ist studierter Germanist und Anglist, seit 2001 ordentlicher Professor an der Ohio State University, legte vor diesem Roman bereits zwei andere vor, die mich aber nicht überzeugten (ich las sie auch erst nach “Matta”, durch den ich auf ihn aufmerksam wurde).

Karsten Matta, 40, verheiratet, zwei Kinder, ist Gutachter für einen exlusiven Londoner ThinkTank, der für Regierungen und, vor allem, Wirtschaftsunternehmen, Krisenregionen bewertet. Er bereist also Orte wie Serbien, Ruanda, Pakistan etc, um herauszufinden, ob und wenn ja mit welchen Bedingungen sich Investitionen dort lohnen.
Eines Tages, während einer sinn- und schier endlosen Warterei in einem Konsulat (er ist einziger Besucher und benötigt schlicht ein Visum – sowas kann ja schon mal einen halben Tag dauern…), platzt ein Äderchen in seinem Auge und er beschließt in diesem Moment, dies alles nicht mehr mitzumachen.
Und “alles” meint in diesem Falle “alles”.

Hens verzichtet vollkommen auf die Trennung zwischen Erzählung, mündlicher Rede, innerem Dialog, alternativen Handlungssträngen oder Rückblenden. Das gibt dem Buch eine Atemlosigkeit, die ich bis dahin nicht kannte und schafft eine verwirrend-beklemmende Athmosphäre. Eben diese scheint mir allerdings auch vollkommen angemessen zu sein, geradezu perfekt zum Ausbruch und dem folgenden Handlungsverlauf zu passen.

Zum Schluß sei noch eine Stelle zitiert, die mich dazu bewogen hat, seit dem jedes Mal, wenn ich in einem Hotel o.ä. übernachte, ein Buch zurückzulassen:

Und jedes Mal nahm er ein Einziges mit, las dreißig oder fünfzig Seiten im Flugzeug und ließ das Buch im ersten Hotel liegen. Zu schwer. Er reiste mit einer einzigen Tasche aus Segeltuch. In Bamako im stolzen, immer frisch geweißten Royal Mama Pleasant Suites standen mehrere dieser Hinterlassenschaften in einem Regal in der Lobby. Rebeccas Leihbibliothek im Herzen von Mali, das hatte ihn immer gefreut, wenn er dort ankam und wenn er die Bücher sah, fein säuberlich aufgereiht, richtiggehend präsentiert, während er in bar im Voraus bezahlte, dollars mon ami, dollars, und seinen Schlüssel in Empfang nahm. Manchmal traf er einen Kollegen, der erzählte, ich war im Royal Mama oder im Aurora Inn oder im Millenio II in Bahia und hing da fest, wochenlang, und konnte nichts machen, musste mir die Zeit totschlagen, und da lagen zum Glück auf meinem Nachttisch ein paar deutsche Bücher, eine dicke Magellan-Biografie mit dem Titel Die Toten behalten Unrecht, etwas von Richard Kaschinski und die Goa-Skizzen von C.Kraft. Die haben mir das Leben gerettet.

(S. 29-30 der Taschenbuchausgabe)

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Das Leben als Reise

Das Bestattungsgewerbe gilt als krisensicher. Es gibt schließlich nur wenige Dinge, deren Unabänderlichkeit so unzweifelhaft ist wie das Ende unseres Daseins in dieser Welt. Oder, etwas profaner, dafür pointierter ausgedrückt: Gestorben wird immer.
Genau genommen läge also nichts näher, als ein Bestattungsinstitut zu eröffnen, um finanzmarktsicher Geld zu verdienen.
Aber, wie so viele andere Branchen, hat auch das Bestattungsgewerbe so seine Besonderheiten. Die Besonderheit in diesem Falle sind die Kunden. Die kommen nicht gerne und das trotz der evidenten Notwendigkeit des angebotenen Produktes. Die Menschen werden nicht gerne an ihre Endlichkeit erinnert. Und wenn sie dann einmal daran denken, welches Angebot nehmen sie dann wahr?
Es gibt Anbieter, die versuchen es mit der aus anderen Branchen bekannten Strategie: Der Preis macht´s. Gefällt mir persönlich nicht so. Zum einen wußte der Hausheilige bereits: “Man achte immer auf Qualität. Ein Sarg zum Beispiel
muß fürs Leben halten.”*
Zum anderen wage ich zu bezweifeln, daß eine Beerdigung, bei der nichts so sehr zählt wie der niedrige Preis, so gestaltet wird, daß die Teilnehmer wirklich das Gefühl haben, Abschied von einem für sie wichtigen Menschen zu nehmen.

Ein, aus meiner Sicht, schöneres Beispiel für das Schaufenster eines Beerdigungsinstituts fand ich in Lübeck.
Gelungen finde ich, wie hier in der Schaufenstergestaltung der Focus auf das Leben gerückt wird.
Im ersten Fenster wird, in einer Küstenstadt zugegebenermaßen naheliegend, das Thema der Lebensreise und deren Ende maritim umgesetzt. “Sterben” als “Ankommen” zu interpretieren, mithin positiv zu belegen, ist nicht ganz neu, aber der Slogan “Am Ende der Reise gut ankommen” als Werbung für die Qualität des eigenen Angebots hat mir gefallen.
Im zweiten Fenster, das erkennt man dank meiner eher preiswerten Schnappschußkamera eher schlecht, wird der Tod nicht als zu bewältigender Verlust thematisiert, sondern als Gewinn an Erinnerung.
Zugegeben, die Zitate erzählen das Übliche, aber auch hier interessiert mich gar nicht so sehr die spritzige Originalität, sondern der Ansatz.
Die beiden Schaufenster bringen eine positive Botschaft, ohne dabei der kulturell vorgesehen Pietät, dem Respekt vor der Endlichkeit unseres Seins, der Tatsache, daß Bestattungensunternehmen keine Metzger oder Sockenverkäufer sind, keine Rechnung zu tragen.
Und zwar, und das unterscheidet die Schaufenster von allem, was ich bisher so gesehen habe, ohne dabei einen krampfhaften Spagat zu versuchen.
Leider kann die Website des Unternehmens da nicht mithalten…

Soweit meine unsortierten Gedanken dazu. Zum Abschluß noch ein Kommentar des Hausheiligen zum Thema Menschen und ihr Verhältnis zum Tod:

“Der Mensch möchte nicht gern sterben, weil er nicht weiß, was dann kommt. Bildet er sich ein, es zu wissen, dann möchte er es auch nicht gern; weil er das Alte noch ein wenig mitmachen will. Ein wenig heißt hier: ewig.”

in: Der Mensch. [Werke und Briefe: 1931, S. 498. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8478 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 9, S. 231) (c) Rowohlt Verlag]

* in: Schnipsel. [Werke und Briefe: 1932, S. 30. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 8746 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 10, S. 20) (c) Rowohlt Verlag]

Das Buch zum Sonntag (4)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich dem geneigten Lesepublikum zur Lektüre:

Martin Suter: Die dunkle Seite des Mondes

Wieder mal ein Quereinsteiger ins Schriftstellerleben. Und wieder einmal ein Autor aus der Schweiz. Martin Suter war zunächst als Werbetexter und Werber tätig – und dies mit einigem Erfolg (Präsident des Art Director Clubs wird auch in der Schweiz nicht jeder ;)). Seit 1992 veröffentlichte er Kolumnen (“Business Class”, “Richtig leben mit Geri Weibel”), in denen er die Welt der ach so wichtigen Manager, Anwälte… kunst- und ich möchte sagen genußvoll vorführt.
“Die dunkle Seite des Mondes”, erschienen im Jahre 2000, ist sein zweiter Roman. Geschildert wird das Leben des Wirtschaftsanwaltes Urs Blank, 45, äußerst erfolgreich und spezialisiert auf Fusionen.
Er hat sein Leben, samt Gefühlsleben, vollkommen im Griff und erfüllt auch sonst alle gängigen Staranwaltskriterien.
Eines Morgens nun entscheidet er sich in Anbetracht des schönen Wetters, nicht mit dem Taxi zur mittäglichen Essensverabredung zu fahren, sondern zu Fuß eine Abkürzung durch einen kleinen Park zu nehmen.
Dort nimmt er an einem Verkaufsstand einen unbestimmt vertrauten Duft war.

“Was riecht so?” fragte er das junge Mädchen hinter dem Stand. Sie trug einen chinesischen Seidenmantel und mehrere der Seidenschals aus ihrem Angebot. Mit einem hatte sie die Überfülle ihrer schwarzen Locken aus dem Gesicht gebunden.
Als sie aufschaute, sah er, daß ihre Stirn mit einem goldenen Kastenzeichen geschmückt und ihre Lider schwarz umrandet waren.
Was ihm einen Moment die Sprache verschlug, war die Farbe ihrer Augen. Sie waren nicht schwarz, wie das von ihrer Aufmachung her zu erwarten war, sondern von einem blassen Blau wie bei einem Huskie. Sie lächelte und schien nicht im geringsten erstaunt über den Mann im Maßanzug an ihrem Stand. “Es sind fünf Dürfte, welchen meinen Sie?”
Das Mädchen fächelte ihm mit beiden Händen die Rauchfäden gegen die Nase, einen nach dem anderen. Schmale Silberreifen klingelten an ihren Armen. “Den hier meine ich.”
Sie schnupperte. “Sandlewood. Vierzehn Franken.”
Urs Blank bezahlte und steckte das Päckchen in die Manteltasche.

(S. 18)

Wirkt belanglos, nicht wahr? Und doch ist dies die entscheidende Stelle des Buches. Was ich an diesem Roman, neben seiner bitterbösen Entlarvung diverser, ich sage mal, aufgeblasener Wichtigtuer, sehr schätze, ist Suters raffinierte Art, Unheil und Katastrophen schleichend, geradezu unmerklich aufzubauen. Jeder kleine Schritt wirkt vollkommen harmlos, natürlich, nachvollziehbar. Und läßt so jederzeit das Gefühl bestehen, wirkliche Gefahr bestünde nicht.

Und nun: Lest selbst.

lieferbare Ausgaben

Das Buch zum Sonntag (3)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich zur Lektüre:

Irina Denezkina: Komm

Das Buch erschien 2002 auf Russisch, bereits ein Jahr später auf deutsch. Es handelt sich hierbei um den Debutroman der Autorin, die 1981 geboren wurde und Journalistik studierte.
Die Zeit um 2000 war eine höchst interessante Periode der russischen Gegenwartsliteratur. Es gab eine gewisse Aufbruchstimmung, ein Gefühl des Wandels und es wurden viele, insbesondere auch junge SchriftstellerInnen gedruckt und übersetzt, die unter anderen Umständen wohl weniger wahrgenommen worden wären (Jerofejew, Pelewin, Kurkow etc.). Das hat sich seit einigen Jahren wieder gewandelt, aus bekannten Gründen.
In diese Zeit also fällt Frau Denezkinas Erzählungsband, dessen Erzählungen sich durch ein hohes Tempo und eine unmittelbare Darstellung auszeichnen. Sie zeigt recht unverblümt eine großstädtische Jugend, deren Leben aus Erotik, Musik, Alkohol und Gewalt zu bestehen scheint, die auf der Suche ist, ohne genau benennen zu können, wonach, Figuren, die mit ihrer Rolle in der Gesellschaft spielen – insgesamt eine Generation, die eine Freiheit fühlt und lebt, für die der Rahmen fehlt.
Wirklich interessant wird sie für mich jedoch, weil sie zwar authentische Figuren zeichnet und dies wahrscheinlichst aus unmittelbarem Erleben, dabei jedoch die schriftstellerische Distanz behält, was ihre Personen eben nicht zu Fotografien, sondern zu literarischen Figuren macht und weil sie schreiben kann. Es gibt bei aller Direktheit, bei aller Gewalt immer wieder eine Zärtlichkeit in ihren Texten, eine Kraft zur poetischen Gestaltung, ohne je in die Nähe der Kitschgefahr zu geraten und ohne Reportage zu werden.

Russische Literatur hat es hierzulande nicht einfach – ich persönlich kann mir nicht erklären, warum. Ich bin erklärter Anhänger der russischen Prosa. Und Frau Denezkina schreibt ausgesprochen russisch. 😉

lieferbare Ausgaben:

http://www.buchhandel.de/default.aspx?strframe=titelsuche&caller=vlbPublic&nSiteId=11&Func=Search&stichwort=denezkina%20komm

Auch hier ist das Hörbuch zu empfehlen, auch wenn die Lesung von Frau Haberlandt nicht alle Erzählungen enthält.

Die Meute

Wer kennt das nicht?
Egal, ob Rabattaktion, Sonderverkauf oder gar Neueröffnung. Es spielen sich immer wieder dieselben Dramen ab.
Diejenigen Mitglieder des geneigten Lesepublikums, die das Glück haben, im Einzelhandel arbeiten zu dürfen, werden das Szenario kennen:
Die Mitarbeiter mit dem alleinseligmachenden Ladenschlüssel in der Hand werden sehnsüchtig erwartet, als stünde die Ankunft des Heilands oder gar St. Baracks persönlich bevor.
Allerdings mit einer unglaublichen Ungeduld, die sich indirekt proportional zur bis zur offiziellen Ladenöffnung fehlenden Zeit verhält. Die Angst, wieder mal zu kurz zu kommen, wieder mal was zu verpassen, wieder einmal nicht auf der Siegerseite zu stehen – wie ja so oft im Leben, treibt die Menschen zu seltsamen Verhalten.
Da wird an Türen geklopft, da werden die Mitarbeiter angeblafft (“He, was machen Sie denn so lange?”, “Wenn alle so arbeiten würden…”, “Kein Wunder, daß hier nie jemand was kauft.”), es spielen sich Unmutszenen ab, als stünden wir kurz vor der Revolution, weil dem Volke die elementaren Rechte vorenthalten werden.
Wer einmal in einer solchen Meute gestanden hat, weiß, wie man Revolutionen anzettelt: Mit Rabatten und geschlossenen Ladentüren.
Einfach ganz groß “Heute Fernseher nur 10 EUR!” ins Schaufenster hängen und dann nicht öffnen. Da hat´s sich dann aber mit “Friedliche Revolution”.

Es hilft übrigens gar nichts, den Laden wie jeden Tag pünktlich zu öffnen – denn natürlich hat der Einzelhandelsmitarbeiter nur hinten im Lager gestanden und Däumchen gedreht, einzig und allein, um Frau Erna Schmittke und Opa Alfons vom Erwerb des überlebensnotwendigen Toasters für 9.99 € abzuhalten – dafür standen sie ja auch extra schon drei Stunden vorher da. Und überhaupt ist das doch eh alles Betrug, man wird eh immer übervorteilt.
Wenn die Menschen nur genau so viel Ehrgeiz und Energie in Dinge stecken würden, die sie wirklich betreffen, bei denen ihre Existenz wirklich bedroht ist – es ginge diesem Lande besser.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, meint das Grundgesetz. Doch an jeder Wühlkiste des Landes wird sie freiwillig weggeworfen.

Und was meint der Hausheilige dazu? Hat er sowas auch schonmal beobachtet?

“Drängeln Se doch nich so . . . Nein, ich drängle gar nicht! . . . Ochse! . . . Un-
glaublich. Wir kommen ja gleich ran, wir waren zuerst hier. Warten Sie auch nochn bißchen? ne Gold-
grube, diß Geschäft, was meinen Sie! Die verdienen hier, was se wolln.”
[in: Herr Wendriner kauft ein. Werke und Briefe: 1924, S. 294. Digitale Bibliothek Band 15: Tucholsky, S. 3270 (vgl. Tucholsky-GW Bd. 3, S. 486) (c) Rowohlt Verlag]

Das Buch zum Sonntag (2)

Für die morgen beginnende Woche möchte ich eines meiner erklärten Lieblingsbücher empfehlen, eines, das bei der berühmten Was-würden-Sie-auf-eine-einsame-Insel-mitnehmen-Frage ganz weit oben auf der Liste steht.

William Goldman: Die Brautprinzessin.

Goldman ist von Hause aus Drehbuchautor (2 Oscars, einer für “Butch Cassidy and Sundance Kid” und einer für “All the President´s Men”) und hat diesen Roman 1973 veröffentlicht.
Die Geschichte der Brautprinzessin ist eingebettet in eine Rahmengeschichte, in der Goldman von einer offenbarenden Literaturerfahrung aus seiner Kindheit berichtet. Als zehnjähriger Junge liegt er krank im Bett und dort liest ihm sein Vater ein Buch vor. Mit dem Effekt, daß der 10jährige, der sich bisher im wesentlichen für Baseball und vergleichbar populäre Sportarten interessierte, von nun an ein Buch nach dem anderen verschlang.
Inzwischen selbst Vater eines 10jährigen Jungen möchte er diese Erfahrung weitergeben und schenkt seinem Sohn zu dessen 10. Geburtstag “Die Brautprinzessin”. Sein Sohn jedoch legt das Buch im zweiten Kapitel weg. Goldman, der den Text ja nie selbst gelesen hat, ist verständnislos und beschließt, das Buch selbst zu lesen. An dieser Stelle möchte ich mal zitieren:

Ich schlug die Titelseite auf, was komisch war, denn ich hatte es noch nie getan; es war immer mein Vater gewesen, der das Buch in der Hand hatte. Ich mußte lachen, als ich den vollen Titel sah, denn da stand:

DIE BRAUTPRINZESSIN
S. Morgensterns
klassische Erzählung von
wahrer Liebe
und edlen Abenteuern

Einen, der sein eigenes Buch klassisch nannte, noch bevor es erschienen war und irgendwer es hatte lesen können, mußte man schon bewundern.[…] Je mehr ich weiterblätterte, desto mehr wurde mir klar: Morgenstern schrieb gar kein Kinderbuch, er schrieb eine Art satirische Geschichte seines Landes und des Verfalls der Monarchie in der westlichen Zivilisation.
Aber mein Vater hatte mir nur die Kolportage vorgelesen, die spannenden Teile. Um die ernsthaften Teile hatte er sich überhaupt nie gekümmert.

(S. 32f.)

Damit hätten wir also die Ausgangssituation. Goldman beschließt, eine Ausgabe der “spannenden Teile” zu erstellen. Und die liegt dem geneigten Leser nun vor.
Was jetzt folgt, ist eines der köstlichsten Werke, die ich je gelesen habe. Es ist, natürlich, vordergründig eine klassische Liebes- und Abenteuergeschichte, mit allem was dazugehört (“Fechten. Ringkämpfe. Folter. Gift. Wahre Liebe. Haß. Rache. Riesen. Jäger. Böse Menschen. Gute Menschen. Bildschöne Damen. Schlangen. Spinnen. Wilde Tiere jeder Art und in mannigfaltigster Beschreibung. Schmerzen. Tod. Tapfere Männer. Feige Männer. Bärenstarke Männer. Verfolgungsjagden. Entkommen. Lügen. Wahrheiten. Leidenschaften. Wunder.” (S.12)), aber es ist gleichzeitig ein Spiel mit den Erwartungen des Lesepublikums, voller ironischer Brechungen und permanenter Irreführung des Lesers.
Ich kann dies guten Gewissens hier verraten, ohne zu spoilern – denn ich bin sicher, ihr werdet genauso hereinfallen.

Eine letzte Stelle, für mich persönlich eine der wichtigsten, einer der Gründe, warum ich dieses Buch meinen Kindern zu Lesen geben werde, möchte ich noch zitieren. Goldman erzählt in einem seiner Kommentare als Editor von einer Begegnung mit Edith Neisser.

Und ich weiß noch, einmal, wie wir kalten Tee auf ihrer Veranda tranken, und direkt vor der Veranda war ihr Badminton-Platz, und ich sah zu, wie ein paar Jungen spielten, und Ed hatte mich eben eingekoffert, und als ich vom Platz ging, zu der Veranda, da sagte er, “mach dir nichts draus, das gleicht sich schon noch aus, nächstesmal kriegst du mich klein”, und ich nickte, und dann sagte Ed, “und wenn nicht, dann schlägst du mich eben in irgendwas sonst.”
Ich ging auf die Veranda und trank kalten Tee, und Edith las so ein Buch, das sie gar nicht weglegte, als sie sagt, “das stimmt nicht notwendig, weißt du”. Ich sagte, “wie meinen Sie das?”
Und jetzt erst legte sie ihr Buch hin. Und sah mich an. Und sprach es aus: “Das Leben ist nicht gerecht, Bill. Wir erzählen unseren Kindern, daß es gerecht ist, aber das ist eine Gemeinheit. Es ist nicht bloß eine Lüge, es ist eine grausame Lüge. Das Leben ist nicht gerecht, ist es nie gewesen und wird es nie sein.”

(S. 213f.)

lieferbare Ausgaben:

http://bit.ly/1wPZjdz

P.S.: Das Hörbuch mit Bela B. ist ebenfalls zu empfehlen. 😉