Das Buch zum Sonntag (5)

Für die morgen beginnende Woche empfehle ich der geneigten Leserschaft:

Gregor Hens: Matta verläßt seine Kinder

Hens, geboren 1965, ist studierter Germanist und Anglist, seit 2001 ordentlicher Professor an der Ohio State University, legte vor diesem Roman bereits zwei andere vor, die mich aber nicht überzeugten (ich las sie auch erst nach “Matta”, durch den ich auf ihn aufmerksam wurde).

Karsten Matta, 40, verheiratet, zwei Kinder, ist Gutachter für einen exlusiven Londoner ThinkTank, der für Regierungen und, vor allem, Wirtschaftsunternehmen, Krisenregionen bewertet. Er bereist also Orte wie Serbien, Ruanda, Pakistan etc, um herauszufinden, ob und wenn ja mit welchen Bedingungen sich Investitionen dort lohnen.
Eines Tages, während einer sinn- und schier endlosen Warterei in einem Konsulat (er ist einziger Besucher und benötigt schlicht ein Visum – sowas kann ja schon mal einen halben Tag dauern…), platzt ein Äderchen in seinem Auge und er beschließt in diesem Moment, dies alles nicht mehr mitzumachen.
Und “alles” meint in diesem Falle “alles”.

Hens verzichtet vollkommen auf die Trennung zwischen Erzählung, mündlicher Rede, innerem Dialog, alternativen Handlungssträngen oder Rückblenden. Das gibt dem Buch eine Atemlosigkeit, die ich bis dahin nicht kannte und schafft eine verwirrend-beklemmende Athmosphäre. Eben diese scheint mir allerdings auch vollkommen angemessen zu sein, geradezu perfekt zum Ausbruch und dem folgenden Handlungsverlauf zu passen.

Zum Schluß sei noch eine Stelle zitiert, die mich dazu bewogen hat, seit dem jedes Mal, wenn ich in einem Hotel o.ä. übernachte, ein Buch zurückzulassen:

Und jedes Mal nahm er ein Einziges mit, las dreißig oder fünfzig Seiten im Flugzeug und ließ das Buch im ersten Hotel liegen. Zu schwer. Er reiste mit einer einzigen Tasche aus Segeltuch. In Bamako im stolzen, immer frisch geweißten Royal Mama Pleasant Suites standen mehrere dieser Hinterlassenschaften in einem Regal in der Lobby. Rebeccas Leihbibliothek im Herzen von Mali, das hatte ihn immer gefreut, wenn er dort ankam und wenn er die Bücher sah, fein säuberlich aufgereiht, richtiggehend präsentiert, während er in bar im Voraus bezahlte, dollars mon ami, dollars, und seinen Schlüssel in Empfang nahm. Manchmal traf er einen Kollegen, der erzählte, ich war im Royal Mama oder im Aurora Inn oder im Millenio II in Bahia und hing da fest, wochenlang, und konnte nichts machen, musste mir die Zeit totschlagen, und da lagen zum Glück auf meinem Nachttisch ein paar deutsche Bücher, eine dicke Magellan-Biografie mit dem Titel Die Toten behalten Unrecht, etwas von Richard Kaschinski und die Goa-Skizzen von C.Kraft. Die haben mir das Leben gerettet.

(S. 29-30 der Taschenbuchausgabe)

lieferbare Ausgaben

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.